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Wasser | Januar 2011

Wasser bis zum Hals
von Corinna Duy

Tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf…
Sie streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht und dreht sich auf die andere Seite, nur ein paar
Minuten Schlaf würden schon reichen. Aber dieses monotone Klopfen erinnert an das Ticken der
Uhr und macht mahnend klar, wie schnell wertvolle Zeit verrinnt. Sie bemüht sich kommende Gedanken wegzuschieben. Genervt erhebt sie sich, geht zum Wasserhahn und dreht ihn mit
aller Kraft bis zum Anschlag. Ruhe… endlich! Bevor sie sich wieder hinlegt, öffnet sie das Fenster, keine vorbeirasenden Autos, kein Hundegebell, keine spielenden und schreienden Kinder. Sie atmet die frische Luft besonders tief und schließt die Augen.

Tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf…
Die Sonne bringt die Eiszapfen zum Schmelzen, wie glitzernde Diamanten fallen sie zu Boden
und erzeugen dabei genau den Ton, der sie dazu bewegt das Fenster doch wieder zu schließen.
Mit einem tiefen Seufzer tut sie dies, denn sie ahnt, dass sie nun eh viel zu wach ist um erneut einzuschlafen.

Tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf…
Diesmal ist es der defekte Heizkörper, es ist wie eine Verschwörung, als müsse sie fliehen um
diesem Geräusch zu entkommen. Was in aller Welt war mit ihr passiert? Melancholie macht sich breit. All ihre Träume und Wünsche, was war die Wurzel der Verzweiflung?
An welcher Kreuzung hatte sie den falschen Weg eingeschlagen?

Tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf….
Nun sind es ihre Tränen.
Aus den Tropfen werden winzige Bäche, kleine Flüsse und schließlich ein reißender Strom. Ihr Körper bebt, so musste es ja kommen, mal wieder in Selbstmitleid ertrinken.
Aber genau das tut verdammt gut. Alles Wesentliche verschwimmt, sie gibt sich ihren Illusionen hin.
Den Computer runter fahren, weg mit dem Error, Neustart in ein perfektes System…
Es gibt nur ein Entkommen.

Tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf…
Die Wodka Flasche ist eiskalt.
Das scheint die Lösung wenn sie in ihren Tränen schwimmt. Auf das leere Gefühl, folgt die Wut.
Alle, alle sind Schuld nur sie selbst nicht. Ein Schluck, ein zweiter und nach dem dritten wird ihr endlich wärmer. Ein Glas, ein zweites, langsam schwinden die trüben Gedanken. Sie springt auf, dreht das Radio voll auf und tanzt, erst ganz langsam dann immer schneller und wilder.

Tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf…
Blut… Sie hat in ihrer Tanzwut mit den Armen den Spiegel von der Wand gerissen.
Das Bild von ihr war sowieso nie schön anzusehen. Mit dem Fuß hat sie die Scherben erwischt.
Im Moment tut es gar nicht weh. Geschieht dem Zerrbild ganz recht das es nun in Scherben auf dem Boden liegt. Was er gezeigt hat, war doch nicht sie. Niemals. Von wegen Putzfrau mit strähnigem Haar und fahler, ungepflegter Haut.

Tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf…
Schweißperlen rinnen von ihrer Stirn, bevor es ganz schwarz vor ihre Augen wird und das Versagen ihrer Beine, sie unsanft auf den Boden fallen lässt. Der allabendliche Kreis schließt sich. Diesmal ist ihr Traum anders als je zuvor.

Tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf…
Wunderschöne Schneeflocken tänzeln majestätisch auf die Erde zu, doch bevor sie den heißen
Wüstensand erreichen, schmelzen sie. Der Schneemann weiß, ihm bleibt nicht mehr viel Zeit und so läuft er immer schneller. In einer Hand trägt er den fast verdursteten Fisch im Glas, mit der anderen hält er die brennende Fackel hoch. Es steht so viel auf dem Spiel. Schon kann er das Salz schmecken, als er kurz stehen bleibt um zu verschnaufen, sieht er das fast vertrocknete Schneeglöckchen vor seinen Füßen. Behutsam hebt er es auf und legt es zum Fischchen in das Glas. Die Sonne wird ihn nicht besiegen. Mit allerletzter Kraft erreicht er den rettenden Ozean. Er setzt sich auf die Eisscholle und treibt davon.

Tropf, tropf, tropf, tropf, tropf, tropf…
Endlich wacht sie auf. Instinktiv geht sie zum Wasserhahn, aber dieser ist fest zugedreht und lässt keinen Tropfen entweichen. Sie öffnet die Tür um nachzusehen ob jemand geklopft hat. Merkwürdig.
Als sie zurück ins Zimmer geht fällt ihr Blick auf den heilen Spiegel an der Wand. Er zeigt eine junge, schöne Frau mit wachen Augen. Argwöhnisch betrachtet sie ihren Zeh, der unversehrt scheint.
Vor ihren Füßen liegen drei Fotos. Das erste zeigt sie mit ihrem Vater, sie ist ungefähr sechs Jahre alt, sie stehen vor einem Schneemann, es war ein traumhafter Tag. Das zweite Bild zeigt ihre Mutter mit einem Strauß Schneeglöckchen, den hatte sie ihr gepflückt. Fast kann sie ihre warme Umarmung spüren, ein wohliges Gefühl durchströmt sie. Auf dem dritten Bild erkennt sie ihre Großeltern, die stolz vor dem neuen Aquarium stehen. Sie vermisst sie schmerzlich, doch da… der kleinste Fisch im Becken zwinkert ihr zu. Fest drückt sie die Fotos an sich und plötzlich scheint alles ganz einfach. Sie lächelt, denn auf einmal hat sie die Botschaft verstanden.

Tropf, tropf, Tropfen auf den heißen Stein….

Letzte Aktualisierung: 15.01.2011 - 13.07 Uhr
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