Diese Seite jetzt drucken!

Wasser | Januar 2011

Die Brandungssoftware
von Till Kurbjuweit

Endlich ist der Chef mal nicht da. Endlich kann ich mal die Puppen tanzen lassen, also zum Beispiel das Hallenbad fluten. Softwaregesteuert. Mehrfach habe ich das vorgeschlagen, aber immer hat der Alte es abgelehnt: noch zu früh, noch nicht reif und so weiter. Wir müssen noch am Programm feilen etc. Immer diese uncoolen altherrenmäßigen Bedenken. Ich verstehe gar nicht, dass es ihn nicht reizt, das Programm endlich mal auszuprobieren. Vier Monate sitzen wir da jetzt dran. Es soll der große Hammer werden und der Chef hofft, es an diverse große Hallenbäder und Wellnesseinrichtungen verkaufen zu können. Unser Programm soll aus einem gewöhnlichen Hallenbad ein Brandungserlebnis machen. Da müssen zwar ein paar neue Rohre und einige Pumpen installiert werden, aber das Hauptding ist halt unsere Software. Die besteht aus mehreren Modulen, ich habe immer nur an einem der Module arbeiten dürfen. Das Zusammenspiel im Gesamtprogramm hat sich immer der Alte vorbehalten. Als ob er auch nur eine Winzigkeit besser im Programmieren wäre als ich. Er behandelt mich immer noch wie einen Lehrling, und das ärgert mich.

So, aber heute ist er außer Haus. Ganztägig. Da habe ich freies Spielfeld. Es juckt mich in den Fingern, die Software in unserem Simulationsbecken auszuprobieren. Und ich werde es verdammt noch mal tun. Schade, dass das Becken leer ist, sonst könnte ich sofort mit dem Brandungsprogramm anfangen, aber so muss ich es erst einmal fluten, was schon mal eine Weile dauern wird.
Ich muss mir jetzt zunächst Zugang zum Gesamtprogramm verschaffen. Der Chef denkt natürlich, dass ich das nicht kann. Er weiß nicht, dass ich im Genius-Hackerclub bin. Erst seit Kurzem zwar, aber wie ich in die Festplatte des Alten reinkomme, das weiß ich schon. Ich muss nur aufpassen, dass ich auf seiner HD nichts verändere, sonst wird er argwöhnisch.

Ratz-fatz bin ich drin und suche das Gesamtprogramm,. Ah, da ist es schon. Aquamiracle 5.1 hat er es genannt. Voll kryptisch, ich muss grinsen. Ich kopiere Aquamiracle auf die Festplatte meines Laptops, das dauert nur zwanzig Sekunden. Und schon kann es losgehen. Wasser marsch. Mit dem aufgeklappten Schoßrechner in der Hand gehe ich runter ins Hallenbad. Schon auf der Treppe höre ich es mächtig rauschen. Das Wasser läuft. Und wie! Prächtig. Ich tippe etwas ein und schon beginnt es stoßweise zu fließen. Klappt super. So, und jetzt die Brandung. Ich tippe den Code ein, wow, es brandet. Das Programm wird ein Renner, das weiß ich jetzt schon. Könnte es jetzt schon sein, wenn der Alte nicht so ein zögerlicher Schisshase wäre.

Es macht richtig Spaß, mit dem Wasser zu spielen. Komme mir vor wie ein kleiner Gott. Aber das Becken hat sich überraschend schnell gefüllt, es wird Zeit, den Zulauf zurückzufahren. Ich tippe den Code ein. Keine Veränderung. Es strömt mit voller Gewalt weiter. Habe ich mich vertippt? Ich tippe den Code noch mal ein. Es rauscht weiter. Oh Mann, Scheiße, was mache ich falsch?
Die schäumende Wasseroberfläche liegt jetzt keine Handbreit unterm Beckenrand. Wenn ich es nicht gestoppt kriege, läuft es über. Aus meiner linken Augenbraue rollt ein Schweißtropfen in mein Auge. Ich fühle, dass meine Ohren heiß werden.

Verdammte Kiste, was ist los, warum macht das Programm nicht, was es soll? Vorsichtshalber gehe ich zurück auf die unterste Treppenstufe, denn das Wasser beginnt gerade, über den Beckenrand zu schwappen. Da höre ich am oberen Ende der Treppe die Tür klappen.
Au weia, der Chef! Erleichterung mischt sich mit Schiss. „Dr. Wulferding“, rufe ich panisch, „ich kriege das Wasser nicht aus!“
Wortlos stellt sich der Alte neben mich, wortlos nimmt er mir den Laptop aus der Hand, wortlos tippt er einen Code ein. Einen, den ich nicht kenne. Im selben Augenblick hört der Wasserzufluss auf. Gerettet. Ich atme tief durch. Aber ich weiß auch, dass der Alte mich jetzt zusammenscheißen wird. Nach allen Regeln der Kunst.
Dr. Wulferding bleibt auffallend ruhig. Er schaut mich durchdringend an.
„Der Code, den Sie eingetippt haben“, sagt er kühl, hat auf meinem Handy einen Alarm ausgelöst, der mir sagt, dass jemand in meine Festplatte eingedrungen ist. Gut, dass Sie es waren und niemand von außen. Nun weiß ich, was ich ändern muss. Dankeschön.“

Letzte Aktualisierung: 27.08.2016 - 13.26 Uhr
Dieser Text enthält 4299 Zeichen.


www.schreib-lust.de