Das alte Buch Mamsell
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Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Wasser | Januar 2011
Hydros wundersame Reise
von Thea Derado

„Haltet mich doch fest! Mich hat’s erwischt!“ Verzweifelt versuchte Hydro, das kleine Wassermolekül, Halt zu finden. Vergebens. „Die Zweibeinigen, die schon seit einer Weile auf uns im arktischen Eis herum trampeln, ziehen mich immer höher! Mit wird ganz taumelig. Hilfe!“
Mit schweren Geräten wurde er vorsichtig am Rande eines Bohrkerns ans Licht gezogen. Zum ersten Mal blickte Hydro in Menschenaugen. Geologen und Klimaforscher beugten sich neugierig über die lange Eis-Stange. Ablagerungen von Blei aus der Römerzeit sollten Aufschluss über die Umweltsünden früherer Kulturen geben, und eingeschlossene Blütenpollen sollten über das Klima längst vergangener Zeiten berichten.
Hydro kam nicht dazu, sich Gedanken über die Gespräche der Wissenschaftler zu machen, denn schon griffen zwei Nachbarn mit ihren Wasserstoff-Atomen wie mit kleinen Händen nach seinem Sauerstoff und klammerten sich fest. Sie formten lange Ketten und auch Röhren. Die Hohlräume machten das Eis so leicht, dass es auf Wasser schwamm. Anderenfalls würden die Seen ja bis zum Grunde zufrieren und alles Leben darin würde vernichtet.
Hydro schlitterte an der Oberfläche des frei gelegten Eises. Plötzlich fühlte er sich so lose. „Ich schwebe!“, rief er noch zurück, da dampfte er bereits ab, hinauf in luftige Höhen. Unter ihm im Meer trieben Eisschollen. Dann eine Insel mit ausgefransten Rändern.
„Island, geboren aus vulkanischem Feuer“, erklärte ihm einer, der die Erde schon mehrmals umrundet hatte.
Spät in der Nacht landeten sie auf Grönland. Das war fast wie sein altes Zuhause. Sogleich kuschelten seine Wasserstoffe mit einem fremden Sauerstoff und zauberten wunderbare Eis-Kristalle an Fensterscheiben. Ein Bub hauchte sie so lange an, bis sie wieder schmolzen.
Sogleich stürmte Hydro aus dem Haus. Jemand rief aufgeregt: „Der Gletscher kalbt!“ Gewaltige Eisbrocken donnerten in die Tiefe und klatschten ins Meer. Die Männer knurrten, das käme von der globalen Erderwärmung. Doch davon verstand Hydro nichts. Er reckte sich vorwitzig, um besser sehen zu können. Da erfasste ihn ein laues Lüftchen, trug ihn höher und immer höher.
Im Verband seines Eisbergs hatte er sich geborgen gefühlt, aber frei über der Erde zu schweben, oh, welch ein erhabenes Gefühl!

Gegen Abend kondensierten die Wassermoleküle zur Wolke. In der Reisegesellschaft wussten alle etwas zu erzählen. Woher sie kamen, was sie bereits gesehen hatten von der Erde.
Zum Landen war die Wolke noch nicht schwer genug. Sie trieben über das europäische Festland. Flüsse zogen ihre breiten Bänder durch die Länder.
„ Ich möchte auch gern einmal als Wasser gemütlich durch Wiesen fließen.“
„Da kommst du schon noch früh genug hin“, lachte ein alter Kumpane. „Einmal aus dem starren Eis befreit, taumelst du in dem unendlichen Kreislauf. Dich wird es immer geben, ganz gleich, in welcher Form. Weißt du, dass wir sehr kostbar sind? Ohne Wasser gibt es kein Leben.“
Hydro betrachtete die Erde aufmerksam. In den letzten Tagen waren die Bäume schön bunt gewesen. Nun schienen sie dieser Mode bereits wieder überdrüssig geworden zu sein. Sie warfen ihre kleidsamen Blätter ab und standen kahl im Nebel. „Warum tun sie das?“
„Das kommt auch durch uns, das Wasser. In diesem Teil der Erde wird es bald Winter. Blieben wir bis zum Frost im oberen Teil der Bäume, würden wir alles sprengen und zerstören. Also wird im Herbst kein Wasser mehr in die oberen Etagen geschickt. Auch das Gras welkt. Als ob die meisten Wesen einen Winterschlaf hielten, um im Frühjahr umso emsiger zu sprießen und auszuschlagen. Dann ist die Erde besonders schön, wenn alles Lebendige wieder begierig Wasser aufsaugt, wenn alles blüht und die Insekten sich tummeln. Aber das hat noch Zeit.“
Dunkel und steinig türmte sich vor der Wolke, in der Hydro kauerte, eine Wand auf.
„Die Alpen! Jetzt werden wir gleich schneien!“, riefen die Erfahreneren. Gegen Abend wurde es so heftig kalt, dass sich die Wassermoleküle noch dichter aneinander kuschelten und zu lockeren weißen Flocken kristallisierten. Oh, wie schön sie aussahen! Sechseckige Sterne von unterschiedlichem Muster. Als hätte ein Künstler sie geschnitzt. Hand in Hand, oder besser Wasserstoff an Sauerstoff, segelte die abenteuerlustige Bande einem neuen Abschnitt ihrer Reise entgegen. Immer lustiger und dichter tanzte der Schneeflocken-Reigen.
Den Sternen ganz nah, war die Welt so friedlich. Den ganzen Winter über würden sie hier oben auf den Bergen bleiben. Hydros neue Freunde erzählten, bis es ganz dunkel geworden war. Sie fielen in einen tiefen, wohlverdienten Schlaf.

Die höher stehende Sonne weckte im Frühjahr mit ihren Strahlen die kleinen Gesellen, und schwupp, war auch ihre Reiselust erwacht.
„Bist du schon einmal durch ein Gletschermaul gerutscht?“, fragte unternehmungslustig Hydros Nachbar.
„Ein Maul? Wie von Tieren?“
„Nicht ganz. In ein Gletschermaul kommt nichts hinein, nur heraus. Und zwar geschmolzenes Eis. Willst du mit? Das wird eine lustige Rutschpartie! Halt dich fest!“ Hui, flutschten sie durch einen Tunnel. Überirdisch, dachte Hydro, als er trotz der rasanten Fahrt über sich das leuchtende Blau durchscheinenden Eises sah. Das alles sind wir, durchfuhr es ihn stolz.
Kaum waren sie heraus aus dem Eispalast, hopsten sie gemeinsam über rund und blank polierte Steine. Die trägen Seitenmoränen standen Spalier und schauten sehnsüchtig diesem ausgelassenen Treiben zu. Sie selbst schafften kaum einen Zentimeter im Jahr. Übermütig stürzten sich Wassermassen frisch geschmolzenen Schnees und Eises durch eine enge Schlucht und verkündeten mit ausgelassenem Donnergetöse ihre Ankunft. „Aus dem Weg, was nicht festgewachsen und verwurzelt ist. Wir reißen alles mit.“
Raus aus dem Geröll, wurden sie gegen ihren Willen plötzlich in Röhren gezwängt. Zum Arbeiten! Wie das? Findige Ingenieure hatten, das Gefälle nutzend, ein Kraftwerk in den Lauf des Wassers gebaut. Mit unvermindertem Tempo schoss Hydro aus der Röhre und trieb, ob er wollte oder nicht, eine Turbine an und produzierte dabei elektrischen Strom. Bald lag auch diese Pflichtübung hinter ihnen.
Beschaulich schlängelten sie sich nun als munterer Bach durch die Wiesen und Felder. Hydro räkelte sich gerade an einer seichten Stelle, als sich ein vierbeiniges Wesen mit dickem Kopf zu ihm beugte. Mit lautem „Muh“ begrüßte es ihn, bevor sie ihn schlürfte und er in ihrem finsteren Schlund verschwand. Dass er eines Tages zu Milch werden würde, das hatte Hydro keiner an seiner eisigen Wiege gesungen! Vermischt mit Fett und Proteinen und Milchzucker kam er wieder ans Tageslicht. Durch einen Schlauch gesaugt, landete er in einem großen Stahlbehälter. Ein kleines Mädchen ließ ihn in eine Milchkanne füllen und trug ihn ganz vorsichtig zu sich nach Hause.
Wieder wurde er verschluckt. Und wieder wurde er ausgeschieden, diesmal als Träne aus den Augen des kleinen Mädchens. Ach, war das ein trauriger Abschied, als Hydro ihr sanft über die Wange rollte.
Unaufhaltsam ging seine Reise weiter. Im April prasselte er als Hagelkorn herab in einen Garten. Wieder aufgetaut, erfassten ihn wonnige Frühlingsgefühle. Seine Freunde schlüpften in Pflanzenwurzeln und kletterten in den Bäumen bis in die Knospen und Kronen hinauf.

Auch Hydro drängte es, Hochzeit zu feiern, sich zu vereinen mit einem ganz anders gearteten Molekül, einem Kohlendioxid. Ihr Brautbett war ein grünes Blatt. Ein dickes Chlorophyll segnete ihren Bund, damit die Pflanze wachsen konnte. Es verband sie mit fünf weiteren solcher Paare zu Traubenzucker, dem süßen Resultat ihrer Flitterwochen. Sie mussten sich entscheiden, ob sie in Obst als Zucker bleiben, zu Stärke oder, leicht verdreht, zu Zellulose werden wollten. Alles war begehrte Nahrung für Tiere und Menschen.
„Nein, nicht schon wieder in einen Magen! Ich will mit meiner Liebsten auf ewig zusammenbleiben!“, gelobte Hydro.
„‘Wechsel heißt das Weltschicksal‘, hat einer der berühmter Zweibeiner mal gesagt. Ich muss es wissen, ich war dabei, im Weinglas kurz vor seinem Munde.“ Einer der Älteren belehrte Hydro, dass er sich dem Weltschicksal nicht entziehen könnte. „Allenfalls wirst du jämmerlich verrotten, oder ihr werdet verbrannt. Aber immer wirst du wieder Hydro, das Wassermolekül sein“
Bis zum Sonnwendfeuer hielt ihre Ehe. Der Hitze hielt ihre Bindung nicht stand. Noch eine Weile flogen sie nebeneinander in die Höhe.
„Leb wohl, Hydro“, rief ihm das wieder freigesetzte Kohlendioxid zu. „Vielleicht sehen wir uns ja einmal wieder!“ Aber die Wahrscheinlichkeit war sehr gering.

Nach dem schwülen Tag donnerte es krachend, Blitze zuckten, und Hydro regnete heftig herab. In kleinen Sturzbächen jagte er über die Wege hin zu einem großen Fluss. Der mündete in einen Strom, und dieser ins Meer. Salzig war es da. Es erinnerte ihn an die Tränen des kleinen Mädchens.
Lange hatte er, gewiegt von den Wellen, vor sich hin geträumt, bis er ans südliche Ufer getragen wurde. Ach, war es da heiß! Das musste der Kontinent Afrika sein. Kaum angespült, hob ihn auch schon ein warmer Wind in die Luft. In einigen Landstrichen hatte es irre lange nicht geregnet. Die Erdoberfläche war ausgetrocknet, zeigte Risse und Runzeln wie im Gesicht alter Leute. Die Menschen beteten um Regen. Sie flehten zum Himmel, eine Wolke möge sich bilden.
Hydro taten sie leid. Immer wieder versuchte er, zu kondensieren, sich herabzusenken. Es gelang ihm nicht. Flugs erfassten ihn die vom Wüstenboden aufsteigenden warmen Winde und trugen ihn weiter. Immer weiter ging die Reise, ohne Unterlass. Bald war er im Grundwasser, dann wieder in Teichen oder in Wolken. Mal kam das Wasser den Tieren und Menschen zum Segen, ein anderes Mal als Sturmflut, Kummer und Verderben bringend.
Weiter, immer weiter im ewigen Kreislauf.

Letzte Aktualisierung: 27.01.2011 - 21.39 Uhr
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