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Wasser | Januar 2011

Tief
von Jule Anders

Als Elli hochblickte und ihm in die Augen schaute, wusste sie, dass er es wusste. Sie versuchte erst gar nicht, ihm etwas vorzuspielen und blieb, wo sie war: In der hintersten Ecke ihres Bettes, die Beine an den Körper gezogen und ihre Arme um die Knie geschlungen. Sie wippte leicht nach vorne und hinten, um sich zu beruhigen. Pitty hatte offensichtlich etwas sagen wollen, als er in ihr Zimmer gekommen war. Aber als er sie dort sitzen sah, hielt er inne, setzte sich vorsichtig auf ihre Bettkante und sagte nur leise „hey“ zur Begrüßung.

„Hey“, antwortete sie und war über ihre Stimme erschrocken, die seltsam dünn klang. Sie musste nicht in den Spiegel schauen, um zu wissen, dass sie blass aussah.

„Ich habe gleich um zwei ein Seminar, aber ich kann jetzt nicht in die Uni gehen.“ Elli merkte, wie ihr die Tränen kamen und sie presste ihre Lippen aufeinander, als ob das helfen könnte, sie zurückzuhalten.

„Nein, das kannst du nicht, aber das ist auch egal. Wer mit glatten Einsen durch die bisherigen Klausuren spaziert ist, sollte gar nicht zu jedem Seminar gehen. Gib den anderen doch auch mal `ne Chance.“ Pitty zog sich seine Schuhe aus, setzte sich quer auf das Bett und lehnte seinen Rücken an die Wand. Er saß einfach nur da, mit einem Loch in seiner linken Socke, und Elli war froh darüber. Sie hatte sich nicht getraut, ihn zu rufen, als es losgegangen war.

Nach einer Weile fragte er: „Möchtest du darüber reden?“

„Ich kann grad‘ nicht Pitty. Ich kann nicht klar denken, ich kann nur fühlen. Mein alter Bekannter Müller hat mich ganz schön im Griff.“
Der Angst einen Namen zu geben und sich über sie lustig zu machen – auf die Idee waren Pitty und Elli gekommen, als sie das letzte Mal in ein schwarzes Loch gefallen war. Ein Allerweltsname war genau der richtige für diese Angst. Sie sollte bloß nicht meinen, etwas Besonderes zu sein.

„Ok, kein Problem, dann rede ich fürs Erste und erzähle dir etwas, was du schon weißt: Sag‘ Müller, er soll `ne Fliege machen, denn deine fiese Stimmung ist komplett unbegründet. Fehlalarm, sozusagen. Denk‘ dran: Bislang ist nie das eingetreten, worüber du dir Sorgen gemacht hast!“

Elli wusste, dass Pitty Recht hatte, aber ihr Gefühl sagte ihr etwas Anderes. Sie hatte so große Angst, weil sie … nein, sie wollte gar nicht darüber nachdenken, dann würde es nur schlimmer werden. Mal half darüber reden, mal nicht.
Ihr war ein bisschen übel und ihr Herz klopfte zu schnell. Sie legte ihren Kopf auf die Knie, schloss die Augen und schaukelte weiter, vor, zurück, vor, zurück, vor … sie durfte sich da nicht hineinsteigern. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihr Verstand Müller in seine Schranken wies. Manchmal, wenn er wieder Leine gezogen war, konnte sie Müller sogar mit Humor nehmen.

„Bleibst du noch ein bisschen hier sitzen, Pitty?“, fragte sie, ohne ihre Augen zu öffnen.
„Klar, was glaubst du denn? Ich mag es in deinem Zimmer. Das ist immer so schön aufgeräumt, im Gegensatz zu meinem.“

Pitty und sie lebten seit drei Jahren zusammen in einer WG, aber sie kannten sich seit ihrer Kindheit. Er hatte in ihrer Nachbarschaft gewohnt, sie waren zusammen in den Kindergarten und später zur Schule gegangen. Andere Freunde kamen und gingen, Pitty und Elli waren gesetzt. Ellis Freundinnen warteten darauf, dass Pitty und sie irgendwann im Bett landen würden, aber den Gefallen würde sie ihnen nicht tun. Und sie war überzeugt, dass Pitty genauso dachte.

„Weißt du, Müller hat sich gerade ganz schön breit gemacht, in meinem Kopf. Ich glaube, ich möchte einfach nur hier sitzen bleiben. Irgendwann werde ich bestimmt müde …“
Elli löste sich für einen kurzen Moment aus ihrer eigenen Umarmung und schüttelte ihre Hände aus, in der Hoffnung, dass sie damit auch ein bisschen von Müller abschütteln konnte. Es funktionierte nicht.

„Das ist ein selten doofer Plan, Elli. Ich habe einen besseren. Wo sind deine Gummistiefel?“

„Was?“

„Wir brauchen deine Gummistiefel“, Pitty sprang vom Bett, öffnete ihren Schrank und steckte seinen Kopf hinein. „Sind die hier irgendwo?“, hörte sie ihn von innen fragen.

„Ja, könnte sein, hinten unten auf dem Boden …“

Nachdem Pitty einige Kleidungsstücke, einen Tennisschläger, eine Luftpumpe und eine Sporttasche auf Ellis Teppich geschmissen hatte, tauchte sein Oberkörper wieder aus ihrem Schrank auf und er hielt triumphierend ein Paar gelbe Gummistiefel in die Luft: „Mensch, 1 A Gummistiefel, wie von früher! Passen die dir noch?“

„Ich denke schon, aber was hast du vor? Ich will jetzt nicht rausgehen …“

„Da wo wir hingehen, werden auch nur wir sein. Wir bauen einen Damm!“

„Bitte was?“

„Erinnerst du dich an den kleinen Wald hinter unserer Siedlung damals?“

„Ja, klar. Im Winter sind wir da immer die Hügel mit dem Schlitten runtergefahren.“

„Genau. Und durch diesen Wald läuft ja ein kleiner Bach. Wenn es mir mal nicht gut ging, weil ich `ne Fünf in Mathe hatte oder meine Eltern mir auf die Nerven gegangen sind, bin ich zu dem Bach spaziert und habe einen Damm gebaut. Das war mein Geheimrezept gegen schlechte Laune. Da staunst du, was? Jaha, es gibt immer noch Dinge, die du nicht von mir weißt“, Pitty zwinkerte Elli zu. „Dämme zu bauen, ist eine schwierige Angelegenheit, da muss man sich verdammt konzentrieren. Und wenn man sich darauf konzentriert, bleibt kein Platz mehr für Scheiß Mathe oder Müller in deinem Kopf. Also, runter vom Bett, rein in die Gummistiefel!“

„Pitty, ich …“

„Wenn du jetzt nicht runter vom Bett kommst, hole ich dich.“ Pitty machte einen Schritt auf das Bett zu und fuchtelte bedrohlich mit den Armen in ihre Richtung. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es schwierig, ihn davon abzubringen, das wusste sie aus jahrelanger Erfahrung. Sie kroch langsam aus ihrer Ecke hervor, setzte sich auf die Bettkannte und blickte Pitty an. „Sag mal, was wolltest du eigentlich eben, als du in mein Zimmer gekommen bist?“, fragte sie, während sie in ihre Gummistiefel schlüpfte.

„Ach, ich wollte mir Papier ausleihen, ich muss noch was ausdrucken, aber das kann bis heute Abend warten.“ Er blickte aus dem Fenster. „Das ist der perfekte Nachmittag, um einen Damm zu bauen.“

Elli schaute in den grauen September-Himmel und wusste nicht, was daran perfekt sein sollte. Sie beneidete Pitty um seine Art, mit den Dingen umzugehen, diese Unbekümmertheit! Sicher, sie wusste, er hatte andere Macken. Aber ob die ihm so viel Energie raubten wie Müller das manchmal bei ihr tat?

„Hier, das ziehst du besser an, es ist ein bisschen frisch draußen.“ Pitty schmiss ihr einen Pulli zu, der auf ihrem Kopf landete. Sie nahm ihn, zog ihn über und versuchte ihr Haar zu ordnen. Wahrscheinlich ohne Erfolg, aber das war ihr egal.

„Ok, dann los“, er zog sie an der Hand vom Bett hoch, schlüpfte im Flur in alte Turnschuhe („ich hab‘ leider keine Gummistiefel, aber das geht schon“) und schob sie auf die Straße. Nach einem kurzen Fußweg kamen sie zu einem kleinen Waldstück, an dem Elli zwar schon häufig vorbeigejoggt war, aber der Bach im Inneren des Waldes war ihr noch nie aufgefallen.

„Hast du schon mal einen Damm gebaut?“

„Ähh …“

„Also, pass auf: Wir brauchen als erstes jede Menge Steine, am besten mit einer geraden Oberfläche, so dass man sie gut aufeinandertürmen kann. Wir können auch noch Äste sammeln, die kann man zwischen die Steinschichten legen, um das Ganze zu begradigen und zu stabilisieren. Ich sammele auf der linken Bachseite und du auf der rechten, ok?! Los geht’s!“

Elli spazierte langsam am Bach entlang, schaute auf ihre gelben Gummistiefel und atmete tief ein und aus. Sie blieb für einen Moment stehen und schloss die Augen. Die frische Luft tat gut und ihre Übelkeit ließ nach. Aber da war noch diese graue Wolke über ihrem Kopf, die sie irgendwie traurig und lustlos machte. Nach Angst kam Erschöpfung. Keine schöne Erschöpfung, wie man sie nach dem Sex oder Sport spürte. Es war Erschöpfung, die eng befreundet war mit Resignation und Traurigkeit. Verpiss dich, zischte Elli ihr zu, aber die Erschöpfung lächelte nur müde in sich hinein.

„Wir brauchen Steine, Elli, viele Steine“, riss Pitty sie aus ihren Gedanken.

„Ja, ja, ich bin ja schon dabei“, murmelte sie und bückte sich, um nach ihnen zu suchen. Das Wasser war kalt, als es über ihre Finger lief. Sie mochte das Plätschern des Baches, das hatte etwas Beruhigendes. So beruhigend, dass ich bestimmt gleich aufs Klo muss, dachte Elli.

Als sie genügend Baumaterial gesammelt hatten, begannen sie, die Steine in den Bach zu legen, Pitty von der linken Seite, sie von rechts. „Lass uns unten eine gute Basis bauen, mit möglichst großen, flachen Steinen.“ Elli schmunzelte über Pittys Eifer, einen wirklich guten Damm zu bauen.

Sie setzte einen Stein neben den anderen, bis sie in der Mitte auf Pittys Teil des Damms traf, dann fing sie die nächste Reihe an. Manche Steine hatten wirklich schöne Formen oder interessante Muster. Sie merkte, dass sie ihre Gedanken langsam wieder auf andere Dinge lenken konnte. Elli fragte sich, wie alt diese Steine wohl waren und in wessen Händen sie bereits gelegen hatten. Zwischendurch hörte sie Pitty mit halbem Ohr zu, der belangloses Zeug erzählte. Es tat ihr gut: Das Schwatzen von Pitty, das Plätschern des Baches, das Stein auf Stein auf Stein legen …



Wie spät ist es eigentlich? Elli konnte nicht länger in der Hocke sitzen, ihre Beine fühlten sich steif an. Ich werde alt, als Kind hätte ich stundenlang so hocken können. Sie stand auf, schüttelte ihre Arme und Beine aus und betrachtete den Damm aus Ästen und Steinen zum ersten Mal bewusst.

„Pitty…“

„Ja?“

„Das funktioniert nicht mit dem Damm.“

„Doch, ich glaube schon …“

„Aber da staut sich kein Wasser an, das läuft alles durch …“

„Geht’s dir besser?“

„ Ja, aber …“

„Dann hat’s funktioniert!“, strahlte Pitty.

Letzte Aktualisierung: 14.01.2011 - 19.43 Uhr
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