Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Wasser | Januar 2011
Blau
von Susanne Ruitenberg

Wir hatten die Hoffnung aufgegeben, jemals eine bewohnbare Welt zu finden. Immerhin waren wir die zweite Generation, die auf der „Exodus“ geboren war. Die zweite Generation, die nie etwas anderes gesehen hatte als das Innere dieser schwebenden Blechbüchse; nie etwas anderes gegessen hatte als Konzentratnahrung, von gentechnisch veränderten Bakterien aus Algenstämmen hergestellt.
Als wir diese hübsche kleine Welt entdeckten, standen wir ungläubig an den Monitoren und starrten sie mit weit aufgerissenen Augen an.
Alle zweiundfünfzig von uns.
Mehr waren nicht übrig. Tausend waren wir mal hier drin, als wir uns nach dem letzten Nuklearkrieg von Mutter Erde abgesetzt hatten. Den Kontakt zu den anderen drei Schiffen haben wir schon lange verloren.
Pete, der seit beinahe einhundert Zeiteinheiten unser Chef war - wir wechseln uns immer ab - sagte mit erstickter Stimme zu Jana: „Häng uns in einen schönen Orbit. Ihr anderen, macht das Shuttle fertig.“
„Wer soll runtergehen?“, fragte ich.
„Wir losen“, bestimmte Pete. „Aber es kommen nur folgende Namen in den Hut: Du, Alex.“ Ich nickte.
Er fuhr fort: „Außerdem Kim, Lukas und Maja. Ihr habt keine Kleinlinge. Falls ...“
Den Rest sprach er nicht aus. Ich konnte es mir auch so denken.
Es gab acht von ihnen, nur eins unter zehn Jahren. Dabei waren wir schon lange dazu übergegangen, uns wild durcheinander zu paaren. In der Hoffnung, damit die Chancen zu erhöhen. Lukas und ich durften auch mitmachen, obwohl aus unseren Joysticks nie ein lebendes Sämlein kommen würde. Bei Kim und Maja sah es ähnlich trostlos aus.
Acht Kleinlinge, um die menschliche Rasse zu erhalten.
Das ist verdammt wenig.
Auch, wenn wir natürlich hoffen, das noch irgendwo da draußen so eine Blechbüchse unterwegs ist.

Unsere Messgeräte zeigten, dass die Luft zu atmen war. Maja landete das Shuttle sicher in der vorbestimmten Ebene. Sie öffnete die Luke.
„Jetzt wird es ernst“, sagte Kim. Nacheinander schnallten wir uns ab. Alle sahen mich an. Weil ich der Älteste bin? Ich zuckte die Achseln und kletterte nach draußen.
Die Gerüche warfen mich beinahe um. Ich kannte ja nichts anderes als die Schiffsluft. Und wir hatten nur unsere Algen zur Sauerstofferzeugung. Die Duftsammlungen, die unsere Nasen wach halten sollten, waren lange verbraucht.
Ich atmete tief ein. Verströmten die Bäume oder die Blumen diese süßliche Note? Vorsichtig bewegte ich mich ein paar Schritte. Himmel, ging das auf die Beine! Die Schwerkraft musste viel höher sein als in der Büchse.
Die anderen gesellten sich zu mir. Ich sah ihnen an, dass sie am liebsten die Messgeräte weggeworfen hätten und herumgetobt wären. Wie die Kleinlinge, wenn sie einmal in zwanzig Zeiteinheiten in den Grünraum dürfen. Doch es wartete viel Arbeit.
Wir bauten das Lager auf. Dass der ganze Kram sich noch zusammenbauen ließ, war ein Wunder. Schließlich hatten wir es noch nie benutzt. Dennoch stand bald unser Zelt neben dem Shuttle und wir begannen mit dem Einsammeln der Proben.
„Alex, alles klar bei euch?“, meldete sich Pete.
„Könnte nicht besser sein.“ In dem Moment hörte ich einen Schrei und rannte in die Richtung, aus der er gekommen war. Ich fand Lukas und Maja starr vor Schreck an einem Bach stehen. Maja deutete mit zitternden Fingern auf das andere Ufer. Dort wuselten kleine Tiere herum, tranken, spielten, jagten und balgten sich übermütig. Sie sahen harmlos aus, etwa so groß wie mein Fuß, hatten braunes Fell, vier Pfoten und sanfte Gesichter auf kurzen Hälsen. Als eines eine größere Pflanze ausrupfte und verspeiste, sagte ich: „Die können nicht gefährlich sein, wenn sie herbivor sind. Kommt, wir haben viel zu tun.“
Bis zum Abend hatten wir viele Proben ausgewertet. Bis jetzt war uns nichts begegnet, was unsere Geräte als toxisch erkannten. Der Himmel, der bis dato hellviolett gestrahlt hatte, verfärbte sich bräunlich-orange. Die Sonne wurde kleiner.
Wir richteten die Nachtlager her.
Ich glaube, keiner von uns hat viel geschlafen in dieser ersten Nacht. Ich lag lange wach und hörte auf jedes Rascheln, Zirpen, den Hauch des Windes, entfernte Schreie von Tieren. Wer hatte so etwas schon einmal erlebt? Wir jedenfalls nicht. Mitten in der Nacht ging ich nach draußen. Leuchtete es da nicht bläulich aus der Richtung des Baches? Ich rieb mir die Augen. Nichts. Hatte ich mir wohl eingebildet.

Nach drei Sonnenuntergängen hatten wir genug Proben gesammelt und ausgewertet.
Wir stimmten ab, ob wir die Exodus landen sollten. Wenn sie erst einmal unten stand, würden wir sie wahrscheinlich nicht mehr starten können. Aber unser einziger Zweck war, zu siedeln. Der Platz sah gut aus und wir waren es alle leid, eingepfercht in der Büchse zu sitzen.
„Ich weiß nicht“ sagte Jana. Selbst über den kleinen Monitor der Handhelds sah ich die Skepsis in ihrem Blick. „Was ist, wenn doch Gefahren lauern? Wilde Tiere. Verborgene Gifte. Dinge, vor den keiner uns warnen konnte, weil sie auf Mutter Erde nicht existierten.“
„Da ist nichts“, verteidigte ich unsere Arbeit.
„Wir waren gründlich. Und ihr kreist selbst im Orbit und habt die ganze Welt abgetastet. Ohne auch nur ein Tier über einen Meter fünfzig zu finden“, pflichtete mir Kim bei. „Geschweige denn Toxine.“
Jana wurde überstimmt.
Sie bereiteten oben alles vor. Es würde eine Nacht dauern, mit einer letzten Umrundung die Exodus langsam herabzusenken. Im Morgengrauen sollten sie landen.
Maja und Lukas legten sich schlafen. Vor Aufregung hatten wir ein wenig gefeiert und es war spät geworden. Kim sah indes genau so wach aus, wie ich mich fühlte. Ich deutete mit dem Kopf zum Zeltausgang. Sie nickte. Ich schnappte mir eine Decke und wir gingen nach draußen. So kam eines zum anderen und irgendwann lagen wir eng umschlungen auf der Decke. Die Nacht war mild. Kim schlief in meinen Armen ein.
Ich musste auch weggedöst sein. Ein Geräusch weckte mich. Behutsam zog ich meinen Arm unter Kim hervor, stand auf, ging ein paar Schritte und erleichterte mich. Ich hatte wohl den Bach getroffen dabei, denn es plätscherte lustig. Egal, wir mussten unser Trinkwasser ja nicht an dieser Stelle holen. Ich sah nach oben. Man sah schon die Lichter der Exodus. Lange konnte es nicht mehr dauern, und sie würde einschweben.
Auf einmal fiel mir auf, dass ich einzelne Pflanzen erkennen konnte. Brach der Tag schon an? Nein, der Himmel war dunkel. Ich drehte mich zu Kim um. Was ich sah, ließ mich vor Schreck scharf die Luft einziehen. Der ganze Bach leuchtete! Stahlblau, als hätte man ihn mit unterirdischen Lampen versehen.
Dann geschah das Schreckliche. Für den Rest meines Lebens werde ich es nicht mehr vergessen. Wie lang auch immer das noch sein mag.
Der Bach - erwachte zum Leben. Eine leuchtend blaue Wasserwand stieg aus dem Bachbett. Wie eine tastende Hand schickte sie Ausläufer das Ufer entlang. Direkt auf Kim zu:
„Kim!“, schrie ich und rannte los.
Zu spät. Die tastende Wasserhand berührte Kim, dann sprang ein Schwall aus dem Bach heraus wie ein angreifendes Tier und bedeckte sie. Sie schrie gellend, der Schrei endete in einem Gurgeln. Ich rannte zum Wasser und ging in die Knie. „Nein!“, rief ich. Der Wasserstand war gestiegen, als hätte man irgendwo eine Schleuse geöffnet. Aber das Schlimmste - ich biss mir auf die Lippen und kämpfte gegen meinen Magen an - von Kim war nichts übrig als ein fast abgenagtes Skelett, das an der Uferböschung hing. Blau leuchtendes Wasser umspülte es.
Siedend heiß fiel mir die Exodus ein. Ich musste sie warnen, sie durften in keinem Fall - da hörte ich ein ohrenbetäubendes Tosen und wandte mich um. Es waren die Außentriebwerke, die soeben angesprungen waren, um die Kiste sicher zu landen.
Zu spät!

Das ist jetzt etwa dreißig Tage her. Nach und nach hat sich der leuchtende Bach alle geholt. Obwohl wir nachts nicht mehr draußen herumlaufen und uns im Schiff verschanzen.
Das blaue Wasser hat Wege gefunden, dort einzudringen.
Ich erspare eventuellen Findern unserer Aufzeichnungen die Details.
Wie die Wasserfinger uns jagen.
Wie sie Fallen stellen.
Wie sie überall gleichzeitig hereinschwappen.
Durch Lüftungsschächte kriechen, in Kabelkanälen umherschleichen und fast alle Wasservorräte infiziert haben.
Auf dem improvisierten Friedhof draußen befinden sich eine Menge Knochen.
Mich haben sie noch nicht erwischt. Ich verstecke mich jede Nacht im Grünraum, mitten im Gärtank, wo wir aus Abfallmasse Gas gewinnen. Ich muss auch nicht mehr kotzen vom Gestank.
Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis das blaue Wasser mir auch hier auf die Schliche kommen wird.
Es kann nicht mehr lange dauern.
Vorige Nacht kamen ein paar Wasserhände um den Gärtank gekrochen. Nicht zahlreich genug, um einzudringen, und es war beinahe Morgen.
Jetzt wird es dunkel.
Ich werde ein letztes Mal meine Aufzeichnungen speichern und in den Tank gehen.
Die Waffe habe ich bei mir.
Beim ersten blauen Leuchten werde ich mir den Kopf wegpusten.

Letzte Aktualisierung: 27.01.2011 - 17.08 Uhr
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