Schreib-Lust Print
Schreib-Lust Print
Unsere Literaturzeitschrift Schreib-Lust Print bietet die neun besten Geschichten eines jeden Quartals aus unserem Mitmachprojekt. Dazu Kolumnen, Infos, Reportagen und ...
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Jens Ritter IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Freude | Dezember 2010
Augenblick der Freude
von Jens Ritter

„Bitte desinfizieren Sie zum Schutz Ihrer Angehörigen und zum Selbstschutz Ihre HĂ€nde!“

Meine klinisch reine Hand betĂ€tigt den Klingelknopf. Eine Schwester öffnet mir die TĂŒr. „Hallo! Ihre Mutter sitzt im Gemeinschaftsraum, in ihrem Sessel.“ In ihrem Sessel! Du hast keinen eigenen Sessel mehr, seitdem deine Wohnung unter deinem Hintern weggebrannt ist. Man fand dich völlig verwirrt auf der Straße. Du standest einfach nur da und schautest in die Flammen. Nun bist du hier, in einem Pflegeheim fĂŒr Demenzkranke und bringst kein einziges Wort mehr ĂŒber die Lippen.
Was der Alkohol und ich nicht geschafft haben, das hat diese Krankheit, dieser Brand geschafft, dich mundtot gemacht. Du warst schon lange nicht mehr ganz klar im Kopf, stelltest immer wieder dieselben Fragen und begannst immer mehr von dem zu vergessen, was einmal gewesen war. Schnell hattest du Ella vergessen, weil sie nicht mehr da war und spĂ€ter auch mich. Dein ganzes Leben schien dir abhanden gekommen zu sein. Die Ärzte sagten, dass du noch sehr jung bist fĂŒr eine Demenz. Ist es wirklich nur eine Demenz?
Nun sitzt du hier, schaust mich fragend an und findest doch keine Antwort. Ich bin es, deine Tochter. Du weißt es einfach nicht mehr, obwohl ich es dir immer wieder sage. Vor einem Jahr hĂ€ttest du es noch abgestritten, hĂ€ttest gesagt, dass dies eine LĂŒge ist, doch es ist die Wahrheit. Du hattest zwei Töchter und jetzt nur noch mich.
Es scheint fĂŒr dich keine Worte mehr zu geben, die sagen, aussprechen, was du gerade denkst und so spreche nur ich.
„Den Pullover und die Hose hattest du schon letzte Woche an. Ich hoffe, dass sie zwischendurch eine Waschmaschine gesehen haben?“ Von dir ist keine Antwort zu erwarten und kein Personal ist in der NĂ€he, um mir meine Hoffnung zu bestĂ€tigen. Mein Blick fĂ€llt auf deine Schuhe. „Deine Fersen haben wieder ganze Arbeit geleistet, die Schuhe hinten völlig runter gelatscht.“ Das Personal hat es vermutlich aufgegeben, es immer wieder zu richten. Ich knie mich vor dich, hebe deinen Fuß, löse den Schuh, um ihn dir danach wieder richtig anzuziehen. „Gut so?“ Nun noch der Andere. Du beobachtest alles genau, jede meiner Bewegungen. Sie scheinen eine deiner Fragen zu beantworten, denn plötzlich erhellt sich dein Gesicht, zaubert ein LĂ€cheln ĂŒber deine Lippen. Ein Pfleger kommt auf uns zu. „ Na, Frau Böttcher! Da freuen Sie sich, dass Ihre Tochter da ist.“ Ich schließe mich der Meinung des Pflegers an, obwohl ich nicht sicher bin, dass es so ist. Er verlĂ€sst uns wieder, geht auf einen anderen Bewohner zu. Mit ihm verschwindet auch dein LĂ€cheln, genauso plötzlich wie es gekommen war und macht den Platz wieder frei fĂŒr jede Menge neuer Fragen.
Wir schweigen uns an und mich ĂŒberkommt ein GefĂŒhl der Hilflosigkeit. Was soll ich auch mit dir reden? Über mich oder Ella, die schwere Zeit die wir miteinander hatten, ohne Vater, ohne ein glĂŒckliches Familienleben? Am Anfang hattest du noch versucht, nicht unterzugehen, doch irgendwann gabst du es auf und ertrankst deinen Kummer im Alkohol.
Immer wieder versuchst du aufzustehen, vor mir zu fliehen, weil ich dir fremd bin und lĂ€sst es doch dann sein. Wohin solltest du auch gehen? Der Rhythmus dieser Station bestimmt ĂŒber dein Leben, was du tust und wann.
FĂŒr mich wird es langsam wieder Zeit, ich sollte jetzt gehen. „TschĂŒss Mama! Bis nĂ€chste Woche“, und so lasse ich dich wieder hier zurĂŒck. Einen Moment beobachte ich dich noch aus der Ferne. Der Pfleger kommt auf dich zu, spricht dich an, fĂŒhrt dich an den Esstisch. Ohne Widerstand gehst du mit ihm mit.
„Auf Wiedersehen!“, ruft mir die Schwester hinterher, als ich die TĂŒr gerade schließe. Ich nicke nur zurĂŒck. Zwei Spritzer Desinfektion auf meine HĂ€nde, verreiben und alles bleibt hier zurĂŒck. Nur eines nehme ich mit. Deinen kurzen Augenblick der Freude.

Letzte Aktualisierung: 19.12.2010 - 00.12 Uhr
Dieser Text enthält 3874 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2023 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.