Mainhattan Moments
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Susanne Ruitenberg und Julia Breitenöder haben Geschichten geschrieben, die alle etwas mit Frankfurt zu tun haben.
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Jubilum | Februar 2011
Am Ende des Tages
von Sylvia Seelert

Ein letzter Blick zurück: Schreibtisch, Telefon, Ablagefächer, Stiftbox. Alles ausgerichtet, geleert, geputzt. Aktenordner im Regal stehen in Reih und Glied: beschriftet, sortiert. Die Fensterbank: leer. An der Pinwand kein Foto von Frau oder Kindern, keine Urlaubsbilder, Sprüche über die Arbeit: nichts, was auf die Anwesenheit eines Menschen hinweist.
Das ist also das Ende des Tages, denkt Hugo Hallhuber. Vierzig Jahre, die hinter ihm liegen. Eine Arbeitsära, die in dieser Sekunde abgeschlossen ist.
Seine Hand klebt an der Türklinke. Er zögert loszulassen. Die Dämmerung blickt durch das Fenster, lange Schatten fallen in die Ecken. Hugo ist alleine. Die Kollegen längst gegangen. Das wollte er so. Dieser Augenblick sollte nur ihm gehören.
Die gestrige Abschiedsfeier: Unbeholfenes Schulterklopfen, jede Menge Lügen wie „Lass uns im Kontakt bleiben“ oder „Jetzt, wo du Zeit hast, können wir ja mal was zusammen machen“.
Hugo schnaubt. Zeit war immer da. Nur, wer nahm sie sich? Waren Kollegen auch wirklich atmende, fühlende Lebewesen? Oder waren sie nicht vielmehr Büromaschinen? Aktion, Reaktion, Funktion. Vorgesetzte der Schmierstoff, der die Maschinerie am Laufen hält.
Wenn er jetzt geht, ist es für immer. Kein Weckerklingeln mehr am Morgen, kein heruntergeschlungenes Brot, kein stickiges Gedrängel mit Pendlern und Schulkindern in der Straßenbahn. Er ist frei zu entscheiden.
Mit einem Ruck zieht er die Hand weg, als ob die Klinke unter Strom steht. Jetzt bloß nicht sentimental werden. Hastig schreitet er durch den Flur und tritt an die frische Abendluft. Tief inhaliert er den Sauerstoff, strafft seinen Körper. Kein Blick zurück.
In der Straßenbahn hocken die letzten Pendler müde auf ihren Sitzen und starren stumm aus den Fenstern. Wie Blei hängt der Augenblick an Hugos Lidern. Die vergangenen Arbeitsjahre strömen aus seinen Poren, verlassen ihn wie Ratten das sinkende Schiff. Schlaff fällt der Kopf gegen die kühle Scheibe.
„Endstation“, brüllt der Fahrer und schreckt Hugo auf. Verwirrt blickt er sich um. Bis hier ist er noch nie gefahren.
Ungeduldig trommelt der Fahrer mit seinen Fleischwurstfingern auf die Armatur.
„Sie müssen jetzt aussteigen!“
Unsicher steht Hugo auf und verlässt die Bahn, während sich zischend die Tür hinter ihm schließt.
„Na, verpennt, Alterchen?“
Ein zopfbewehrtes Mädchen steht vor ihm, grinst. Hugo schätzt sie auf gerade mal zwanzig. Fasziniert beobachtet er, wie ihr Kaugummi von der einen zur anderen Backenseite wandert und wieder zurück. Die Jeans ist an den Säumen ausgefranst und schlabbert um ihre Streichholzbeine. Darüber trägt sie eine regenbogenfarbene Tunika.
„Hab dich beobachtet, gerade in der Bahn. Echt süß, wie du mit den Nasenlöchern geflattert hast, als woll´ste die aufspannen, so wie Segel und ich hab mich gefragt, wovon träumt ´n der wohl?“
Hugo zuckt mit den Schultern. Er blickt sich um, sucht nach einem vertrauten Zeichen, um sich zu orientieren. Findet nichts.
„Wo bin ich hier?“, fragt er schließlich. Sein Lebensdreieck hat sich stets zwischen Wohnung, Arbeit und Innenstadt gespannt. Zu den Randbezirken ist er nie gedrungen. Warum auch?
„Komm, Alterchen. Hast noch Zeit, bis die Bahn wieder zurückfährt. Die nächste kommt eh erst in einer Stunde. Kannst bei mir und meinen Kumpels unterschlüpfen.“
Das Mädchen hakt sich bei ihm unter und zieht ihn mit sich.
„Komm, Spirit zeigt dir den Weg. Spirit, das bin ich. Und du?“
„Hugo Hallbacher“, antwortet er automatisch.
Die Straßenlaternen werfen Lichtkegel auf das Kopfsteinpflaster. In der Ferne bellt ein Hund. Die Häuser wirken verlassen. Kein Licht hinter den Fenstern.
„Siehste, da sind wa schon.“
Imagine von John Lennon dröhnt aus dem obersten Fenster. Spirit stößt die Tür auf, die nicht verschlossen ist. Leere Flaschen liegen im Hausflur. Die Wände sind mit verschiedenen Varianten von fuck you besprüht. Spirit greift seine Hand und schleppt ihn bis ganz nach oben.
„Hi, Jungs. Das is’ Hugo.“
„Hi Spirit. Hi Hugo“, johlen drei jugendliche Gestalten zurück. Sie liegen auf Kissenbergen und ziehen an Wasserpfeifen. Die Luft ist durchtränkt mit den Ausdünstungen von Räucherstäbchen.
„Hau dich hin“, fordert Spirit ihn auf und so lässt er sich in die Kissen fallen. Im nächsten Moment wird ihm das Mundstück einer Shisha in die Hand gedrückt.
„Damit kannste prima chillen.“
Spirit wirft sich jauchzend auf die Kissen, greift sich die Wasserpfeife von dem Jungen mit den Rasterlocken, zieht genussvoll an dem Mundstück.
„Das sind Josh, Bandit und Tambourine.“
Bei jedem Namen zeigt sie auf einen der jungen Burschen. Hugo kann sie nur anhand ihrer T-Shirts auseinander halten. Ansonsten wirken alle gleich schlaksig, haarig und irgendwie entschwebt. Josh trägt eine Friedenstaube, Bandit einen Piratenkopf und Tambourine den Kopf von Che Guevara auf der Brust.
„Habt ihr noch Glückskekse übrig?“
Josh nickt und schiebt ihr einen Teller zu.
„Zieh sie dir rein, Hugo. Makes you happy!”
Schon hält sie ihm einen vor den Mund. Er beißt rein, kaut langsam. John Lennon dröhnt in seinen Ohren und der Tabak brodelt in der Lunge. Nach dem dritten Keks wird ihm ganz leicht zumute. Keine Schwere mehr in den Gliedern.
Spirit liegt rücklings auf seinem Brustkorb und greift nach imaginären Fliegen.
„Mann, sind die bunt. Abgefahren“, staunt sie.
„Ich muss gehen“, murmelt Hugo. Wieso hat er sich nur hierhin verschleppen lassen? Das ist zu unheimlich für ihn. Nicht seine Welt.
„Wieso? Wartet jemand auf dich?“
Hugo denkt an seine leere Wohnung. Dann an das leere Büro.
„Nein“, sagt er und verspürt dabei einen Kloß im Hals.
„Dann ist doch alles paletti. Die letzte Bahn haste sowieso grad verpasst.“
Spirit dreht sich zu ihm um und küsst ihn.
„Nicht. Du könntest meine Tochter sein!“
Er wendet den Kopf von ihr ab.
„Na, bin ich aber nicht. Bleib mal locker.“
Sie legt ihr Ohr auf seine Brust.
„Da ist ein Stolpern in deinem Herzschlag.“
Sie rollt sich nun mit ihrem ganzen Körper auf ihn, umschlingt ihn mit den Armen. Ihr Körper ist heiß, verbrennt ihn. Nicht nur sein Herzschlag ist jetzt aus dem Takt. Erneut küsst sie ihn. Seine Lippen erwidern.
„Auf geht’s“, kreischt sie unvermittelt und springt auf.
„Und jetzt ins Depot. It’s showtime!“
Übermütig zieht sie Hugo hoch, dessen Beine ihn höchst unwillig gerade halten. Irgendwie scheinen Boden und Decke zu einer Dimension zu verschwimmen.
„Was, was ist jetzt?“
„Mitternachtspremiere im Depot. Das ist Theater, da fliegt dir die Seele wech“, erklärt einer der Jungs und umarmt ihn.
Alles um ihn herum scheint zu tanzen. Die Kissen, die Deckenleuchte, Spirit. Ihm ist schwindelig.
„Ich will gehen.“ Seine Stimme klingt so fern, ist eher ein Wispern in seinen Kopfgängen.
„Jo, sind schon on the road“, grölt Spirit.
Die Pflastersteine tanzen Samba unter seinen Füßen. Hugo will nur nach Hause.
Nach der nächsten Biegung sind sie nicht mehr alleine. Weitere Nachtgestalten streben mit ihnen gemeinsam zum alten Eisenbahnschuppen.
„Da geht’s nicht zur Bahn“, stellt Hugo fest.
Spirit lacht. Unbeirrt schleppt sie ihn weiter, bugsiert sie beide an der Kasse vorbei.
„Setz dich. Popcorn gibt’s nicht, aber einen grandiosen Blick von hier. Muss mich noch für meine Rolle umziehen.“
Sanft drückt sie ihn in einen Sitz in der ersten Reihe und verschwindet. Das Murmeln der Menschen um ihn herum hallt vielfach in seinem Schädel wieder. Ihm ist schlecht.
Die Lichter gehen aus. Dann kreischt eine Kettensäge auf, sprengt den Holzverschlag auf der kleinen Bühne. Vier Darsteller purzeln halbnackt daraus hervor. Sie prügeln mit Worten aufeinander ein, ihre Augen glühen im Scheinwerferlicht, die Körper schwitzen ihre Gefühle heraus.
„Du bist ein leeres Blatt, das beschrieben werden muss“, spricht der Erste von ihnen.
„Und du ein Klumpen Lehm, der ohne Form noch ist“, höhnt sein Gegenspieler.
„Doch ich vertilge euch mit dem Stoff, der ich bin“, behauptet der Dritte.
Der Vierte summt in seiner Ecke, die Finger tanzen auf der Schreibmaschine und so füllt er unter ihrem Wortspiel seitenweise Blätter.
Hugo versteht nicht wirklich, was sie spielen. Aber er fühlt, dass etwas im Entstehen ist.
Dann tritt Spirit auf. Nackt. Sie tanzt zu wummernden Bässen im flackernden Stroboskoplicht. Ihr Gesicht ist schneeweiß geschminkt, die Augen mit Kohle dunkel umrandet.
„Wovon träumst du?“, ruft sie den Zuschauern zu. Sie windet sich auf dem Boden, zuckt mit allen Gliedern, wirft einen Stapel Papier durch die Luft, der wie überdimensionale Schneeflocken auf das Publikum herabsegelt.
„Wovon träumst DU?“
Sie steht nun vor ihm, durchdringt ihn mit ihren Augen. Sie ist eine Furie, die durch seine Gedanken rast. Der ganze Raum dreht sich um ihn herum. Er greift nach dem Blatt Papier, das auf seinen Schoß geflattert ist, und denkt an die unzähligen Notizbücher, die er als Kind mit Zeichnungen gefüllt hat. Der Stift wurde lebendig unter seiner Hand, wenn seine Spitze nur das Papier berührte.
Sein Vater hat sie alle verbrannt.
„Der Tag hat kein Ende“, ruft Spirit ihnen zu. „Die Nacht ist seine träumende Atempause.“
Licht und Musik gehen aus. Für einen Moment sind alle blind. Schließlich johlt und klatscht das Publikum, feiert die Darsteller, die sich im Lichtkreis eines Scheinwerfers versammelt haben.
Spirit, nun in einem Bademantel gehüllt, wirft ihm einen Handkuss zu. Hugo steht auf, schlendert langsam nach draußen.
Er lächelt.

Letzte Aktualisierung: 22.02.2011 - 15.09 Uhr
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