Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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Jubiläum | Februar 2011
Ihr hundertster Geburtstag
von Ingeborg Restat

Dora Helmer erwacht in einem Zimmer des Senioren- und Pflegeheims „Abendruh“. Zuerst öffnet sie nur ein Auge, schaut zum Fenster und blinzelt in helles Licht. Was für ein Morgen! Strahlender Sonnenschein umhüllt das Heim inmitten seines parkartigen Gartens. Üppig blühen die Rosen zu dieser Jahreszeit und ihr Duft zieht durch das einen Spalt breit geöffnete Fenster herein. Sie atmet tief ein und murmelt: „Wirklich! Ich lebe ja immer noch.“
Die Tür fliegt auf. Schwester Katrin kommt herein. „Guten Morgen, Frau Hellmer, heute ist Ihr großer Tag. Herzlichen Glückwunsch zum Hundertsten.“ Damit tritt sie an ihr Bett, zieht die Bettdecke weg und hilft ihr, sich aufzurichten.
„Ja, ja! Morjen!“, brummt Dora.
„Was denn, schlecht geschlafen?“
„Häh?“
„Aha! Ihr Hörgerät noch nicht im Ohr.“
„Häh!“
„Das Hörgerät!“, sagt Katrin lauter, nimmt es vom Nachttisch und reicht es ihr.
Dora legt es an.
„Und nun überlegen wir …“
„Häh!“
Fast unmerklich seufzt Katrin. „Auch anstellen, Frau Hellmer! Das Hörgerät auch anstellen“, ruft sie lauter.
„Ach so!“ Dora stellt es an. Da sitzt sie nun, die Jubilarin und schaut an sich hinunter. „Alles hängt. Nur noch faltig gewordene, hängende Haut“, murmelt sie und zupft an sich herum.
Katrin lacht. „Was verlangen Sie? Auch Ihre Haut ist hundert Jahre alt.“
„Wozu bloß? Dauert schon viel zu lange. Müsste nicht sein.“
„Unzufrieden? Kommen Sie, jetzt werden wir Sie erstmal für Ihren Ehrentag fein machen. Danach fühlen Sie sich bestimmt gleich besser“, sagt Katrin und geht zum Kleiderschrank. „Und was ziehen wir zu Ihrem Festtag an?“
„’ne frische Windel!“, murmelt Dora.
„Oh, Frau Hellmer! Heute zu Scherzen aufgelegt? Wie schön! Also, was meinen Sie zu …“
„’ne Windel!“, beharrt Dora.
„Ja, sicher, wie immer, aber schauen Sie hier, dieses Kleid wäre gut.“
„Nein!“
„Nicht? Schade! Vielleicht diesen Rock und diese Bluse?“
„Nein. Erst die Windel, dann meine lange Hose und den blauen Pulli.“
„Aber doch nicht heute, das tragen Sie alle Tage.“
„Na und? Darin fühle ich mich wohl.“
Der Kampf zieht sich noch eine Weile hin. Am Ende einigen sie sich auf eine schwarze Hose und dazu eine festliche Bluse. Die Schwester hilft ihr beim Ankleiden.
Vor den Zimmern in den Gängen wird es unruhig. Aus vielen Türen kommen sie heraus, die Alten, die man jetzt Senioren nennt. Jeder verbringt hier die letzte Zeit seines Lebens. Einige laufen langsam, krumm auf einen Stock gestützt, während andere einen Rollator vor sich her schieben auf dem Weg zum Frühstücksraum. Grau sind sie alle in einem langen Leben geworden. Auch Theo, der auf Dora wartet. Ein warmes Lächeln zieht über ihr faltiges Gesicht, als er sie umarmt und ihr gratuliert. Die Unzertrennlichen nennt man diese beiden hier, die eine späte Freundschaft verbindet.
Die Gänge beginnen sich zu leeren, als sie miteinander zum Fahrstuhl gehen, er schwer auf seinen Stock gestützt und sie mit kleinen Schritten hinter ihrem Rollator.
Als sie in die Nähe des Frühstücksraumes kommen, hören sie bereits das Geschirr klappern, aber wie üblich, kaum ein Gespräch. Sie treten ein und sofort stimmt irgendjemand „Happy Birthday“ an. Einige, die hier um die vielen Tische sitzen, singen mit. Andere stehen auf, umringen Dora und wünschen ihr Glück. Eifrig laufen Helferinnen umher und bedienen sie heute an ihrem mit Blumen geschmückten Platz besonders aufmerksam.
Nach dem Frühstück reicht die Zeit gerade noch für den Frisör. Hier werden ihre dünnen grauen Haare in kleine Löckchen gedreht, damit sie fülliger wirken.
Und dann kommen sie alle, die Töchter, schon selbst an Jahren, die Enkel, Urenkel und Ururenkel mit ihren Kindern. Unruhig laufen die Kleinen davon um die Festtafel herum. Auch die Heimleitung, der Bürgermeister und der Pfarrer kommen vorbei. Alle reden von einem wunderbaren Alter, das Dora erreicht hat und loben, dass sie dabei noch so gut beieinander ist. Sie alle feiern den unglaublichen hundertsten Geburtstag, der wenigen beschieden sei, wie der Pfarrer sagt, ehe er kräftig an der Tafel zulangt.
Dora schaut sich um. Sie weiß längst nicht mehr all die Namen von denen, die hier sitzen und zu ihrer Familie gehören. Aber an einen denkt sie, der heute nicht dabei ist.
Fünfzehn war sie gewesen, als sie sich in die tiefblauen Augen eines Jungen verliebte und ihr erster Versuch in der Liebe gleich Folgen hatte. Oh, diese Schande damals! Ihre Großeltern, bei denen sie aufwuchs, waren außer sich. Aufs Land wurde sie geschickt, dahin, wo sie niemand kannte. Dort brachte sie einen kleinen Jungen zur Welt. Noch heute tut es ihr weh, wenn sie daran denkt, wie man ihr das Kind aus den Armen gerissen hatte. Wo er wohl jetzt sein mag? Ob er noch lebt?
Die Tafel ist beendet. Gruppen bilden sich. Man hat sich viel zu erzählen, wann trifft diese große Familie schon einmal so zusammen?
Dora kommt sich vor, als gehöre sie längst nicht mehr dazu. Alles, was diese Menschen bewegt, ist ihr fremd. Sie neigt sich Theo zu, der neben ihr sitzt. „Komm, nimm ein paar Scheiben Brot, lass uns zum Teich gehen und die Goldfische füttern“, sagt sie und steht auf.
„Aber …“ will Theo einwenden.
Doch Dora meint: „Schau dich um. Lass sie feiern. Die brauchen uns nicht dazu. Sie werden nicht merken, wenn wir verschwinden.“
Und wirklich, niemand schaut ihnen nach.
Draußen auf der Bank am Teich mahnt Theo: „Aber alle sind deinetwegen gekommen, so eine große Familie und keiner fehlt. Ist das nicht wunderbar?“
„Theo, was nützt es? Wen kenne ich wirklich noch davon? Heute Abend sind sie alle wieder fort in ihr eigenes Leben und ich bin für sie nicht mehr, als ein Wesen aus der Vergangenheit, bei dem es egal ist, ob es noch lebt oder nicht. Nein, ab achtzig sollte man keinen Geburtstag mehr feiern. Bis dahin kann man den normalen Niedergang des Lebens gerade noch verkraften, danach wird er schmerzhafter mit jedem Jahr. Der Preis an Lebensqualität ist hoch für ein langes Leben.“
„Stimmt“, sagt Theo und wirft den Fischen eine Hand voll Brocken ins Wasser. Gierig erscheinen die kleinen Fischmäuler an der Oberfläche. Brocken für Brocken schnappen sie sich und jeder versucht, dabei die meisten zu ergattern.
„Siehst du, das ist das Leben. Darum geht es“, sagt Dora und weist auf die Fische. „Und worum geht es bei uns? Uns bewegt nur die Frage, wie lange noch, wann können wir endlich damit aufhören.“
Schritte knirschen auf dem Kies des Weges.
Eine Tochter kommt heran. „Mama, was macht ihr hier? Ihr werdet vermisst und gleich kommt noch eine Überraschung für dich“, ruft sie vorwurfsvoll.
„Ja, ja, ist ja gut! Wir kommen schon“, erwidert Dora und erhebt sich. Auf dem Weg zurück schaut sie auf ihre Tochter neben sich. „Dein Rücken wird auch immer krummer. Und humpelst du?“, fragt sie direkt.
„Meine Knie, Mama, ich hab es mit den Knien wie Papa. Weißt du noch?“
„Ach ja! Lange ist es her. Und jetzt du …?“
„Wir werden auch älter.“
Noch ein kritischer Blick zur Seite. „Man sieht es.“
„Aber, Dora!“, mahnt Theo.
„Lassen Sie nur, meine Mutter kann nicht anders.“
„In meinem Alter muss man endlich alles sagen können“, brummt Dora starrsinnig.
Lautes Stimmengewirr schallt ihnen aus dem Festraum des Seniorenheims entgegen, ehe sie vom Garten her eintreten. Kaum hat Dora sich wieder gesetzt, werden die Flügeltüren zum Flur geöffnet und alle verstummen.
Eine Frau in Schwesterntracht schiebt einen Rollstuhl herein. Darin sitzt ein kleiner Greis, zusammengesunken wie ein Hutzelmännchen. Mit knochigen Händen hält er sich an den Armlehnen fest. Doch unter den müden Lidern blicken tiefblaue Augen hellwach im Saal herum, bis sie an Dora haften bleiben.
Wie erstarrt sitzt sie da. Nur nach der Hand von Theo hat sie gegriffen und er hält sie fest. „Ist das …?“, fragt er leise.
„Ja“, antwortet die Tochter, die hinter ihrer Mutter steht. Sie neigt sich zu ihr und sagt: „Wir haben es geschafft, ihn zu finden, deinen verlorenen Sohn, den du hergeben musstest.“
„Aber, aber …“, bringt Dora nur heraus und sieht ungläubig auf diesen kleinen Greis herab, der ihr Sohn sein soll.
Der lacht und wirkt plötzlich viel jünger. „Ich kann es auch nicht glauben. Aber wenn es alle sagen, so muss es wohl so sein und du bist meine eigentliche Mutter.“
„Wie heißt du überhaupt? Ich hatte damals nicht einmal Zeit, dir einen Namen zu geben.“
„Meine Adoptiveltern nannten mich Karl-Heinz.“
„Karl-Heinz“, wiederholt Dora nachdenklich. „Ja, so hätte ich dich auch nennen können.“ Langsam begreift sie, wer hier vor ihr sitzt, auch wenn er fast älter wirkt als sie selbst. Alles will sie jetzt von ihm wissen, wie es ihm im Leben ergangen ist, ob er Kinder hat und warum er im Rollstuhl sitzen muss.
Nun stört sie das Reden an der Kaffeetafel und das Feiern um sie herum nicht mehr, fast vergisst sie Theo darüber.
Doch irgendwann gehen die Ersten und der Raum leert sich.
Als der Letzte gegangen ist, sitzt sie mit Theo allein.
„Na, Dora, tut es dir noch leid, einhundert geworden zu sein?“, fragt er.
Sie schüttelt ihren Kopf. „Sonst hätte ich ja meinen Sohn nicht mehr sehen können.“
„Siehst du, es hat auch etwas Gutes.“
„Aber er ist ja so alt, so furchtbar alt.“
„Das Altern fragt nicht nach den Jahren. Wir sind auch alt, sehr alt, Dora.“
„Das stimmt! Sogar du mit deinen Fünfundneunzig, Theo.“ Dora lacht. Sie lacht wirklich.
Dann ziehen auch sie sich zurück von dem Platz, an dem eine Tafel mit schmutzigem Geschirr und verstreuten Krümeln um übrig gebliebenem Kuchen davon zeugt, dass hier ein hundertster Geburtstag gefeiert wurde. Einen Tag lang war alles anders. Doch nun fügen sich Dora und Theo wieder ein in den vorbestimmten täglichen Ablauf im Senioren- und Pflegeheim „Abendruh“. Und das Tag für Tag, Woche für Woche. Wer weiß schon, für wie lange.

Letzte Aktualisierung: 22.02.2011 - 19.45 Uhr
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