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Wasser | Januar 2011

Uisge Beatha – Wasser des Lebens
von Jochen Ruscheweyh

„Mike Stern setzte sein Glas ab. ,Dieser Geschmack! Ich muss das Geheimnis dieses Whiskys ergründen. Koste es, was es wolle!’ Dann griff er nach Hammer und Brecheisen. Der alte Shane wollte den jungen Amerikaner zurückhalten, aber Mike hatte das Eisen bereits zwischen die Dauben des Fasses getrieben. Die ersten Holzspäne splitterten ab. Wie von Sinnen bearbeitete Mike das alte Eichenholz jetzt. Dann hatte er sein Ziel erreicht, der Rumpf öffnete sich. In seinem Inneren schwappten die letzten Reste des Malt Whiskys umher und - Mike rang nach Luft und riss sich seinen obersten Hemdknopf auf - ein dunkelrotes, durch den über 60%igen Alkohol konserviertes menschliches Herz. Der fullhearted Whisky!“, endete der bekannte Whisky-Conneuseur August Wilmbach, klappte das Buch zu und setzte seine Lesebrille ab.
„Wer mich kennt, weiß, warum ich meine Vorträge immer mit dieser Geschichte schließe. Es ist eine Warnung an Sie: Lassen Sie sich von einem Single Malt Whisky verzaubern, aber versuchen Sie nie, sein Geheimnis zu ergründen!
Ich danke der Weinhandlung Rennert für ihre Gastfreundschaft und wünsche Ihnen allen einen guten Heimweg.“

Bernhard Volkerts drängte zusammen mit den anderen Gästen nach draußen und entfaltete seinen Regenschirm im Schutze des Vordaches.
„Können Sie mich ein Stück mitnehmen, Bernhard? Sie sind doch mit dem Wagen da ... ?“
„Sicher, kein Problem, ich kann Sie auch direkt bei Ihnen zu Hause absetzen.“
Georg Büssing nickte: „Gerne, bei diesem Schmuddelwetter.“
„Mein Wagen steht dort drüben, kommen Sie.“


„Noch ein kleines Stück weiter, am Ausgang der Kurve, da können Sie mich rauslassen.“
„Richtig ländliche Gegend hier“, sagte Volkerts und brachte den Wagen zum Stehen.
„Für viele zu ländlich“, gab Büssing zurück.
Der Regen prasselte gegen die Frontscheibe. Die Wischer zogen immer wieder kleine Abschnitte tropfenfrei, scheiterten aber dennoch an ihrer Aufgabe, das Glas durchsichtig zu halten.
„So, da wären wir“, sagte Volkerts.
„Ja, angekommen“, bestätigte Büssing.
„Bleiben Sie ruhig noch einen Moment sitzen, bis es etwas nachgelassen hat.“
„Das wäre wohl besser.“
Volkerts schaltete die Innenbeleuchtung ein und dimmte dann leicht. Sie schwiegen.


„Kann ich Sie etwas Persönliches fragen, Bernhard?“, begann Büssing nach einer Weile.
„Ja, sicher.“
„Haben Sie schon einmal daran gedacht, es zu tun?“
Vor ihnen zogen die Wischer ihre Bahnen. Der Linke schlug bei jedem zweiten Lauf gegen den Metallrahmen der Windschutzscheibe.
„Was zu tun?“, fragte Volkerts.
„Haben Sie schon einmal daran gedacht, Ihren eigenen fullhearted Whisky zu kreieren?“, setzte Büssing nach.
„Was für eine absurde Frage! Natürlich nicht!“
Büssing drehte den Siegelring an seinem kleinen Finger, dann stoppte er abrupt. „Sind Sie sicher?“
„Jetzt machen Sie mal einen Punkt, Georg“, stieß Volkerts hervor. „Der fullhearted Whisky ist ein Volksmärchen, eine Fiktion und das ist auch gut so.“
„Ich frage Sie noch einmal“, entgegnete Büssing. „Sind Sie sich absolut sicher?“
Volkerts kniff die Lippen zusammen und starrte auf das Armaturenbrett seines Landrovers.
Einige Wischintervalle später sagte Büssing: „Wie lange treffen wir uns jetzt schon auf Whisky-Tastings, Bernhard? Ich denke, an die acht Jahre. Sie wissen rein gar nichts über mich. Sie fachsimpeln ab und zu mit mir und dann tauchen Sie wieder in Ihren Mikrokosmos ab. Ich hingegen bin ein Volkerts-Experte: Ich kann Ihnen genau sagen, wie Sie Ihr Nosing-Glas halten, ich erkenne allein an Ihren Gesichtszügen, ob Sie einen Speyside oder einen Lowland Malt verkosten und ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie sich Ihren Single Malt gerne mal mit einem Drop of Blood statt einem Spot of Water strecken.“
Büssing griff nach Volkerts Hand und drehte sie so, dass dessen zerstochene Fingerkuppen im Schein des Innenraumlichts deutlich sichtbar waren. „Oder sind Sie etwa Diabetiker, Bernhard?“
Volkerts zog seine Hand zurück und fixierte wieder das Armaturenbrett mit seinem Blick.
Die Scheibenwischer zogen weiter monoton ihre Bahnen. Büssing begann erneut, seinen Siegelring zu drehen und wandte sich zum Seitenfenster.

Der Regen fiel jetzt senkrecht und trommelte regelrecht auf das Dach des Landrovers.
„Da kommt ja einiges runter“, begann Büssing von Neuem. „Der vielgerühmte Edinburgher Stadtregen ist nichts dagegen ...“
„Was wollen Sie von mir, Georg?“
„Eine Antwort“, entgegnete Büssing.
Volkerts umfasste das Lenkrad mit beiden Händen. Seine Finger gruben sich so tief in den äußeren Kranz, dass seine Knöchel gelb anliefen.
„Ja, verdammt noch mal, ja, ich habe schon einmal daran gedacht. Sind Sie jetzt zufrieden?“, presste er hervor.
Ein Lächeln lag auf Büssings Gesicht, als er seinen Anschnallgurt löste und sich Volkerts soweit näherte, dass sich ihre beiden Gesichter beinahe berührten. Dann sagte er: „ Ich merke, wie du schluckst, wenn Mike sich in der Geschichte das erste Glas fullhearted Malt einschenkt; ich kann sehen, wie sich dein Adamsapfel bewegt, wenn du deinen Speichel die Kehle hinunterzwängst und ich bin mir sicher, dass du dir vorstellst, es wäre der Fullhearted.“
Volkerts schloss die Augen und rieb sich die Stirn. „Sie wissen genau, dass es immer eine Illusion bleiben wird, ein Traum. Es kann keinen fullhearted Whisky geben, weil ... weil es eben ... unmoralisch wäre, welchen herzustellen. Und jetzt Themenwechsel, ja?“
Büssing lehnte sich zurück, faltete die Hände und atmete hörbar tief ein.
„Ein Traum? Das muss es nicht bleiben, Bernhard, das muss es nicht.“

„Was haben Sie gerade damit gemeint?“, griff Volkerts das Thema nach einer Pause wieder auf.
„Wir beide sind anders als die meisten da draußen, Bernhard“, Büssing deutete aus dem Fenster. „Wir schätzen das Besondere, oder besser noch: Wir leben für das Besondere. Ich bin 57 Jahre alt und habe so ziemlich jeden Malt gekostet, der auf dem Markt verfügbar ist. Ich könnte sicherlich noch ein paar Jahre so weitermachen, aber ich habe Angst, dass sich dieses Gefühl abnutzt. Dieser Kick. Ich will abtreten, bevor das geschieht, verstehst du?“
„Jeder Malt Whisky ist anders. Es wird immer besondere Abfüllungen zu entdecken geben.“
„Ach komm, Bernhard, verkauf´ mich nicht für dumm. Ich sehe doch, dass du dich genauso getrieben fühlst wie ich.“
Büssing lehnte seinen Kopf gegen die Nackenstütze. „Ich bin gesund, ich rauche nicht, treibe ab und zu Sport und habe gute Cholesterin-Werte. Ich bin der ideale Mann für dich.“
„Denken Sie nicht einmal dran, Georg.“
„Es wäre so leicht, Bernhard. Ich würde mich nicht wehren, weil ich mir nichts sehnlicher wünsche. Die Essenz meines Lebens geht in einen wunderbaren Malt Whisky über. Ich hauche mein Dasein in einem akazienfarbenen Strom in Fass-Stärke aus.“
Büssing gestikulierte jetzt wild mit den Armen. „Ich habe gesehen, du hast deine Angelausrüstung hier im Wagen. Ein schneller Schnitt mit einem scharfen Fischmesser, ein Paar Handtücher in die Wunde und mein Herz wandert in einen deiner Köderfischbehälter. Ich habe heute einen dezenten, aber charaktervollen Springbank zum Aufgießen erstanden, ideal für die Vor-Konservierung!“
„Ich weigere mich, mir Ihren Unsinn länger anzuhören.“
„Das Felsenmeer im Sauerland, keine dreiviertel Stunde von hier. Da gibt es Erdspalten, die bis zu 100 Meter tief sind. Lass ein Stück brennendes Papier hineinfallen ...“
„Hören Sie auf, Georg!“
Büssing drückte seinen Körper durch und starrte an den Himmel der Fahrerkabine.
„Es muss heute sein. Heute ist der perfekte Tag. Exzellenter Whisky und jetzt dieser verdammte Regen. Kaum jemand unterwegs ...“
„Verlassen Sie auf der Stelle meinen Wagen!“
„Bernhard, jetzt beruhige dich doch erstmal wieder ... .“
„Ich meine es ernst. Raus!“
Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, stoppte der Regen plötzlich.
„Ich hatte geglaubt ...“, begann Büssing.
Volkerts schaltete die Wischanlage ab und legte beide Arme auf das Lenkrad.
Büssings Mundwinkel zitterten. „Ich hatte ...“
Dann verstummte er.

Die Scheibenwischer hatten mittlerweile ein transparentes Feld geschaffen, das den Blick auf die Straße vor ihnen freigab, durch die ein leichter Wind wehte. Zu schwach, um das feuchte Laub auf dem Gehweg emporzuheben und fortzutragen oder die Stille, die sich jetzt im Wageninneren ausbreitete, zu übertönen. Einzig das Ticken der Uhr, dessen Schall sich über das Armaturenbrett fortsetzte, war zu vernehmen, mechanisch, präzise und konstant.
Büssing band seinen dünnen Kaschmirschal neu und knöpfte seinen Mantel zu. Er blickte zu Volkerts hinüber.
„Diese Sache ...“, begann er, „ich meine, was gerade geschehen ist ... worüber wir gesprochen haben, wird doch nicht zwischen uns stehen, oder?“
Volkerts richtete sich auf. Dann schüttelte er kurz den Kopf.
„Gut“, sagte Büssing, „das ist gut ... sehen wir uns nächsten Donnerstag beim Tasting in Frankfurt?“
„Ja“, antwortete Volkerts, „wir sehen uns.“
„Gut.“
Büssing öffnete die Tür und stieg aus. Ein letztes Mal beugte er sich in den Fahrerraum. „Und danke noch mal, Bernhard für ... das Reden ... und Ihr ... Ihr Verständnis.“ Dann warf er die Tür zu.
Volkerts nahm seine Hände vom Lenkrad. Sie zitterten. Er öffnete das Handschuhfach und zog einen Metall-Flachmann hervor. Seine Finger gehorchten ihm kaum, als er den Verschluss aufschraubte und zwischen seine Oberschenkel klemmte. Aus der Brusttasche seines Tweed Jackets holte er eine Injektionskanüle. Beim dritten Versuch gelang es ihm, die Schutzhülle abzustreifen; ein kurzer Stich, ein hängender Blutstropfen an seiner Mittelfingerkuppe. Er quetschte das Gewebe mit Daumen und Ringfinger und ließ den Tropfen in den umgedrehten Verschluss fallen. Dann füllte er mit Malt Whisky auf und führte das kleine Behältnis vorsichtig an seine Lippen.
Einen Augenblick später ging sein Atem gleichmäßiger.
In einiger Entfernung vor ihm: Georgs Umrisse; undeutlich, beinahe eins geworden mit der schlecht beleuchteten Straße.
„Verdammt!“, zischte Bernhard und schlug auf das Lenkrad.
Dann blickte er wieder nach vorne. Wie von selbst fand seine Hand den Zündschlüssel.

Letzte Aktualisierung: 14.01.2011 - 19.45 Uhr
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