Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
Auf dem Grund des Ägäischen Meeres, drei Segelschifftagesreisen ab Quell entlang des Großen Erleuchtungsmahlstroms und gleich hinter dem Bodenlosen Verdammnisstrudel links, steht auf einer Plattform aus erkaltetem Magma ein prächtiger kristallener Palast. Beschützt von den Wänden eines Felsengebirges, bezwingt sein Funkeln die tiefe Schwärze der Unterwasserwelt. Zwei riesige Torwächter – Seepferde aus Basaltstein – behüten das Portal des ganz aus Türkisen erbauten Schlosses. Das gesamte Anwesen schimmert in allen Farben, glimmernde Diamantseesterne spenden ein diffuses, aber warmes Licht. Ein Leuchtplasma leitender Aquädukt überspannt den Eingangsbereich, unlöschbare Lava brodelt in antiken Brunnentrögen und über eine Kaskade ergießt sich flüssiges Silber in ein großes Becken. In den weitläufigen Gärten und Parks plätschern sanft Nymphentränenfontänen, Gnomenefeu umrankt den mit Perlen und Saphiren eingefassten Prunkbau.
Eben dieses Herrscherhaus war das Ziel der baumlangen, durchaus Furcht einflößenden Gestalt, die in ihrem Streitwagen allen Druck- und Dichteverhältnissen zum Trotz in einem Höllentempo durch die Fluten brauste. Der volle, blaue Haarschopf des Meeresstürmers wäre auch durch eine Stahlbürste nicht zu bändigen gewesen und stand borstig zu allen Seiten ab. Sein Rauschebart ließ den Mann auf den ersten Blick altehrwürdig erscheinen, doch die gefährlich blitzenden indigofarbenen Augen verrieten den Heißsporncharakter ihres Eigentümers. In der rechten Hand hielt der Hüne ohne Kraftaufwand einen mächtigen gusseisernen Dreizack, an dessen Zinken sich unentwegt elektrische Spannung knisternd entlud. Die Zügel lässig in der Linken, preschte der Malefizkerl mit seiner Kalesche rücksichtslos durch einen Schwarm Blinkfische, umkurvte schnittig einen Parcours aus natürlich gewachsenen Bittersalzsäulen, schreckte mit einem gewagten Schlenker ein paar uralte Riesenschildkröten auf und lieferte sich mit einem kecken Hai über mehrere hundert Meter hinweg ein Wettrennen. Vier kraftstrotzende Tiere – zwei Seepferde und zwei herkömmliche Rösser – zogen das antiquierte, aus den Gebeinen des Giganten Polybotes gefertigte Transportmittel, als bestünde es aus Papier. Die goldenen Mähnen wogten im Rhythmus ihrer stampfenden Tritte, unter den bronzenen Hufen der Haferlokomotiven flammte es des öfteren auf. Ein letzter Blick zurück auf den japsenden Hai, der geschlagen den Kopf hängen ließ und sich zum Ausruhen in eine Schilfinsel verzog, dann schnalzte der Fahrzeuglenker mit den Zügeln, damit die Pferde das Letzte aus sich herausholten. Das Ziel war nah, am Horizont konnte man bereits die Burgzinnen ausmachen.
Keine drei Minuten später kesselte der Recke über die gewundene Auffahrt und legte im Burghof eine so scharfe Bremsung hin, dass sich die Hufe der Gäule tief in den Boden gruben. Mit einem eleganten Sprung über die Chassis, den er indes nicht ganz sicher stand, stieg er aus und winkte mit seinem Trident einen Stallburschen heran, der staunend die stürmische Ankunft des hohen Herren beobachtet hatte.
„He, Junge, striegel meine Wildfänge gut ab, hörst du? Und gib ihnen eine doppelte Futterration. Wir haben heute einen neuen Geschwindigkeitsrekord aufgestellt.“
Der Bursche nickte eifrig, packte das Geschirr und führte die Tiere mitsamt Quadriga in den hinteren Schlossbereich, wo sich die Boxen und Wagenschuppen befanden. Der Dreizackschwinger, der im Kristallkastell augenfällig das Hausrecht innehatte, blickte dem Knecht zufrieden nach, bis jener den Marstall erreicht hatte, und strebte dann mit raumgreifenden, obgleich schwankenden Schritten zur Eingangstür des Palastes. Mehrere Stufen auf einmal nehmend, erklomm er die aus Agat gehauenen Treppen, bedeutete den sich verneigenden Wachposten mit einer knappen Handbewegung, sich wieder aufzurichten, stieß die Flügeltüren auf, ließ beim Durchqueren der Vorhalle achtlos seinen Umhang von den Schultern auf den Fußboden gleiten und betrat einen verschwenderisch ausgestatteten Großraum, den so genannten Schaumkrönungssaal. Die Hände in die Hüften gestemmt und schelmisch grinsend, sah sich die blauhaarige Respektsperson in der verlassen scheinenden Prachtstube um.
„Heda“, röhrte er fidel mit deutlich lallender Stimme, und spätestens jetzt wurde offenbar, dass er einen in der Krone hatte, „ich bin zu Hause!“
Zunächst rührte sich nichts. Dann, langsam, setzte ein unüberhörbares Zischen und Wispern ein, an verschiedenen Stellen begann das Wasser zu blubbern, aus guten Verstecken hefteten sich etliche Augen voller Neugier auf den nassforschen Eindringling, hektisch huschten ein paar Schatten zwischen den vielen Säulen und Emporen hin und her. Aus dem Hintergrund löste sich eine auffällige Erscheinung – ein dicker, alter Mann in einem altmodisch geschnittenen Gehrock – und schwamm eilig auf den Rufer zu.
„Poseidon, Herr, Ihr seid daheim?!“
„Yup, das sagte ich soeben.“
„Verzeiht die Wiederholung, Herr. Es ist nur, weil Ihr so lange fort wart und Eure Heimkehr gänzlich unerwartet kommt.“ Der einer aufgedunsenen Wasserleiche ähnelnde Frackträger verneigte sich umständlich.
„Na, ich wollte euch halt überraschen. Dachte, das wäre ein netter Spaß. Ich hoffe doch, dass ihr mich alle schmerzlich vermisst habt?“ Die Meeresgott zog bei seiner Frage erwartungsvoll eine Augenbraue nach oben.
„Sicher, Ihro Gnaden, keine Frage. Wir würden es gar nicht wagen, Eure Abwesenheit als erholsam zu empfinden.“
„Wodjanoi, mein treuer Diener, lass dich umarmen.“ Völlig unmajestätisch drückte der gerührte Herrscher der Meere seinen Untertan an seine breite Brust, was dem Geherzten sichtlich unangenehm war. Gleichwohl ließ er die plumpe Vertraulichkeit wort- und widerstandslos über sich ergehen.
„So, altes Haus, und jetzt erzähl mal, was während meiner Absenz hier so alles passiert ist.“
„Äh, Herr, also ... ich ... wie soll ich sagen ...“, druckste Wodjanoi herum und strich sich die Rockzipfel glatt.
„Wo ist denn Amphitrite, mein holdes Weib?“, fiel ihm die Gottheit ins Wort.
„Aus. Besorgungen machen.“
„Zeus steh mir bei“, stöhnte Poseidon. „Wie ich Madame kenne, wird sie nicht so bald von ihrem Einkaufsbummel zurück sein. Hoffentlich übertreibt sie es nicht wieder. Beim Hades, das letzte Mal hab ich König Midas anpumpen müssen, so leer geräumt war meine Schatzkammer. Ganz schön peinlich, als Gott bei einem Menschen in der Kreide zu stehen. Na, sei’s drum. Hat sich wenigstens mein Sohn zwischenzeitlich mal gemeldet?“
„Nein. Master Kerkyon ist mit seinem Ringerteam auf Welttournee gegangen. Scheinbar lastet ihn das derart aus, dass ihm keine Zeit für Briefe oder Hologramme bleibt.“
„Kinder!“, schnaufte der Herr Papa missmutig. „Kaum hat man sie mühsam groß gezogen, treiben sie sich rum.“
„Tja, wie der Vater, so der Sohn.“ Der steinalte Haushofmeister konnte sich diese Spitze nicht verkneifen.
„Was soll das denn heißen?“
„Durchlaucht, Ihr selbst wart gerade 800 Jahre weg. Ohne ein Lebenszeichen!“
„Holla, doch so lange? Kam mir gar nicht so ausgedehnt vor, die Feier.“
„War Euer Familienfest denn schön?“, erkundigte sich Wodjanoi.
„Hach, toll! Also, das muss man Dionysos lassen. Partys organisieren kann er.“ Poseidon beugte sich verschwörerisch vor. „Zum Schluss ist der Schwof gar in ein Gelage ausgeartet“, raunte er.
„Sagen Sie bloß!“
„Außerdem war Ares nicht da, der Arsch. Ein Glück! Immer wenn der Kotzbrocken irgendwo auftaucht, gibt’s schlagartig Stunk. Ha, ich kenne wirklich niemanden, der das brutale Scheusal ausstehen kann. Apropos ausstehen. Sag mal, Wodjanoi, riechst du das auch? Verwest hier irgendwo eine Herde toter Wale, oder bin ich das? Auf dem gesamten Rückweg hatte ich schon diesen widerwärtigen Geruch in der Nase.“
„Nein, Magnifizenz, Ihr seid das mitnichten. Das wollte ich Euch schon die ganze Zeit über sagen. Es ist das Wasser.“
„Das Wasser?“
„Nun ja, es ist im Laufe der letzten 150 Jahre schlecht geworden, Herr. Durch die Menschen. Im Zuge ihres so genannten Fortschritts kippen sie ihren ganzen Dreck in die Ozeane. Und das zumeist in voller Absicht! Diese so genannte Verklappung hat Ausmaße angenommen, dass es zum Himmel stinkt. Altöl, Fäkalien, Medikamente, Lacke, Pflanzenschutzmittel, Dünnsäure, Klärschlamm und was weiß ich noch alles schütten sie uns vor die Tür. Sogar radioaktiven Nuklearabfall! Und über den Regen gelangt obendrein der ganze Schiet, der bei der Stromherstellung in ihren Kraftwerken anfällt, in die Meere – Stoffe wie Schwefel, Ruß und Stickstoffoxide.“
„Ist ja schrecklich!“ Die Feuchtfröhlichkeit wich jäh aus dem Gesicht des Meergottes. Mit seinem Dreizack fuhr er durch sein sich sträubendes Haar.
„Wir haben so sehr darauf gewartet, dass Ihr was unternehmt. Aber ihr wart ja nicht da. Erst kürzlich ist nahe Griechenland wieder ein Öltanker ausgelaufen, was ein halbes Jahr später zu einer Algenpest geführt hat.“
Poseidon schluckte. „Und das maritime Leben? Wie ertragen meine Schutzbefohlenen diese Situation?“
„Sieht übel aus“ erwiderte Wodjanoi lakonisch. „Wenn das so weiter läuft, haben wird bald ein Meer ohne Fische.“
„Eine Algenpest in der Nähe von Griechenland, sagst du?“ Beunruhigt starrte Poseidon seinen Hiobsbotschafter an. „Wie geht’s meinen Haustierchen Skylla und Charybdis, meinen kleinen, niedlichen Ungeheuern?“
„Skylla ist eingegangen und Charybdis schwer krank. Das arme Tier ist weggelaufen und kotzt gerade den Marianengraben voll.“
Poseidons Miene wurde düster. Rauch kräuselte aus seinen Nasenlöchern. Zornbebend hämmerte er sein Zinkenzepter in den Boden. Die daraus resultierende Flutwelle überspülte halb Holland.
„So nicht!“, schäumte er. „Wodjanoi, rufe meine Armeen zusammen. Alle sollen sie antreten: die Necker, die Tritonen, die Russalken, die Seezentauren, die Merrows, die Kelpies. Das wollen wir doch mal sehen! Diesem Menschenpack brennen wir was auf den verlausten Pelz. Schließlich ist das immer noch MEIN MEER!“
ENDE
Letzte Aktualisierung: 16.01.2011 - 20.56 Uhr Dieser Text enthält 10153 Zeichen.