Das Läuten einer goldenen Schelle am Zipfel meiner Nikolausmütze. Ein kratzender Kunstfellbesatz am Ausschnitt. Der Frost will sich am Saum meines knallroten Nikolauskleidchens festbeißen. Ich stehe auf der Hintertreppe des ALBERS – dem Szenelokal am Hamburger Hafen und ringe mit leeren Kartons. Die Papierpresse macht ein fiependes Quetschgeräusch. Wütend zerreiße ich die Wellpappe. Nichts ist mehr, wie es war, seit der alte Albers seinem Neffen aus Berlin die einst gemütliche Spelunke übertrug. Zeitgemäße Arbeitskleidung nennt der Showman dieses lächerliche Outfit. Heute Mittag bei Schichtwechsel kam er damit um die Ecke, drückte mir diese Kleidertüte in die Hand und zog am Tresen einen Schuhkarton aus dem Stapel.
„Probier sie mal, die könnten passen.“
Zögernd wickelte ich die roten Schuhe aus dem Papier.
„Siebenunddreißig. Du bist doch die mit den kleinen Füßen. Das war die kleinste Größe auf der Liste.“
Mir wurde ganz anders.
„Mach schon, Klene. Wat kiekste denn so? Deine Schicht fängt gleich an. Wollen mal sehen, ob das ‘ne frische Brise ins ALBERS bringt.“
Ich starrte auf die High-Heels mit dicker Plateausohle.
„Damit biste gleich ’n Stück jrößer. So sehen dich die Gäste wenigstens.“
Was für ein borniertes Arschloch, der Herr Nachfolger. Ich zog einen winzigen Fetzen aus dem Beutel.
„Det is’ Stretch. Det dehnt sich noch.“
Jaaaaaaa, dann zieh du den Fummel doch selber an und mach deine Gäste scharf. Was hatte dieser Spinner nur vor? Der alte Albers war anders. Der hatte zwar darauf geachtet, dass jeder das Poloshirt mit dem aufgestickten Schriftzug trug, dazu hatte er Birkenstocks für jeden Mitarbeiter spendiert und lange grüne Schürzen passend zum dunkelgrünen Poloshirt. Aber die Sachen waren wenigstens bequem. Natürlich durften wir unsere eigenen Jeans dazu tragen. Jeder bekam damals einen Ledergurt mit Tasche, in der das große Portemonnaie, der Bestellblock und ein Kugelschreiber steckten. Jetzt, bei dem Berliner Lackaffen, tippen wir mit Plastik-Zahnstochern auf ein Tableau.
Emil, ein echter Kumpel, mit dem ich schon so manche Schicht im ALBERS geschoben hatte, trug schon seine Weihnachtsmannrobe und zog sich die Nikolausmütze ins Gesicht. Dann schritt er, gestikulierend wie ein behäbiger Weihnachtsmann, zur neuen Ladendekoration, beugte sich nach vorn und drückte dem Rentier eine quietschrote Tomate aufs Reisiggeflecht. Rudolf! Ein Kitschladen ist das geworden, mit viel Glämmer und Glitter ... (Das zur Vorgeschichte).
Der Fellkragen kratzt und das Stretchkleid schiebt sich bis kurz untern Po. Ich ziehe und zerre. Stretch – der Gummianteil ist nicht zu unterschätzen. Meine Absätze bohren sich in die dicke Eisschicht vor der Papierpresse. Ich bin zwar durch die Ballettstunden in der Schauspielschule Einiges gewohnt, doch wenn ich mir vorstelle, dass ich gleich die Getränke auf dem glatten Tablett im Spitzentanz serviere ... und diese Latexweihnachtssocke von Kleid mir permanent die Luft abdrückt ... Prost Mahlzeit! Wie soll ich mich nur bücken, falls mir das Wechselgeld hinunterfällt?
Drinnen proben die Hans-Albers-Verschnitte: Komm auf die Schaukel Luise ...
Die Stahlklappe der Apparatur schwenkt hoch und nimmt ihre Ausgangsstellung wieder ein. Noch ein Karton. Ich wippe hin und her, trete auf der Stelle. Will in meinen Schühchen nicht anfrieren. Halt – da ist was drin. ,Extra scharf – bärenstark – Berliner Mostrich‘ steht auf der Verpackung.
Ich halte die lange Plastiktube Senf vor meinen fröstelnden Körper. Wie ein riesiger Phallus ragt sie in die eisige Luft. Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern ... tönt es von drinnen. Mir ist übel, wenn ich daran denke, heute Abend als Playboybunny im Nikolauskostüm zu bedienen. Wieso ICH? Jetzt schneit es auch noch. Schneehaserl – auch nicht schlecht. Warum passiert ausgerechnet mir so etwas? Dieses Pfannkuchengesicht hat nur gesagt: Ich zwinge keinen, wer nicht will, der kann gehen. Gehen? Hier in Hamburg sind die Jobs sehr rar und ich war echt froh, mir so die Theaterschule finanzieren zu können. Mit dem Wenigen, das ich beim Schreiben von Feuilletons verdiene, wäre ich nicht weit gekommen. Nix wie rein! Jawohl, meine Herrn ...
Emil steht mit einem Tablett Krapfen auf der Treppe.
„Hey Marie ... Kopf hoch! Das wird schon wieder.“
Nett gemeint.
„Danke – Emil!“ Du ahnst nicht, wie ich mir vorkomme. Ich schlittere auf den blöden High-Heels zur Treppe. Die Krapfen duften süß und dampfen noch. Emil stellt das Tablett auf die Stahltreppe. Jetzt kommt noch einer von den Hans-Albers-Verschnitten aus dem Lokal, um unter der Überdachung zu rauchen.
„Ja, min Deern ... das wird schon,“ johlt das Seemanns-Imitat.
Auch das noch!
„Los! Schleich di,“ sage ich auf Urbayrisch. Das wirkt immer.
Der Typ lüftet seine Schwarze Mütze und zwinkert mir zu. „La Paloma ... ade.“
Hau nur ab, denke ich. Er wirft Emil und mir noch einen Handkuss zu und lallt:
„Seemanns Braut ist die See. La Paloma ... “
Geh nur, denke ich.
Emil hält mir einen Krapfen unter die Nase.
„Komm, magst du einen? Die sind für heute Abend.“
Emil hat seine Mütze umgekrempelt wie ein Kosak. Er beginnt auf der dünnen Schneeschicht zu schlittern.
„Was wird das?“
Nach einem leichten Bogen macht er eine halbe Drehung auf der Stiefelspitze und verschränkt die Arme. Ich muss lachen. Emil startet erneut, bewegt sich immer schneller, springt hoch, schlittert nach rechts. Setzte wieder neu an, und noch einmal, Strich, Strich, Strich. Ein langer von hinten nach vorn und dann stampft er mit dem Fuß auf. Er steht mir gegenüber und grinst, nimmt mich bei der Hand und zieht mich hoch auf die Stahltreppe.
Er hat etwas in den Schnee geschrieben:
R A C H E
Ich stellte die riesige Senftube auf das Blech.
„Prima! Und wie? Dem sind wir doch vollkommen egal. Sollen wir jetzt abhauen?“
Emil zieht den roten Zipfel wieder aus der Don Kosaken-Mütze. Das goldene Glöckchen bimmelt. Seine Wange ist ganz warm, als ich darüber streiche. Er nimmt meine Hand und reibt sie zwischen seinen.
„Die ist ganz kalt.“
Ich ziehe an meinem Kleidchensaum, stoße gegen die Kante des Backblechs, der Senf fällt um und einige der Krapfen fallen wie Schneebälle in die weiße Pracht. Wir sammeln sie auf. Eiskrapfen. Emil wirft mir einen zu. Der Refrain von: ,Flieger, grüß mir die Sonne‘ schallt aus dem Lokal. Ich atme tief durch, reiße mich im wahrsten Sinne des Wortes mit Ziehen und Zerren zusammen und da, da passiert es: Wir sehen uns an. Es ist wie Ostern und Weihnachten an einem Tag. Frieden und Freude. Und ... und da ist noch Etwas: Zuversicht in eine volle Senftube mit langer Spritzdüse. Rache!
Im ALBERS läuft die Eröffnungsparty auf Hochtouren. Die sechs Kellner – Pardon! – Nikoläuse und Nikoläusinnen tun ihr Bestes. Die geladenen Gäste, haben sich um die Stehtische drapiert. Einige suchen noch, zwängen sich durch die Lücken. Wo steht wer? Für die ,Creme‘ hat er noch etwas im hinteren Teil des Ladens arrangiert. Der Feinkostladen Paukowa liefert die Austern und den Kaviar. Da kommt Brian, der Presseheini mit seinem Team. Emil und ich sehen uns an und denken garantiert das Gleiche. Es gibt jetzt kein Zurück mehr.
Auftakt: Die Beamerprojektion von Hans Albers erhellt die Wand hinter dem Tresen. Von übrall her kommt im O-Ton: „Hoppla, jetzt komm ich!“ Die Hans-Albers-Akteure mischen sich unter die Gäste. Was nun für einige Irritationen sorgt. Aus der Anlage tönt ‚La Paloma ...’. Ich schaue zu den Möwenattrappen an der Lokaldecke. Emil stößt mich an. „Komm, nimm dein Tablett!“ Er reicht mir eine der sechs Krapfenpyramiden auf dem Silbernen. Wir stellen uns auf. Ulla, Philip, Katrin, Karl, dann ich und Emil. So war es verabredet. Der neue Chef wird den ersten nehmen und dann werden wir die anderen verteilen. Party-Berliner (so nennt er die Krapfen, von denen er denkt, sie hätten Champagnercremefüllung). Er steht mit Pomadefrisur im Smoking auf der kleinen, etwas erhöhten Tanzbühne unter dem Spotlight und beginnt seine bedeutungsvolle Ansprache. Ich stehe schräg vor ihm. Er greift sich den obersten Krapfen. „Ich freu mich, euch so zahlreich hier zu sehen.“
Er sieht in die Menge über die Köpfe der knapp zweihundert Gäste hinweg, tut ganz überrascht: „Konrad, danke, dass du den Weg aus L. A. hierhin gefunden hast. Nun ja, dem ALBERS in der alten Speicherstadt eilt sein Name voraus, ... ist zu einem Wahrzeichen Hamburgs geworden. In diesem Sinne ...“
So ein Aufschneider. Nicht, dass er fast aus seinem Smoking platzt, der Typ ist unglaublich. Der Konrad ist schon seit Monaten wieder hier. Die haben seine Firma gepfändet und ich glaube, der hat sogar den Anzug für die Feier geliehen. Mach schon, du aufgeblasener ...! Ja, ... eine innere Freude steigt in mir auf, je näher er den Ballen zum Mund führt. Gleich – Vor der ganzen Mischpoke wird er sein Gesicht verlieren. Wie die Frau vom Bürgermeister ihn schon anklimpert, mit ihren falschen Wimpern. Diese aufgetakelte Tusse. Hey, was ist das? Das kann nicht sein. Er hat keine Miene verzogen. Nein! Er grinst über die vollen Backen. Dreht rasch den Rücken zum Publikum. Er jappst, schnappt nach Luft. Seine Augen tränen. Er zieht ein Tuch aus seiner Brusttasche, dreht sich wieder um und tupft sich demonstrativ die Träne von der Wange. Die Freudenträne. Ich fasse es nicht. Das Pfannkuchengesicht lächelt ganz verzückt in Brians Kamera und schwadroniert ins Mikro: „Freunde! Ich habe mir für diesen Abend natürlich etwas ganz besonderes einfallen lassen. Der ... extra scharfe Party-Berliner! ... meine ganz neue Kreation und exklusiv hier im ALBERS. Lasst es euch schmecken!“
Schulterzuckend sehe ich zu Emil, während Arme aus allen Richtungen nach den runden Teilchen angeln und ich mit der freien Hand an meinem Nikolauskleid zerre. Hey, nicht drängeln! Ich will das nicht glauben und beiße selbst in einen dieser ,Party-Berliner‘... – Extra scharf! „Ho, ho, hooooooo ...“