Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
Da waren zunächst die Perlen, die eine jede Auster, sobald sie die Fee zu Gesicht bekam, willig abgab, auch wenn sie vorher noch so viel Mühe auf ihre Produktion verwendet hatte. Angesichts der Lieblichkeit ihrer irisierenden Erscheinung vergaßen die Haltemuskeln im Inneren der Molluskel ihre Pflicht, atmeten tief und sündig durch und schon rollte die Perle in eine runde, kleine Handfläche, eisige Finger schlossen sich behutsam über ihr, und sie wurde sicher in die Sammlung verbracht.
Die Fee nahm aber auch alle Perlenketten und –armbänder und –ringe und -diademe, die sie fand oder eher – die man ihr überließ. Sobald sie bei den zukünftigen Geberinnen auftauchte und sie mit ihrer fließenden luisanten Präsenz umhüllte, öffneten diese wie in Trance ihre güldenen Schatullen und sahen mit einem in nichts zu übertreffenden Glücksgefühl ihre wertvollen Schmuckstücke wie auf Engelsflügeln dahinschweben und in einem hellen, gleißenden Licht verschwinden – in dem natürlich die Fee steckte, die die Perlen sofort ihrer Sammlung hinzufügte.
Nur eines war unbedingt wichtig: die Perlen mußten ihr gefallen.
Denn jede Perle nahm sie nicht, nur die, die makellos waren: rund und mondmilchschimmerndweiß mußten sie sein.
Im Sommer schwebte sie öfter nach Italien, weil da regelmäßig die Marienstatuen in den prächtig dekorierten, überheißen Kirchen und Kapellen zu weinen begannen. Wenn es sich nicht gerade um Schwarze Madonnen handelte – von denen es aber dort nicht so viele gab -, stand die Fee neben ihnen und fing mit einer kleinen Schale aus Opal die Tränen auf, sah zu, wie sie zu Perlen erhärteten, katalogisierte sie fein nach Fundort, -zeitpunkt, Alter und Kunstrichtung der Statue und verleibte sie alsbald ihrer Sammlung ein.
Die ergiebigste, nie versiegende Quelle waren natürlich die Menschen, besonders die Frauen und Mädchen. Aber auch da war nicht jede Träne eine Perlenträne. Tränen, die aus Wut oder Furcht oder Neid – und davon gab es viele - vergossen wurden, zählten nicht, auch nicht jene falschen, die aus Selbstmitleid oder Eigennutz flossen. Nein, die reinen Tränen der unglücklich Verliebten mußten es sein, sie ergaben die größten, die reinsten, die durchsichtigsten, die traurigsten Perlen.
Aber immer hatte die Fee ihr opalenes Schälchen zur Hand, immer rettete sie die kostbaren Tropfen, und so wurde ihre Sammlung von Tag zu Tag größer.
Sehr traurig war, daß die Tränen, die in und um die Traumfabrik Hollywood vergossen wurden, der Fee so gar nichts nützten: sie waren wunderschön und von perfekter Eleganz, aber naßkalt und flüchtig wie ein Winternebel über dem Moor, wenn der Sturm aufkommt. Keine hielt länger als zwei, allerhöchstens drei Stunden an – den Rekord hält bis heute ein wahres Kleinod von einer überirdisch schönen Träne, bis schließlich auch sie nach zweihundertvierundzwanzig Minuten vom Winde verwehte.
"ich färbte dir den himmel brombeer mit meinem herzblut" (e. lasker-schüler)
- Faszinierend, murmelte die Fee, und sie konnte nicht umhin, mit dem Zeigefinger leis an eine von ihnen zu tippen – als sie sodann ihre Fingerkuppe betrachtete, formte ihr Mund vor Erstaunen ein kleines o : ein winziges lila Herz hatte sich dort in die Haut gebrannt und sah nicht aus, als wolle es bald wieder fortgehn.
Aber für die Sammlung der Fee taugten die edlen Tränen nicht.
II.
"immer möcht ich auffliegen
mit den zugvögeln fort" (e. lasker-schüler)
Ob die Weiße Kröte mit dieser letzten Bemerkung noch sich oder schon die Fee meinte, war nicht genau auszumachen.
Diese aber fragte:
- Wie? Hab ich das jetzt richtig verstanden? Du sammelst auch Perlen?
- Nöö, nicht wirklich. Haste nicht gemerkt, daß ich du bin? Ja, guckst du! Ich bins höchstselbst, dein ureigenster 'Zweifel am eigenen Tun' in K.- Gestalt. Es ist bald Silvester, da wäre es Zeit, die eine oder andere muffig gewordene Gewohnheit zu ändern, meinste nicht?
"mach was - so kanns nicht bleiben - wenn du so weitermachst bist du tot – worauf wartest du eigentlich - besser was falsch machen als gar nix machen – los jetzt!" (orla v. orbit)
Sie hatte nie darüber nachgedacht, ob all das etwas mit ihr zu tun haben könnte, und war weiter auf ihre Schnitzel-, … äh …Perlenjagd gegangen.
Aber nun war es offensichtlich an der Zeit, etwas zu unternehmen, egal, wie es enden würde.
III.
"aber du kamst nie mit dem abend
ich saß im sternenmantel" (e. lasker-schüler)
Sie erhob sich von ihrem Bett, und mit vorsichtigen Schritten stieg sie langsam die ersten Stufen hinunter und sprang dann immer schneller und kühner die Treppe hinab, das Universum der Unglücklich Liebenden hinter sich lassend, dem Leben entgegen.
- Meine Tränen produziere ich ab heute selbst, egal welchen Genres und welcher Couleur! Das ganze Spektrum soll es sein. Und ich werde sie nicht sammeln, sie werden aufsteigen und kullern und trocknen, wann immer es nötig und wie das ihre Aufgabe ist,