Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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Freude | Dezember 2010
Oh, du fröhliche!
von Ingo Pietsch

Ich stapfte mit meinem Sohn durch den frisch gefallenen Schnee bis zur Lichtung, auf der die Tannenbäume wuchsen, die perfekt in unser Wohnzimmer passten.
Nur durch Zufall hatten wir diesen Aufforstungsort entdeckt, als wir beim Spazierengehen durch meinen grandiosen Orientierungssinn ein bisschen vom Weg abgekommen waren und nun jedes Weihnachten ein paar Euro sparen konnten.
Ich spähte schon mit der Säge in der Hand nach dem nächsten Opfer und stieg über die Baumstümpfe der vergangenen Jahre, während mein Kleiner mit seinem Teddy hinter mir hertrottete.
Gerade als ich anfing, die Tanne zu kürzen, hörte ich leises Quieken. Ein Blick über die Schulter verriet mir, dass mein Sohn ein kleines Wildschwein streichelte.
Und wo ein Frischling war, konnte die Wildsau nicht weit sein.
Weniger die Größe, als vielmehr der böse Blick der Sau jagten mir einen gewaltigen Schrecken ein. Er erinnerte mich an meine Frau, wenn ich nach durchzechter Nacht nach Hause kam.
Ich griff meinen Sohn bei der Hand und zog den Jungen fast fliegend hinter mir her.
Ein Baum rettete unsere Leben. Allerdings mussten wir bis zum Anbruch der Dunkelheit auf den knackenden Ästen ausharren, bis das Wildschwein endlich aufgab, uns zu belagern.
Daheim durfte ich mir eine Standpauke anhören, die mir noch lange in den Ohren klingelte. Meine Frau meinte nur, dass „so etwas schon lange fällig gewesen war“ und ich unseren Sohn in Gefahr gebracht hätte.
Ich hatte als Familienoberhaupt nicht nur meinen Stolz, sondern auch meine Säge verloren.

Gezwungenermaßen kämpfte ich mich durch das dichte Getümmel unseres Weihnachtsmarktes. Es roch nach Glühwein und Zimt und an jeder Ecke wurden Weihnachtslieder gespielt und gesungen und sogar der hiesige Posaunenverein kam nicht aus der Puste. An einer der Buden grüßte mich ein flüchtiger Bekannter aus dem Supermarkt, der seine Bierdose gegen eine Glühweintasse getauscht, aber seine rote Nase behalten hatte. Ich winkte zurück und ließ mich nicht aus meinem Konzept bringen: die richtige Tanne zu finden.
So kurz vor Weihnachten war das gar nicht so einfach. Die meisten Bäume, die noch übrig waren, entsprachen nicht unbedingt meinen Idealbild: Unten mehr Äste als oben; viel zu kurze Äste; fast gar keinen Äste; tonnenförmig und die Zwei- bis Fünfender. Es gab sogar eine Restpostenecke mit Tannen fast ohne Nadeln – die waren reduziert, aber leider keine Option.
Natürlich war der erstandene Weihnachtsbaum zu groß für den Kombi – und auch für das Wohnzimmer. Aber kürzen ging ja immer.
Ich quetschte die eingenetzte Tanne über die zurückgeklappten Sitze und bog die Spitze in den Beifahrerbodenraum. Mehrmals versuchte ich die Hecktür über dem viel zu weit herausstehenden Baumstamm zuzuschlagen. Frustriert band ich die Tür schließlich am Stoßfänger fest und machte mich auf den Heimweg.
Im Radio lief gerade Last Christmas, als ein Reißen vom Kofferraum zu mir nach vorne drang. Ich konnte gerade noch an den Straßenrand fahren, ehe sich der ganze Baum im Innenraum meines Autos entfaltete. Ich musste das Netz beim Einladen beschädigt haben. Als Krönung schnellte auch noch die Tannenspitze in meine Richtung und hinterließ einen dicken roten Striemen an meiner Schläfe.
Den Baum auszuladen und über die Terrassentür ins Wohnzimmer zu bringen, war dagegen kein Problem.
Früher hatten wir einmal eine Kunsttanne besessen. Ein einmaliger Anschaffungspreis, keine Tannennadeln und keine Probleme mit der Entsorgung waren ausschlaggebend gewesen.
Eines Feiertages kam uns Opa Jürgen besuchen. Er sah nicht mehr so gut und versuchte mit einem Streichholz eine defekte Glühbirne der Weihnachtsbaumkette anzuzünden, die er für eine echte Kerze gehalten hatte. Die hochexplosive Mischung aus Sprühschnee aus der Dose und imprägnierten Kunststofftannennadeln hatte dem Baum ein jähes Ende bereitet. Er verging in einer Rauchwolke, die ihre Spuren bis heute an der Zimmerdecke hinterließ und auch nach mehrmaligem Überstreichen nicht verschwunden ist.

Während meine Frau und die Kinder den Weihnachtsbaum schmückten, wurde ich zum Einkaufen geschickt.
Selbstverständlich musste ich in der hintersten Ecke des Parkplatzes parken. Und die hatte ich auch nur bekommen, weil ich einer älteren Dame die Vorfahrt genommen hatte. Pech gehabt.
Dann kein Einkaufswagen, ein Großteil auf dem Einkaufszettel war ausverkauft und die Verkäufer redeten auch noch kopfschüttelnd über die dummen Kunden, wie mich, und wie man noch kurz vor Weihnachten alles verfügbar haben wollte.
Fünf Kassenplätze, davon nur zwei besetzt und irre lange Warteschlangen.
Ich rief zu einer der Kassiererinnen nach vorne: „Falls Sie mich hier hinten noch sehen können: machen Sie noch eine Kasse auf?“
Die alte Dame, der ich den Parkplatz gestohlen hatte, stand neben mir: „Immer mit der Ruhe junger Mann!“
Für mich war es zum Wettkampf geworden, vor der Frau den Laden zu verlassen. Und ich hätte gewonnen, wenn das EC-Karten-System nicht zusammengebrochen wäre. Aber schließlich hatte ich ja nicht wie die alte Dame mein ganzes Erspartes dabei.
Nach gefühlten zehn Jahren war ich wieder auf dem Weg nach Hause.
Ein flüchtiger Blick zu meinen direkten Nachbarn ließ mich erschaudern:
Die Griswalds hatten ihr gesamtes Haus und den Vorgarten mit Figuren und Lichterketten zugepflastert. Zum Glück war niemand daheim und alles noch ausgeschaltet.

Der Baum war derart mit Schmuck behangen, dass sich die Äste bogen. Selbst nach dem Unfall im vergangen Jahr hatten wir immer noch genügend Deko für drei weitere Bäume.
Onkel Harald hatte uns mit seiner Frau und einem Boxer-Verschnitt besucht. Hund und Tanne mussten draußen auf der Terrasse warten, weil meine Tante allergisch gegen jegliches Tannengrün war und ich das sabbernde Vieh nicht auf meinem Teppich haben wollte.
Harald hätte den Hund besser am Geländer festgebunden, statt am Baum und so konnten wir nach einem lauten Fauchen und einem noch lauteren Knurren den beleuchteten Baum am Fenster vorbei und die Straße entlang verschwinden sehen, bis die Kabeltrommel erschöpft war.
Dieses Jahr würden wir Weihnachten im engsten Kreis der Familie und völlig entspannt genießen.
Ich setzte mich in meinen Sessel und begutachtete das Kunstwerk.
Meine Frau drehte sich zu mir um und sagte: „Schatz, meine Eltern kommen am zweiten Weihnachtstag.“
,Juhu` , dachte ich, schlimmer konnte es nicht mehr werden.
„Und bleiben bis Mitte Januar!“

Mittags an Heiligabend, fiel meiner Frau ein, dass wir keine Sahne für die Bratensoße hatten.
Ich stiefelte in den Keller und durchwühlte unseren Vorrat. Tatsächlich fand sich dort noch ein Päckchen mit H-Sahne. Ein bisschen verstaubt und abgelaufen, aber optisch einwandfrei. Allerdings war nach mehrmaligem Schütteln klar, dass der Inhalt nicht mehr brauchbar war. Denn von flüssiger Konsistenz keine Spur.
Also fuhr ich schnell zur Tankstelle und traf mich dort mit Leidensgenossen, die last-minute Besorgungen machten.
Bei den Preisen kam mir der Gedanke, dass ich anderswo für die Sahne eine ganze Kuh bekommen hätte.

Danach hatte ich absolut keine Lust mehr, das Haus zu verlassen.
Meine Frau und die Kinder gingen alleine in die Kirche und ich hatte sturmfreie Bude. Ich musste lediglich darauf achten, wann der Herd klingelte und der Braten fertig war.
Ganz entspannt ließ ich mich wieder in meinen Sessel fallen und knipste den Fernseher an.
Charlton Heston wanderte gerade mit den zehn Geboten über die Mattscheibe.
Plötzlich fielen mir die Augen zu.
Als ich nach kurzem Dösen wieder wach wurde, fuhr Heston gerade als Ben Hur ein Wagenrennen und es roch nach Verbranntem.
Ich stürmte in die Küche, kam aber zu spät. Das Klingeln vom Herd hatte sich schon von alleine abgeschaltet und der Braten war nur noch ein Schatten seiner selbst.
Also gab es am Heiligen Abend Dosenravioli.

Am Abend folgte die Bescherung. Die Kinder hatten uns Selbstgebasteltes geschenkt. Ich hatte ihre Geschenke im Kaufhaus erworben und dort gleich einpacken lassen.
Während alle mit Auspacken beschäftigt waren, holte ich den Fotoapparat.
Plötzlich hörte ich die Kinder weinen: „Und wo sind unsere richtigen Geschenke?“
Meine Frau hielt rosafarbene Spitzen-Dessous in den Händen. Mein Sohn einen Pfeifenreiniger und meine Tochter ein Buch über Goldfischzucht.
Mir schwante, dass das Geschäft die Geschenke wohl vertauscht haben musste.
Ich ging auf meine Familie zu und umarmte alle.
„Sorry, dass ich…“. Mein Satz blieb unvollendet, da ein Flutlichtgewitter von den Griswalds durch unsere Wohnzimmerfenster blendete, ehe der Strom ausfiel.
Blind hielten wir uns im Dunkeln gegenseitig fest. Ich hoffte, dass ich noch irgendwo eine funktionstüchtige Taschenlampe finden würde und auch die Heizung wieder ansprang, denn jegliches Geräusch von ihr war erstorben.
Und dann sagten meine Kinder und meine Frau, während wir so dicht beieinander standen, zu mir, was mir Weihnachteten rettete: „Papa, wir haben dich trotzdem lieb!“

Letzte Aktualisierung: 19.12.2010 - 22.43 Uhr
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