Der himmelblaue Schmengeling
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Freude | Dezember 2010
Warum nicht aus der Tube?
von Robert Pfeffer

Das Leben wäre ein ganzes Stück ärmer ohne meinen Freund Valentin Kornbrenner. Wer bei ihm auf eine halbwegs ausgependelte Waage zwischen Gefühl und Ratio hofft, erleidet mit dem Messgerät gemeinsam einen schweren Schlag, wenn die Seite des Verstandes mit heftigem Rumms auf den Boden donnert. Legionen von Erzieherinnen mit klangvollen Doppelnamen bissen sich an ihm die sozialpädagogischen Zähne aus, Lehrer in rauen Mengen verzweifelten an der Kombination einer Hochbegabung ihres Schülers mit emotionaler Inkompetenz.

Sich in eine Gruppe zu integrieren gelang ihm nie. Stets war er der Junge am Rand, der still und leise in Rekordtempo seine Arbeiten schrieb, kaum mit anderen sprach. Bei Interpretationen von Büchern im Fach Deutsch beleuchtete er das Handeln eines Protagonisten von der Gefühlsseite mithilfe auswendig gelernter Deutungen aus dem Internet. Im Sportunterricht war er beim Sprinten zwar meist vorn dabei, in Team-Sportarten hingegen stellte sich ihm das übliche Problem. Ein weltwunderartiges Kopfballtor, erzielt, weil er sich im aus seiner Sicht falschen Moment nach jemandem umdrehte, brachte ihm im Abschlusszeugnis ein gnädiges Ausreichend. Die Drei in Kunst gründete sich aus seiner erstaunlichen Strategie, dem Lehrkörper blank geputzte Ofenrohre als „Schrei aus Stahl“ zu verkaufen.

Doch was nützten ihm solche Kniffe und Tricks in diesem Moment? Nicht viel, wagte ich zu vermuten. Jetzt musste er beweisen, ob er was drauf hat. Als wir auf den Verkaufstresen zugingen, zupfte er mich plötzlich am Ärmel.
„Warte Harald.“
„Was ist los? Feigheit vor dem Feind?“
„Nein. Ich gehe da schon hin. Aber allein. Du bleibst im Hintergrund. Wenn ich Hilfe brauche, kommst du, ja?“
Ich nickte, ließ ihn ziehen. Und war gespannt, was er tun würde.

Mit wiegendem Schritt ging er auf die Verkäuferin zu, die noch keine Ahnung hatte, was sie erwartete. Vor einem halben Jahr war er genau in dieser Art auf die Frau seines Lebens zugelaufen. Sie übersah mit unendlicher Toleranz seine Defizite als Charmeur und meinte es gut mit ihm, förderte ihn, wo sie konnte. Er blühte auf. Stellte sich plötzlich Problemen, denen er zuvor mit seine Umwelt zermürbender Missachtung aus dem Weg gegangen war. Sie brachte ihn dazu, über Hindernisse zu springen, weil sich hinter dem Oxer eine Belohnung finden würde. Er wusste nicht, welche, aber er glaubte ihr ... und sprang.

So wie in diesem Augenblick, als er mit einem kleinen Hüpfer den letzten halben Meter an den Tresen zurücklegte.
„Guten Tag, ich hätte gerne ein bisschen Freude.“
Die flotte Brünette breitete die Arme aus. „Hier sind doch so viele Dinge, die Freude machen. An was dachten Sie genau?“, wollte sie wissen.
„Ich meine einfach Freude. Würde sie auch gleich mitnehmen. Bin mit jemand da, wir können vier Tüten schleppen, wenn es sein muss. Und nicht mehr als fünfzehn Euro darf sie kosten.“
Er legte das Geld auf den Tisch. Einen Fünfer und den Rest in Münzen, aus denen er umständlich kleine Stapel bildete.
„Aber noch nicht anfassen“, sagte er und schaute mit der Unterstützung seines sanft erhobenen Zeigefingers in die Augen seines Gegenüber. Es fiel mir schwer, in sechs Metern Entfernung nicht in Gelächter auszubrechen. Die alte Dame, die hinter ihm als Nächste auf Bedienung hoffte, verzog das Gesicht.
„Was meinen Sie damit, dass Sie die Freude gleich mitnehmen wollen? Womit möchten Sie jemandem eine Freude machen?“, fragte die Verkäuferin.
„Julia hat gesagt, ich soll meinen Eltern diesmal etwas zu Weihnachten schenken, was sie wirklich freut. Und in Ihrem Schaufenster steht doch groß und breit ‚Einfach Freude schenken‘.“
„Junger Mann“, stieß die Seniorin mit dem Knauf ihrer Gehhilfe in Valentins Rücken und drängte sich ins Gespräch. „Ich will Heiligabend daheim verbringen.“
Er ging über diese Bemerkung hinweg, drehte sich zum ersten Mal zu mir um und sofort wieder zur Verkäuferin zurück.
„Tut mir leid, ich verstehe Sie nicht. Sie wollen Freude schenken. Aber Sie wissen nicht genau, wie. Richtig?“
„Ich nehme zwei Kilo. Und teilen Sie es auf mehrere Tüten auf.“
„Freude in Tüten?“
„Achten Sie unbedingt darauf, dass sie dicht sind. Es ist matschig draußen. Nicht, dass ich die Hälfte auf dem Heimweg verliere.“
„Wissen Sie eigentlich, was Sie da sagen?“
„Was meinen Sie?“
„Wir führen leider keine Freude in Tüten“, flötete sie.
Schon kam der nächste Stockstich von rechts.
„Da sehen Sie‘s! Machen Sie den Platz frei, andere wollen auch noch geholfen werden“, nörgelte die Rentnerin.
„Geholfen bekommen“, berichtigte Valentin, „Sie gucken zu viel Werbung!“
„Wenn es sie nicht in Tüten gibt“, wandte er sich wieder an die Verkäuferin, „nehme ich die Freude eben in Kartons. In Flaschen meinetwegen, sofern es welche mit Pfand sind. Sogar aus der Tube wäre in Ordnung, allerdings nicht mehr als zweihundert Gramm pro Stück, damit man sie schön portionieren kann. Das ist eigentlich ganz praktisch, überlege ich gerade, meine Eltern könnten sie sich das Jahr über bis zum nächsten Weihnachtsfest viel besser einteilen. Ja, ich nehm‘ sie in der Tube!“
„Wissen Sie überhaupt, was Freude ist?“
Den fragenden Blick der Einzelhändlerin gab Valentin an mich weiter, als er sich zum zweiten Mal umdrehte. Ich reagierte noch nicht.
„Eine Freude wäre, wenn der jetzt hier verschwindet“, keifte die Seniorin.
„Meine Dame, schauen Sie, der Kollege nebenan ist frei.“
Während die Stockwaffenbesitzerin fluchend abzog, drehte sich die junge Frau zu Valentin und stützte sich mit dem Ellbogen auf den Tisch, legte ihr Kinn in die Hand. „Ich glaube, Sie wissen es nicht, oder?“
Mein Freund lächelte verlegen, schüttelte dezent den Kopf.
Sie richtete sich auf, bat einen Augenblick um Geduld. Nach kurzer Zeit kam sie mit einer kleinen Pyramide von Gegenständen zurück.
„Also, schauen Sie. Das hier ist für Ihre Eltern. Es ist ein Spiel, bei dem Sie einen Turm aus Holzklötzchen bauen und dann langsam einen nach dem anderen herausziehen, ohne dass der Turm einstürzt. Wie finden Sie die Idee?“
„Toll“, sagte Valentin und lächelte.
„Spielen Sie es mit Ihren Eltern und Sie werden der Freude auf die Spur kommen. Obwohl ... ich glaube, Sie werden sie bereits vorher entdecken. Das hier hab ich Ihnen einfach mal mitgebracht. Kennen Sie den Zauberwürfel?“
Er griff danach, sie gab ihn jedoch noch nicht heraus.
„Sehen Sie sich den Würfel an. Jede der Seiten hat eine Farbe. Jetzt mischen wir das ein bisschen durch.“
Die Verkäuferin hielt den Kubus unter dem Tisch verdeckt und drehte kräftig.
„Das bringen Sie bestimmt in Ordnung, oder?“

Es war an der Zeit für meinen Einsatz. Valentin war mit dem Rücken am Tresen entlang zu Boden gerutscht und saß, auf den Würfel starrend, auf der Erde. Die Brünette sprach von oben zwar den Preis in seine Richtung, aber das hörte er schon nicht mehr. Abgetaucht in eine Welt der Freude, die er nicht unter diesem Begriff kannte. Ich legte das fehlende Kleingeld zu seinen fünfzehn Euro und zog ihn anschließend hoch. Auf der Straße drehte mein Freund unverändert am neuen Spielgerät. Plötzlich blieb er stehen und sah mich an.
„Warum kriegt man Freude nicht in Tuben?“
Ich überlegte einen Moment, ob es überhaupt eine Antwort für diese Frage gab. Da fiel mein Blick auf einen vermutlich studentischen Weihnachtsmann, der in vollem Ornat im Schaufenster eines Sportgeschäftes auf dem Laufband so tat, als würde er seinen Schlitten verfolgen.
„Komm, wir gehen heim. Vielleicht war es bloß der falsche Laden.“

Letzte Aktualisierung: 26.12.2010 - 14.57 Uhr
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