Der Tod aus der Teekiste
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"Viele Autoren können schreiben, aber nur wenige können originell schreiben. Wir präsentieren Ihnen die Stecknadeln aus dem Heuhaufen."
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Wasser | Januar 2011
OverC Leviathan 13
von Hartmut Köhler

Carl presste seinen rechten Daumen auf die Scannerfläche und hielt sich gleichzeitig den Sensor, dessen Äußeres einem alten Stethoskop glich, mit der linken Hand an den Hals, genau dort wo der kleine Chip war. Im Geiste zählte er.
Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig.
Ein kurzes Piepen unterbrach das Zählen.
„Guten Morgen, Carl“, sagte eine Stimme. „Ihre Werte liegen heute unterhalb der Norm. Bitte nutzen Sie im Laufe des Tages die Möglichkeit einer medizinischen Untersuchung.“
Immer wieder wunderte sich Carl, dass diese Stimmen aus dem Computer klangen, als würden wahre Menschen irgendwo in ein Mikrophon sprechen. Aber sie waren nur virtuell.
„Und denken Sie an Ihre Medikation, Carl.“
Im Hintergrund gab es ein rutschendes Geräusch.
Jetzt war das kleine Tütchen mit den Pillen durch den Computer freigegeben worden und in dem Fach über dem Waschbecken gelandet.
Carl drehte sich um, nahm das Tütchen und schluckte die drei Tabletten, die nicht größer als Stecknadelköpfe waren.
Stecknadelköpfe?
Carl musste leise lachen. Gibt es noch Menschen, die in ihrem Leben wirklich eine Stecknadel kennengelernt hatten? Gibt es noch Menschen, die Computerstimmen noch blechern und leblos kannten? Ihm waren beide Sachen noch so bekannt. Alt genug war er. Oder? Ihm fiel ein, dass er schon seit Monaten nicht mehr nach dem Datum gefragt hatte.
„Hallo, Blechhirn“, sagte er in den Raum, während er an das Arbeitsterminal trat. „Welches Datum haben wir heute?“
„Hallo, Herr Vermont“, antwortete eine weibliche Stimme mit beruhigendem Timbre. „Ich darf Sie, wie schon häufiger, daran erinnern, dass es in unseren Prozessoren keinerlei Blech gibt. Um auf Ihre Frage zu antworten: Es ist der 23. April 2057.“
„Dann bin ich seit vier Tagen sechsundneunzig Jahre alt“, murmelte Carl und konnte ein Zucken seiner Augenbrauen als Zeichen der Erkenntnis nicht verhindern.
„Möchten Sie Wetterdaten hören? Welchen Ort wählen Sie?“
„Miami, nein, Paris.“
„Bedeckt. Zwölf Grad und leichter Nieselregen. Smoggrenze 18. Beschränkte Nahsicht. Die Tageshöchstwerte werden …“
„Lass es, bitte“, unterbrach Carl, wohl wissend, dass nun schlechte Prognosen folgen würden. „Sag mir lieber welches Mittagessen heute auf dem Plan steht.“
Er setze sich in den Sessel und schaltete den Arbeitsterminal an.
„Sie können, wie immer, zwischen 365 Speisen wählen.“
„Besserwisserin“, flüsterte Carl und fügte dann lauter hinzu: „Dann such mir bitte etwas Mediterranes heraus. Lamm vielleicht.“
Während der Terminal hoch lief, drehte Carl sich mit dem Sessel um. Er sah in den Raum und stellte fest, dass er seine Ordnung in den letzten Tagen etwas hatte schleifen lassen.
Anfangs, als er sich vor fast achtzehn Jahren bei dem Projekt OverC Corporation einschrieb, mochte er sich kaum vorstellen in diesem Container leben zu können, auch wenn die Ingenieure und Vertragsprokuristen von der neuartigen Technik in höchsten Tönen geschwärmt hatten. Doch, anpassungsfähig wie die Spezies Mensch ist, war ihm das neue Zuhause schon nach vier Monaten vorgekommen, als hätte er nie woanders gelebt. Ein Heim von zwölf Meter Länge und vier Meter achtundsechzig Breite. Abzüglich der fest installierten technischen Ausstattung blieben ihm vierzig Quadratmeter Lebensraum. Knapp zwei Quadratmeter weniger, als seine alte Wohnung in New York gehabt hatte.
Die Luft wurde im Raum stetig ausgetauscht, ohne das Carl Zug bemerkte oder die Nebenwirkungen von Klimaanlagen, nach persönlicher Wahl mit Düften versehen, egal ob Sommerwiese oder Nadelwald. Und der Spaziergang wurde durch Laufband und dreidimensionaler Projektion generiert. Sonne, Seeluft und Meer. Auch diese Möglichkeiten gab es, denn der großzügige Nassbereich bot nicht nur einen Whirlpool, sondern auch eine riesige Leinwand und eine frei wählbare Sonnenbankfunktion.
Selbst der Genuss von Tabak und Alkohol, seit Jahren verboten und geächtet, war hier in unbeschwerter Weise möglich.
„Guten Morgen“, meldete sich der Terminal. Carl hatte einmal die Stimme eines schon längst verstorbenen Schauspielers gewählt. Sie erinnerte ihn an alte Agentenfilme, die er immer so liebte, und Abenteuer, aber sie wirkte auch erfahren und beruhigend. „Wollen Sie heute eine Assistentin wählen?“
„Nein“, sagte Carl. „Ich werde heute Abend wohl mit einer Dame dinieren.“
„Gerne. Heute müssen einige Berechnungen fertig gestellt werden und zehn Mails warten auf ihre Bearbeitung.“
Noch vertieft in den Gedanken an das abendliche Rendevouz hatte Carl die letzten Sätze nicht gehört.
Partner, für die zwischenmenschlichen Aspekte, waren ein weiteres Plus für das Leben im OverC. Man konnte sich pro Tag einen Partner oder eine Partnerin auswählen. Eine Holographie, nach den Vorzügen des Bestellers generiert, erschien dann, für einen Zeitraum von drei Stunden, um dem Leben eine Abwechselung zu bereiten. Der körperliche Kontakt dieser Treffen, den Hologramme noch nicht erzeugen konnten, imitierten in die Kleidung eingewebte Sensorstreifen. Selbst Orgasmen, so hatte Carl schon ein paar Tage nach seinem Einzug feststellen können, waren auf diese Art, ohne eigenes Einschreiten, möglich.
Carl stellte sich vor, dass er heute mit Rita, der Projektion einer rassigen und fülligen Italienerin, Scampi und Rotwein genießen würde. Mit ihr hatte er schon Stunden lang über die ehemaligen Schönheiten Roms und Venedigs geplaudert.
Er schüttelte den Gedanken an Rita zunächst fort und wendete sich wieder dem Terminal zu. Denn, das war eines der Inhalte des Vertrages, fünf Stunden Arbeit waren Pflicht.
Obwohl Carl ausgeschlafen hatte, musste er lange gähnen, als er die erste Mail aufrief.

*

Gerold Moagwy hatte an diesem Tag, als einer von acht technischen Controllern auf der Brücke der OverC Leviathan 13, Frühdienst. Sechzehn Bildschirme waren vor ihm in zwei Ebenen aufgebaut und wenn er sich umsah, konnte er durch die dicken Glasscheiben auf den unendlich wirkenden Atlantik blicken. Am Horizont entdeckte er einen kleinen Punkt. Das Schwesterschiff der Leviathan 13, die Golem 12.
An diesem Morgen hielt er einen Kaffeebecher in beiden Händen. Neben ihm, an ein Schaltpult gelehnt, stand Mike Rethers. Der große Mann war zweiter Offizier.
„Die Biskaya ist nicht mehr weit.“
„Ja“, meinte Moagwy. „Noch zwei Monate kreuzen, dann ist Mannschaftswechsel in Lissabon.“
„Warst du schon einmal in der Stadt?“, fragte Rethers.
„Lissabon?“ Der Controller schüttelte seinen Kopf. „Nicht in dieser Luftkloake. Wir zelten immer weiter südlich, wenn ich frei habe. Meine Frau mag das Meer und die Luft dort.“
Rethers wollte gerade antworten, als ein schriller Warnton das Gespräch auseinander riss.
Moagwy wirbelte herum. Drei rote LED-Balken auf dem Board unter den Monitoren blinkten auf.
„Abfall der Lebenserhaltungssysteme im Bereich 33-7“, gab er per funk an die Techniker durch. „Sauerstoffversorgung läuft gegen Null. Elektrische Überlast in vier Containern.“

*

Carl war auch nach einer Stunde und zwei Kaffee die Müdigkeit nicht los geworden. Immer wieder fiel ihm das Kinn auf die Brust. Es schien, als führten seine Augenlider heute ein eigenes Leben.
Als der Strom komplett ausfiel, war er gerade wieder eingenickt.

*

„33-7 gesichert“, kam es über die Lautsprecher der Brücke. „Wie ist der Status?“
Moagwys Finger flogen über die Tastatur.
„Drei OverC’s sind offline. Ich versuche eine Verbindung zu überbrücken. Moment.“ Er checkte die Anzeigen und drückte dann wieder den Sprechknopf. „Alle drei sind einem Totalausfall unterlegen. Leiten Sie die Säuberung und Retechnisierung ein.“
„Okay. Daten?“, fragte der Techniker, der sich tief im Rumpf des Schiffes aufhielt.
Moagwy sah auf den Hauptbildschirm. „CV 13-33-7C, GH-23-33-7V und FK 198-33-7E.“
„CV 13-33-7C? Sicher?“
„Ja“, bestätigte Moagwy. „Unser Methusalem. Ihn hat es erwischt.“
„Roger“, meldete der Techniker. „War wohl der älteste Passagier. Schade um ihn. Okay, wir räumen auf.“
„Drei Verluste?“, fragte Rethers, der wieder an das Pult getreten war.
Gerold Moagwy nickte und sah wieder auf die See hinaus. Dreihundert Meter vor der Brücke wühlte sich der breite Wulstbug des Containerfrachters durch eine aufgewühlte See.
Rethers zuckte mit den Schultern.
„Dann sind ja 12907 Einheiten i.O.?“
„Ja“, antwortete Moagwy. „Die Prämie wird nach der Saison ab 11500 Stück gezahlt. Noch sind wir gut im Rennen.“

Letzte Aktualisierung: 02.01.2011 - 17.14 Uhr
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