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Wasser | Januar 2011

"kühl bis ans herz hinan" (göte)
von Helga Rougui

I.

"hinter meinen augen stehen wasser
die muß ich alle weinen" (e. lasker-schüler)


Es war einmal eine Fee, die hieß Esmée.
Esmée-die-Fee.
Sie sammelte Perlen in jeglicher Form.

Da waren zunächst die Perlen, die eine jede Auster, sobald sie die Fee zu Gesicht bekam, willig abgab, auch wenn sie vorher noch so viel Mühe auf ihre Produktion verwendet hatte. Angesichts der Lieblichkeit ihrer irisierenden Erscheinung vergaßen die Haltemuskeln im Inneren der Molluskel ihre Pflicht, atmeten tief und sündig durch und schon rollte die Perle in eine runde, kleine Handfläche, eisige Finger schlossen sich behutsam über ihr, und sie wurde sicher in die Sammlung verbracht.

Die Fee nahm aber auch alle Perlenketten und –armbänder und –ringe und -diademe, die sie fand oder eher – die man ihr überließ. Sobald sie bei den zukünftigen Geberinnen auftauchte und sie mit ihrer fließenden luisanten Präsenz umhüllte, öffneten diese wie in Trance ihre güldenen Schatullen und sahen mit einem in nichts zu übertreffenden Glücksgefühl ihre wertvollen Schmuckstücke wie auf Engelsflügeln dahinschweben und in einem hellen, gleißenden Licht verschwinden – in dem natürlich die Fee steckte, die die Perlen sofort ihrer Sammlung hinzufügte.

Nur eines war unbedingt wichtig: die Perlen mußten ihr gefallen.
Denn jede Perle nahm sie nicht, nur die, die makellos waren: rund und mondmilchschimmerndweiß mußten sie sein.

Im Sommer schwebte sie öfter nach Italien, weil da regelmäßig die Marienstatuen in den prächtig dekorierten, überheißen Kirchen und Kapellen zu weinen begannen. Wenn es sich nicht gerade um Schwarze Madonnen handelte – von denen es aber dort nicht so viele gab -, stand die Fee neben ihnen und fing mit einer kleinen Schale aus Opal die Tränen auf, sah zu, wie sie zu Perlen erhärteten, katalogisierte sie fein nach Fundort, -zeitpunkt, Alter und Kunstrichtung der Statue und verleibte sie alsbald ihrer Sammlung ein.

Die ergiebigste, nie versiegende Quelle waren natürlich die Menschen, besonders die Frauen und Mädchen. Aber auch da war nicht jede Träne eine Perlenträne. Tränen, die aus Wut oder Furcht oder Neid – und davon gab es viele - vergossen wurden, zählten nicht, auch nicht jene falschen, die aus Selbstmitleid oder Eigennutz flossen. Nein, die reinen Tränen der unglücklich Verliebten mußten es sein, sie ergaben die größten, die reinsten, die durchsichtigsten, die traurigsten Perlen.

So saß Esmée-die-Fee an der Seite der portugiesischen Nonne, wenn sie schluchzend über ihren Briefen zusammenbrach, sie strich über die blonden schweißfeuchten Locken der Louise de La Vallière, die sich tränenüberströmt an ihren Betstuhl klammerte ob des Wissens, daß die Montespan ihr die Liebe des Königs streitig machte, sie stützte die in wildes Weinen aufgelöste Marie Duplessis, nachdem diese sich von Armand getrennt hatte… eine weiße Kamelie, halbverwelkt, fiel zu Boden und verstreute ihre süßlich duftenden Blütenblätter, Abbild der Vergänglichkeit allen Seins und auch der Liebe.

Aber immer hatte die Fee ihr opalenes Schälchen zur Hand, immer rettete sie die kostbaren Tropfen, und so wurde ihre Sammlung von Tag zu Tag größer.

Sehr traurig war, daß die Tränen, die in und um die Traumfabrik Hollywood vergossen wurden, der Fee so gar nichts nützten: sie waren wunderschön und von perfekter Eleganz, aber naßkalt und flüchtig wie ein Winternebel über dem Moor, wenn der Sturm aufkommt. Keine hielt länger als zwei, allerhöchstens drei Stunden an – den Rekord hält bis heute ein wahres Kleinod von einer überirdisch schönen Träne, bis schließlich auch sie nach zweihundertvierundzwanzig Minuten vom Winde verwehte.

Natürlich war Esmée auch im Tunnel du Pont de l'Alma, als Dodi Al Fayed der Princess of Wales eröffnete, daß er sie verlassen werde, woraufhin sie vor Kummer dermaßen aufheulte, daß der Fahrer das Lenkrad verriß und es zu einem für drei Menschen tödlichen Unfall kam. Die Tränen, die Diana dabei vergoß, waren höchst ungewöhnlich, groß wie Wachteleier und dunkellila wie ein Gewitterhimmel.

"ich färbte dir den himmel brombeer mit meinem herzblut" (e. lasker-schüler)

- Faszinierend, murmelte die Fee, und sie konnte nicht umhin, mit dem Zeigefinger leis an eine von ihnen zu tippen – als sie sodann ihre Fingerkuppe betrachtete, formte ihr Mund vor Erstaunen ein kleines o : ein winziges lila Herz hatte sich dort in die Haut gebrannt und sah nicht aus, als wolle es bald wieder fortgehn.
Aber für die Sammlung der Fee taugten die edlen Tränen nicht.


II.

"immer möcht ich auffliegen
mit den zugvögeln fort" (e. lasker-schüler)


Einige Abende nach dem tragischen Unfall, der das englische Königshaus und die Familien Al Fayed und Paul betraf, hatte die Fee gerade ihre Sammlung fertig durchgezählt – es waren dreitausenddreihundertdreiunddreißig Perlen, alle auf purpurroten und kobaltblauen Samtkissen in goldenen Schreinen ruhend -
- da wurde sie von einer seltsamen Unruhe ergriffen.
Plötzlich erschien aus dem Nichts eine Weiße Kröte, die sie noch nie zuvor gesehen hatte.
- Hallo Zauberkröte, wagte Esmée eine gemütlich integrierend gemeinte Begrüßung.
Das Krötenvieh aber war anders gepolt.
- Quatsch mich nicht von der Seite an, du Perlenjunkie! Ich hab schlechte Laune.
- Ja, das merke ich. Warum denn?
- Das erzähl ich dir gerne und sofort. Ich fang nämlich grad an, mich so was von!! über mich selbst zu ärgern. Ich sag zu mir – bist du eigentlich blöd, dauernd hinter dem Unglück der ganzen Welt herzurennen? Irgendwo heult so ne Maus, daß sie ihren hirnlosen Kuschelbären verlegt hat, und schon läufst du los mit deinem Tränensammelkit… völlig starrgefroren von all dem Rumgejanke… Wo sind denn die Freuden- und die Jubeltränen??? Nicht mal Tränen der Enttäuschung und Eifersucht sind zugelassen, auf daß man denn ein wenig Spaß hätte zwischendurch…Also, das ist alles irgendwie bescheuert!

Ob die Weiße Kröte mit dieser letzten Bemerkung noch sich oder schon die Fee meinte, war nicht genau auszumachen.
Diese aber fragte:
- Wie? Hab ich das jetzt richtig verstanden? Du sammelst auch Perlen?
- Nöö, nicht wirklich. Haste nicht gemerkt, daß ich du bin? Ja, guckst du! Ich bins höchstselbst, dein ureigenster 'Zweifel am eigenen Tun' in K.- Gestalt. Es ist bald Silvester, da wäre es Zeit, die eine oder andere muffig gewordene Gewohnheit zu ändern, meinste nicht?

"wenn nicht jetzt – wann dann?"(höhner)

Die Weiße Kröte hatte einen Moment Luft geholt, nun nahm sie den Faden wieder auf.
- Aber du!… , schnappte sie, … du!!... , fuhr sie empört fort und ihre Stimme hob sich, du bist dermaßen resistent gegenüber jeglichem noch so ohrenklingenden inneren Quaken, daß ich mich mühselig materialisieren muß, um hektische Reden haltend vor dir auf und ab zu hüpfen!!! Ich sags, wies ist, es ist bescheuert.
Und sie hüpfte noch dreimal vor Esmée auf und ab, schweigend jetzt, denn es war alles gesagt, und verschwand.
Esmée glotzte noch ein Weilchen vor sich hin und versuchte sich an irgendetwas Klingendes in sich selber zu erinnern, aber Pustekuchen. Nun, sie hatte in letzter Zeit das kleine lila Herz an ihrem Zeigefinger öfter betrachtet, hatte wohl auch mit dem Finger lustige Herzmuster auf das eine oder andere weiße Stück Papier getupft, und hinterher standen da Worte und Sätze, die sie nicht recht verstand, vermutlich auch, weil sie sich nicht die Zeit nahm, sie vernünftig durchzulesen vor lauter Perlenzählerei.

"mach was - so kanns nicht bleiben - wenn du so weitermachst bist du tot – worauf wartest du eigentlich - besser was falsch machen als gar nix machen – los jetzt!" (orla v. orbit)

Sie hatte nie darüber nachgedacht, ob all das etwas mit ihr zu tun haben könnte, und war weiter auf ihre Schnitzel-, … äh …Perlenjagd gegangen.
Aber nun war es offensichtlich an der Zeit, etwas zu unternehmen, egal, wie es enden würde.


III.

"aber du kamst nie mit dem abend
ich saß im sternenmantel" (e. lasker-schüler)


Und so schmückte sich Esmée-die-Fee, flocht ihre Haare zu dicken dunklen Zöpfen, malte ihre Lippen karmesinrot und legte ihre auserlesensten Gewänder und ihr funkelndstes Geschmeide an. Sie setzte sich in der beginnenden Ruhe der Nacht auf ihr Bett und sah, wie die Dunkelheit immer weiter herunterglitt vom Himmel und sich über die Erde ausbreitete, wie das Land sich beruhigte und schlafenlegte, wie die Vögel still und müde wurden und wie auch das Gebrumme der Lastwagen von der nahegelegenen Kiesgrube schließlich verstummte.
Da war es Mitternacht.
Und es tat sich ein silbernes Portal auf

"aber du kamst nie mit dem abend
… ich stand in goldenen schuhen" (e. lasker-schüler)


und das sprach:
- Nun hüpfet, ihr goldenen Schuhe, hüpfet und tanzt! … flink eurem Schicksal entgegen!

Und Esmée schaute hinter das Portal. Eine Treppe führte in die Tiefe, aber niemand kam herauf. Sie starrte noch eine Stunde lang auf die Öffnung, und noch eine Stunde, und noch eine.
Das Portal schloß sich nicht. Es kam aber auch niemand herauf.
Da begriff sie endlich.

Sie erhob sich von ihrem Bett, und mit vorsichtigen Schritten stieg sie langsam die ersten Stufen hinunter und sprang dann immer schneller und kühner die Treppe hinab, das Universum der Unglücklich Liebenden hinter sich lassend, dem Leben entgegen.

- Meine Tränen produziere ich ab heute selbst, egal welchen Genres und welcher Couleur! Das ganze Spektrum soll es sein. Und ich werde sie nicht sammeln, sie werden aufsteigen und kullern und trocknen, wann immer es nötig und wie das ihre Aufgabe ist,

"und sonst gar nichts" (m. dietrich)

Vive la vie! Vive la liberté! Vive l'amour! Und – warum nicht – vive la mort, parbleu!


EPILOG

Und die Sammlung von Esmée-der-Fee?
Die Sammlung war so abgrundtief untröstlich ob ihrer von nun an angesagten Nutzlosigkeit, daß alle dreitausenddreihundertdreiunddreißig Perlen sich in Wogen von Tränen auflösten.

Und so, zum ersten und letzten Mal in der Feen- und Menschheitsgeschichte, vergossen Tränen sich selbst.

"vom eise befreit sind strom und bäche" (göte, faust)

Letzte Aktualisierung: 02.01.2011 - 13.36 Uhr
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