Das alte Buch Mamsell
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Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Wasser | Januar 2011
Luftblasen
von Sylvia Seelert

Wenn ich hinausblicke, sehe ich in mein Spiegelbild. Glas und Wasser werfen mein Gesicht zurück. Am Anfang habe ich mich viel mit mir selbst unterhalten, denn sie haben mich alleine gelassen. Nach einiger Zeit langweilte es mich jedoch. Ich fand keine Antworten auf meine Fragen und wusste mir auch nichts Neues zu berichten. Dann zählte ich die Luftbläschen, die am Glas entlang krochen. Bei 1.659.870 gab ich es auf. Ich stritt mit mir, rieb mich an der Wand wund und verweigerte das Essen, das Trinken. Doch nichts befreite mich aus der Blase, in der ich lebte. Nicht einmal mein Wunsch, durch das Licht zu gehen, das ich schon sah, als mein Körper ausgezehrt am Boden lag. Nur wenige Schritte, ich wäre endlich erlöst gewesen. Sie hoben mich einfach auf, pressten die Nahrung gegen meinen Willen in mich hinein und weigerten sich mich gehen zu lassen.
Doch was gebe ich ihnen, dass sie mich so beständig am Leben erhalten? Manchmal verharren sie vor dem Glas und starren mich an. Als warteten sie auf etwas, was ich tun soll. Doch was nur? Wenn ihre Mäuler sich öffnen, verstehe ich sie nicht. Es hört sich an wie Blaahblaahblub. Mal mit langen Vokalen, mal mit kurzen, abgehackten. Eine Folge von Konsonanten und Vokalen taucht immer wieder auf. Sie freuen sich, wenn ich darauf reagiere und näher an das Glas trete. Diese Abfolge von Tönen scheinen etwas mit mir zu tun zu haben. Ein Name? Ein Befehl? Sicher bin ich mir nicht. Denke mir meinen Teil. Wenn es sie freut, dass ich darauf reagiere, bleiben sie länger und ich bin weniger allein.
Zum Beginn meiner Gefangenschaft sah ich sie recht häufig. Nun nehme ich ihre Umrisse oft nur in der Ferne wahr. In den letzten Tagen auch gar nicht mehr. Ihre Neugierde hat nachgelassen.
Allein.
Ein Wort, das bitter macht. Jeder Augenblick ist auf mich bezogen. Jedes Gefühl ungeteilt.
In zehn Sekunden ist mein Gefängnis abgeschritten. Ich fange an zu rennen, um es schneller zu schaffen. Manchmal gerate ich in einen Rausch, will mit jeder Runde den Rekord erneut brechen, und liege am Ende ausgepumpt auf dem glatten Boden. Jedes Mal wird mir schlecht, weil die engen Kreise Schwindel auslösen. Es ist mir egal. Denn so spüre ich ein wenig, dass ich lebe. Und ich kann schlafen. Ein erschöpfter Schlaf, der sogleich in die Tiefe fällt.
Schlafen ist ein großes Thema in meiner Welt. Wenn nichts als die Enge mit mir bleibt und die beobachtenden Blicke von außen, dann ist er Flucht in eine andere Welt. Von der Weite träume ich, so wie es vorher war. In den letzten Tagen dringt die Enge jedoch sogar in meine Träume ein. Allmählich verliere ich den Bezug zu dem, was Weite ist. Länger als zehn Sekunden den gleichen Weg zu gehen ist der einzige Maßstab, der mir bleibt. Oder mehr, als das Wasser um mich herum sehen. Was gab es vor dem Wasser? Mir bleibt plötzlich die Luft weg und ein eiserner Ring umschließt meine Brust. Ich wache auf. Schreie. Schwitze. Weine.
Ich will nur hier raus. Die anderen sehen. Mit ihnen sprechen. Nicht mehr alleine sein.
Gibt es sie noch? Andere wie ich?
Wenn es sie noch gäbe, hätten sie mich nicht längst gefunden?
Ich fange an, meinen Herzschlag zu zählen. Jeden Morgen, wenn ich aufwache. Eine Minute lang. Dann zähle ich die Schritte, in der ich in einer Minute mein Gefängnis abgelaufen habe. Die Luftbläschen, die in einer Minute aufsteigen, die Nahrung, die durch ein Rohr eine Minute lang auf den Boden fällt, Lichtpunkte im Wasser, Konsonanten und Vokale, die meine Beobachter mit ihren Mündern bilden. Alles, was zählbar ist, wird gezählt. Eine Minutelang. So kommt Struktur in ein Leben, das nur aus einer Zahl besteht: ich.
Wenn ich nichts zu zählen finde, dann renne ich. Bis zur Erschöpfung. Breche zusammen und schlafe. Hoffe in Träumen wieder zu finden, was ich verloren habe. Und manchmal gelingt es.
Dann sehe ich die Welt, bevor das Wasser kam. Die Weite. Das Blau des Himmels. Die Sonne. Andere wie ich. Ich höre Lachen, Stimmen, die ich verstehe. Und fühle Gras unter meinen Füßen.
Ganz selten träume ich von dem Moment, der mich in die Enge trieb. Die Weite, wie ich sie kannte, wurde vom Wasser bedeckt. Das Meer holte sich das eine Drittel zurück, das ihm zu seiner Welt fehlte. Luftblasen retteten mich und die Bewohner der Meere, die Verantwortung für uns und unsere Welt übernahmen. In den Tiefen lebt mehr, als das, was wir Fisch nennen. Mehr, als wir ahnten und kannten.
Adamo Ambrogetti hieß ich vor dem Wasser. Es gab viele wie mich. Jetzt habe ich keinen Namen mehr. Lebe in einer Luftblase ganz aus Glas. Vielleicht bin ich der letzte meiner Art. Vielleicht aber bringen sie mir auch ein Weibchen, und es beginnt von vorne.

Letzte Aktualisierung: 09.01.2011 - 13.27 Uhr
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