Wasser | Januar 2011
| Tauwetter | von Lutz Schafstädt
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Pünktlich zum Feierabend hat Nieselregen eingesetzt. Fein zerstäubt schlägt ihn mir der Wind ins Gesicht, während ich auf dem vereisten Weg sicheren Halt suche. Ich tapse in Rinnsale, schaue mich nach dem Verkehr um – und bringe mich mit einem beherzten Schritt in den verharschten Schnee vor dem schmutzigen Schwall in Sicherheit, den die Autos vom Fahrbahnrand auf den Gehweg schleudern. Kalt spüre ich Feuchtigkeit in meine Strümpfe sickern. Bis zur Straßenbahnhaltestelle ist es nicht mehr weit.
Im Wartehäuschen drängen sich bereits die Leute. Ich schiebe mich dazwischen und sichere mir einen trockenen Platz neben der hinterleuchteten Plakatwand. Sonnengelb und meeresblau prangen mir Urlaubsfreuden entgegen und ich nutze das spärliche Licht, um nach Kleingeld für die Fahrkarte zu suchen.
Zwei Jungen stellen sich vor mich. Der Kleinere, vermutlich Erstklässler, trägt einen Schulranzen auf dem Rücken und drängt mich damit ein Stück nach hinten. Der Größere, nur wenige Jahre älter, bleibt eng neben ihm und ihre Schuhspitzen markieren die Linie, auf der die Tropfen vom Dach des Wartehäuschens niedergehen und zerplatzen.
„Sind die fett“, sagt der Kleine. Ich schließe mich den Blicken nach oben an, wo ein schmales Schneebrett über den Rand des Daches ragt, aus dem in schneller Folge dicke Tropfen fallen. „Die treffen sich da alle, schließen sich zusammen und werden riesig“, erklärt der Große. Wenige andächtige Sekunden später kommt die Erwiderung: „Stell dir mal vor, die machen das schon oben in den Wolken. Dann kommt ein Tropfen, so groß wie Afrika. Wenn der runterkracht, ersaufen wir alle.“ Der Kleine blickt zum Großen auf, in seinen Augen leuchtet die Begeisterung für seinen grandiosen Gedanken. Fast scheint es mir, die beiden weichen noch ein wenig weiter vor dem Regen zurück.
Ein älterer Mann neben mir, die Mütze bis in die Stirn gezogen, zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Unter seiner Nase hängt ein Tropfen, der bereits eine beträchtliche Größe erreicht hat und in den Urlaubsfarben des Plakates glitzert. „Das kann nicht passieren“, höre ich den größeren Jungen sagen. „Wenn ein Tropfen in der Wolke groß und schwer genug ist, regnet er schon vorher auf die Erde.“ In diesem Moment löst sich der Tropfen von der Nase des Mannes und fällt auf seinen Mantel. Ich kann ein Schmunzeln nicht unterdrücken und bedauere ein wenig, dass die beiden Jungen diesen Beweis der Schwerkraft verpasst haben.
Er ist schon ein kleines Wunder, dieser Kreislauf des Wassers, denke ich, während sich die Straßenbahn nähert, kein anderes Element macht sich auf eine vergleichbare Reise. In der Bahn ergattere ich einen Sitzplatz, mit dem Handrücken wische ich mir einen Sehschlitz auf die beschlagene Scheibe. Schon wieder Wasser, diesmal kondensiert aus den Ausdünstungen der Fahrgäste. Aus ihrem Schweiß, ihrem Atem, ihrem Niesen und Husten, ihren nassen Kleidern und Schuhen springt es auf die Scheiben, wird mir plötzlich bewusst und ich trockne mir die Hand am Hosenbein. Wolken, Regen, Quellen und Bächlein sind die romantische Sicht der Dinge. Doch das Wasser wird von allem Lebendem benutzt, als ganz normaler Teil der Reise. Natürlich. Wasser aufnehmen, Wasser ausscheiden. Auch ich trage Zeit meines Lebens dazu bei, schon immer und jetzt, was mir ein Hauchen gegen das Glas sofort beweist.
Ich schicke meine Gedanken in die Vergangenheit und stöbere nach den ältesten meiner Erinnerungen, die sich mit Wasser verbinden. Plötzlich sind sie da, verwaschene und bruchstückhafte Bilder fügen sich zu einem Erinnerungsfilm. Vor meinem Kindergarten, Jahrzehnte ist es her, stand eine Pumpe, ein grün gestrichenes, gusseisernes Ungetüm. Es brauchte immer zwei Kinder, um an das Wasser zu gelangen. Einer musste den riesigen Schwengel betätigen und für die Pumpbewegung sein ganzes Gewicht an ihn hängen, während der zweite seine zu einer Schale geformten Hände unter den Auslauf hielt, um davon zu trinken. Wir rissen uns darum, den Eimer für das Teewasser an der Pumpe zu füllen und ihn, trotz aller Vorsicht zu zweit, unablässig plempernd in die Küche zu tragen. Nach ausgiebigem Teegenuss und vor dem täglichen Mittagsschlaf wurde die ganze Truppe noch einmal vor die Tür geschickt. Für uns Jungen gab es den „Pullerbaum“, eine dicke Buche im angrenzenden Wäldchen. Rings um den mächtigen Stamm reihten wir uns auf, wetteiferten darin, unsere Markierung möglichst hoch zu setzen, prahlten mit den Rekorden größerer Brüder und waren uns einig in der Überzeugung, für das Wachsen der dichten Krone des Baumes einen wichtigen Beitrag zu leisten. Meist versickerten die Rinnsale schnell im Boden, nur an warmen Sommertagen galt es ein wenig zu tänzeln, um die Sandalen trocken zu halten, was durchaus auch einmal misslingen konnte. Im Vorraum des Kindergartens standen auf Hockern die Waschschüsseln für die Hände, mit der verlockenden Seife daneben, aus der wir prachtvolle Schaumwölkchen formten und die sich leicht zu schillernden Blasen aufpusten ließ. Das gebrauchte Wasser aus der Küche und den Waschschüsseln wurde mit Schwung unter ein Gebüsch geschüttet, das, wenige Schritte von unserem Pullerbaum entfernt, prächtig gedieh.
Lange her. Ganz normal, natürlich, naturnah war das alles damals. Erst Jahre später habe ich davon gehört, dass mein alter Kindergarten fließendes Wasser, Toiletten mit Spülung und eine Klärgrube erhalten habe. Ob es die alte Buche noch gibt? Mein Blick springt die Straßenbäume entlang, um die sich unansehnliche Schneehaufen türmen. Ein Mann mit Spaten bearbeitet eine Eisschicht, um dem Schmelzwasser einen Weg in die Kanalisation zu bahnen. Ich stelle mir vor, wie es, mit Schmutz beladen, dem nächsten Klärwerk entgegentreibt. Die von der Winterkälte gewährte Verschnaufpause für den Schnee ist vorbei, munter geht der Kreislauf in die nächste Runde.
Als ich aus der Bahn steige, hat sich das Nieseln in einen handfesten Regen verstärkt. Heute geht das Wasser aber wirklich auf Tuchfühlung mit mir. Mit wie viel davon bin ich wohl im Laufe meines Lebens schon in Berührung gekommen? Jeder Schritt liefert mir ein Stichwort für die unzähligen Gelegenheiten. Tauwetter mit Regen und Matsch gehören dazu. Wie viel Wasser ist wohl schon durch mich hindurchgegangen, habe ich getrunken und wieder ausgeschieden? Was muss es nicht alles aushalten, unser Lebenselixier.
Ich gehe die Treppe zu meiner Wohnung hinauf, öffne die Tür und freue mich über die Wärme, die mich empfängt. Ich hänge die nasse Jacke über einen Stuhl, streife die klamme Hose ab, schiebe die feuchten Schuhe an die Heizung. Als nächstes sollte ich mir eine heiße Dusche gönnen, denke ich, nehme mir in der Küche ein Glas aus dem Schrank, lasse kaltes Leitungswasser hineinlaufen.
Das Glas bereits zum Trinken angesetzt, besinne ich mich und halte es gegen das Licht der Küchenlampe. Wie viele Tropfen das wohl sind, die sich hier für meinen Durst verbunden haben?
„Na, kennen wir uns?“, flüstere ich. Auf weitere Fragen verzichte ich. Ich will gar nicht wissen, was mein Glas Wasser letzte Woche erlebt oder wo es gar vor vierzig Jahren Pause gemacht hat.
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Letzte Aktualisierung: 23.01.2011 - 22.53 Uhr Dieser Text enthält 7238 Zeichen. www.schreib-lust.de |