Futter für die Bestie
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Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten-
Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
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Freude | Dezember 2010
Sweetys Irrtum
von Hajo Nitschke

An das Göttliche glauben nur, die es selber sind.
(Hölderlin)

*

„Wir, Gottvater von eigenen Gnaden, im 2010. Jahr unserer allgütigen Herrschaft (gerechnet ab Inkarnation unseres lieben Sohnes), ordnen hiermit die Erfassung hundert ausgewählter Sünder vom Typ ‚Pharisäer’ auf Goodly Earth an, die ein Bereuen ihrer Taten in Erwägung ziehen. Positive Entschlüsse sind mir unverzüglich zur Kenntnis zu geben.“

Mit diesem Erlass hatte der Seniorchef uns kürzlich wieder mal eine Beschäftigung verordnet. Wir sollten dazu den himmlischen Großrechner Sokrates benutzen und ich hatte in Abständen dem Senior zu berichten. Die ersten 96 Sünder entschieden sich leider gegen eine Buße. Wir waren bedrückt, nur M gab die Hoffnung nicht auf. Hier mein …


Schlussbericht über das Projekt 100:


Aufregung in der Community! Wie Raffi mitteilt, erwägt der 97. Sünder eine Therapie. Das Team drängt sich um den Hauptmonitor, allen voran M und, mit rasselndem Schlüsselbund, Verwalter Pidder. Dazu Informatiker Raffi, Webmaster Uri und unsere Au-pair-Amorette Sweety Sweetheart (bisher scheiterten alle Versuche, ihren vulgären Jargon elysisch anzupassen. Mit M hat sie ein autoritäres Problem).

Das Cherobimorchester unter Leitung von Hofkapellmeister Waldemar Sperling spielt Mozarts Gloria aus der Spatzenmesse.

“In nomini Patri …”
Junior ist eingetreten, gefolgt von Q.
Queen Mary lächelt fein, hält sich jedoch verbal zurück. Alle außer Sweety nehmen Haltung an und ergänzen unisono:
„… et Fili Spiritus sancti.“
Raffi: „Melde, Nummer 97 auf dem Weg zum Psychotherapeuten!“
Junior, den Monitor fokussierend: „Danke, rühren!“

Wir beobachten gespannt. Sollte endlich …? Der Geschäftsmann steht vor der Praxis, schickt sich an zu klingeln. – Warum zögert er? Der wird doch nicht …? Wir halten den Atem an, und da … dreht sich die Testperson um und geht. Enttäuschtes Aufstöhnen in der Zentrale.
Junior: „Bitte Zoom!“
Uri vergrößert die derzeit aktiven Hirnareale der Person. Wir erkennen Gedankenfetzen wie ‚Unsinn – nicht blöd – Fuck – hab ich nicht nötig – Kann nichts dafür, dass ich besser als dieser Gates bin …’
„Und nu, Champ?“, fragt die Amorette.
Junior: „Dran bleiben, Leute! Wir haben noch drei Versuche. Steve Jobs habe ich sowieso keine bessere Einsicht zugetraut.“
Der Apfelmann war es also! Die Enttäuschung weicht einer gewissen Genugtuung, denn unser Betriebssystem Microsoft Windows XP² hat sich bewährt. Service Pack 7 genügt allen Anforderungen.

„Mir hocke uns de Hinnere platt, Kinner, un nix helft! S’isch fascht, wie wenn ma nur noch
Niete ziehe tät, hörsch, M?“ Pidder wirkt bedrückt, aber M ermahnt:
„Brüder …“
– „und Schwestern, Alter!“ (Sweety) –
„… möge uns nicht der Glaube verlassen. Oh hoffet mit mir auf ein Wunder!“
„Amen!“ (Sweety).
M runzelt die Stirn, doch die Amorette legt los:
„Klemm dich weg! Du hast doch’n Webfehler, Mann! Die restlichen Freaks da unten kannste vergessen, also sülz nich so rum, kapito?“
„Oh, nimmt der Leidenskelch kein Ende? Wie kannst du es wagen, so …“
„Low gas, Alter! Ich sag dir, du hast null Peilung!“
M schlägt ein Kreuz. In diesem Moment ruft Raffi dazwischen:
„Achtung, die 98!“

Das Orchester ist beim Credo angelangt.

Das Interesse wendet sich erneut dem Bildschirm zu, der einen Mann mittleren Alters zeigt.
Er sitzt vor einem leeren Blatt Papier.
Junior: „Credo in Deum Patrem! Daten, Raffi!“
„Ein Lyriker. Gedichte, moderner Stil. Bisher nur blasphemischer Schund. Will ein neues Pamphlet zu Papier bringen, schwankt aber, ob er so weitermachen soll.“
„Danke. Schaun mer mal.“
Q lächelt ihrem Einzigen zu: Er ist ausgerechnet Mitglied eines mittelmäßigen ‚Fußball’-Clubs in München und Fan eines gewissen Kaisers Franz B. Jener ist bereits als Unterhändler Juniors vorgesehen, um die Vergabe des Jüngsten Gerichts nach Wien einzupreisen.
Während wir noch Juniors Gelassenheit bewundern, verharrt die Hand des Dichters, der soeben zum Schreiben ansetzte. Unruhe erfasst uns. Wird endlich jemand …?
Doch in diesem Moment schüttelt Nr. 98 den Kopf und beginnt mit Versen, denen jegliches Anstandsgefühl gegenüber Himmel und Hölle fehlt.

Junior hält den Webmaster an, vorsorglich die Datenträger zu bereinigen und eine Defragmentierung vorzunehmen. Danach solle er updaten und neu booten. Die ganze Anlage sei zwar im Untergeschoss zur Wartung durch Computerflüsterer Luzi gewesen, aber manchmal stecke der Teufel im Detail: Wir dürften uns jetzt keinen Aussetzer erlauben.
Nur noch zwei Chancen!

Uris Vollzugmeldung quittiert M mit notorischer Euphorie:
„Halleluja, Brüder … ähm – und Schwestern. Lasst uns festen Glaubens an das Gute ausharren …“
Prompt beschwert sich Sweety bein Junior:

„Champ, ich halt das nicht mehr aus. Hat man hier keinen Anspruch auf einen realitätsnahen Vorgesetzten? Dieser Schlaffi hat keine Eier, verstehst du? Koteletts quasselt er uns an die Ohren, von wegen das Gute im Menschen. Das ist ja wohl mega-out. Du siehst doch, was da abgeht, Champ! Wir sollten den Bettel hinschmeißen.“
Junior schweigt und M setzt zu einer Entgegnung an. Pidder geht dazwischen:
„Lamentiert mir net d’Ohre voll, gell? Des isch mir zuwider, Leut’! Ihr verschwend’ Energie. Bitte, bleiben wir alle … ähm …hm …“
– „cool?“ (Sweety) –
„… cool. Bin übrigens immer gut für e kleins Späßle, aber mit dir hab ich noch e Wörtle zu rede, Sweety. Do glotsch, gell?“

Jetzt das Sanctus – immer noch Mozart.

„Nummer 99, Herrschaften!“ (Raffi).
Junior übergibt an Pidder.
„Uff Zielkoordinate hi observiere!“ (Pidder). „Un bitte vollschtändsche Bericht!“
„Melde entlassenen Bankmanager. Fürchtet, Unrecht getan zu haben. Unterwegs zur Beichte.“
Man sieht einen graumelierten Herrn den Beichtstuhl betreten.
„Vater, vergib mir, ich habe gesündigt.“
„Dominum nostrum et vitam aeternam. Nun, mein Sohn?“ (Pause)

„Halleluja, ein reuiger Sünder! Uns wird Lohn zuteil!“ (M).
Jedoch: „Siehst du nicht den getunten Typ im Talar, M?“ (Sweety).
Wir erkennen Kardinal Meichsner. Still wird es in der Zentrale, die Luft scheint zu knistern. Q ist das Lächeln vergangen.
Dem Banker kommt die Stimme hinter der samtenen Trennwand bekannt vor:
„Ist da nicht Kardinal Meichsner?“
„Der bin ich, mein Sohn.“
Hastig verlässt Nr. 99 den Beichtstuhl und hetzt aus dem Dom, dass die Tauben und eine Ente auf der Domplatte auseinanderstieben – im Heavenly Street View gut zu beobachten. Der Reibach-Apologet hat alle guten Absichten vergessen und wird wohl als nächstes seine Abfindung einklagen, einen zweistelligen Millionenbetrag. Nur noch EIN Versuch. Grundgütiger!
Wie gerufen erscheint der Senior. Wir werfen uns zu Boden, selbst Sweety deutet eine Verbeugung an.

Das Orchester wechselt geistesgegenwärtig zur Kunst der Fuge, denn Senior bevorzugt Bach.

„Credo in Spiritum sanctum. Wie lautet die Erfolgsquote?“
Wie Donner rollen die Worte über unsere Köpfe. Wir erstarren. Pidder kaut nervös auf seinen Schlüsseln. Uri fingert hektisch im Excelprogramm, aber die Tabellenkalkulation bleibt bei null Prozent.
„Hal – Hal – Halle …“
„Chef!“, schneidet Sweety dem hilflos stotternden M das Wort ab, „Au-pair-Amorette Sweetheart meldet: Aussichtslose Sache. Niemand auf Goodly Earth hat Bock darauf, oky doky? Nur will die Crew es nicht glauben. Und dieser arschlose Softie hier …“
Jetzt geht sie zu weit. Das wird der Senior nicht dulden. Wir warten auf einen Blitz, einen Flammenstrahl, aber da …

„Kontakt!!“
Raffi deutet aufgeregt auf Nr. 100. Im Monitor wird eine Dame sichtbar, Anfang vierzig, vor einem großen Vogelkäfig stehend. Es ist spät am Abend, die letzte Zielperson ist im Begriff, einen auf seiner Stange hockenden Graupapagei zuzudecken.
„Zoom, Uri!“
„Selbstverständlich, Hochheiligster!“
Schon können wir die menschlichen Gedankenstrukturen erfassen. Uri hat es uns so erklärt, dass der Hauptprozessor mit seinen 250 Gigaherz Grundlage für ein spezielles Mentalerfassungsprogramm darstellt, das über den RAM-Arbeitsspeicher eine analoge Datenerfassung übertragener word-Dateien des menschlichen Gehirns mit Hilfe eines Bit-Musters endloser binärer Systeme ermöglicht.
Verstanden hat es niemand, aber es funktioniert.

Die LEDs blinken. Plötzlich ein Geräusch des Exoten. Es klingt wie „Rrrre – dant“ (das Übersetzungsprogramm schlägt „redundant“ vor). Der große Vogel äugt mit schiefem Kopf auf die späte Besucherin, sie schaut zurück, widersprüchliche Gedankenschwingungen verströmend. Dem Vogelgehirn entnehmen wir dagegen ein klares „Warum-tu-ich-mir-das an?“. Die Zeit verrinnt, Resignation macht sich breit. Doch da springt das System an: Unendliche Traurigkeit. Erinnerungsfetzen (ein toter Ehemann, ein betrübter Lebensgefährte, ein im Mutterleib umgebrachtes Kind). Die Erkenntnis, grenzenlosen Egoismus mit Stärke verwechselt zu haben. – Alle Grundsätze der Nr. 100 sind ins Wanken geraten und sie bricht weinend zusammen. Fragt sich, ob ihr jemals verziehen werden könne.

Standing ovations in der Zentrale. Auch das Orchester bricht in Jubel aus, nachdem es a priori die richtigen Schlüsse zog. Uri fährt den Rechner herunter.
„Überstanne!“, seufzt Pidder. Und zu M: „Warsch arg verkrampft, M, aber Recht hascht g’habt!“
M, aus kurzfristiger Kontemplation erwachend, wehrt bescheiden ab und imitiert vor Glück die eigenartige Sprache:„Isch doch en Klax, Pidder. Wenn nur de Amorett net so g’schwätzt hätt.“
Jene ist sehr kleinlaut geworden. Aber es ehrt Sweety, dass sie sich bei M entschuldigt: „Hosianna. tut mir leid, lieber Meister Michael. Wahrlich, ich habe mich geirrt. Mögest du mir vergeben. Ich gelobe, mich hinfort uneingeschränkt deiner Autorität zu unterwerfen, Halleluja!“

Ein Wunder! Gleich zwei reuige Sünder!
Aber eine Amorette zählt bei dem Test nicht, sondern nur dieser eine Mensch dort unten.
Jetzt aber:
Wir werden eine Riesenfete haben, meine Kumpels und ich. Einfach nur geil! Eine galaktische Sause, ultrakrass, was, Sweety?! Komm in meine Arme, Honie! Himmel, Arsch und Zwirn!

gezeichnet G. A. Briel

*

Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über EINEN Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.
(Lukas 15, Vers 7)

Letzte Aktualisierung: 09.12.2010 - 15.39 Uhr
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