Das mit 328 Seiten dickste Buch unseres Verlagsprogramms ist die Vampiranthologie "Ganz schön bissig ..." - die 33 besten Geschichten aus 540 Einsendungen.
Der Postbote klingelt. Ich gucke verträumt auf die große gelbe Plastiktüte, die mit mehreren bedruckten Klebestreifen überdeckt ist.
„Diese Zustellung wurde zur Adressermittlung geöffnet!“
Ich leiste die Unterschrift an der Stelle, die mir der Bote zeigt.
Der Postmann meint: „Wollen Sie die Beschwerdeadresse für die Zustelllogistik? Dann habe ich hier 'nen Vordruck für Sie.“
Er reicht mir ein Formular. Mich drängen im Kopf tausende Fragen und ich weiß nicht, was der will.
„Wie? Wieso? Was ist das? Ich habe nichts bestellt.“
Der Briefträger sagt: „Nein, nein, das ist ein Brief, der leider in den Weiten der Deutschen Post herumirrte. Meine Kollegen behaupten, eine so lange Laufzeit hätten sie noch nie erlebt. Ist ja auch was. Bei uns kommt eben nichts weg. Guten Tag!“
Ich gehe zwei Schritte zurück, schiebe die Tür zu und blicke auf das total verklebte Etwas.
Es ist Din-A4 groß!
Adresse ermittelt ... Adressat verzogen... Empfänger unbekannt ... Postleitzahl recherchiert ... Nicht nachsenden! ... – unzählige Stempelabdrücke.
Ich lese: „Weißensee, Charlottenburger Straße 18“ und bekomme Herzklopfen.
Dann sehe ich „Rosenfelder Str. 18“ und kann „Müggelheim: Nachsendeantrag Karlshorst, Gundelfinger 1“ erkennen. Mir wird schwindelig. Was ist das?
Ich setze mich an den Esstisch, lege den großen gelben Plastikbeutel vor mich auf den Tisch, streiche ihn glatt und frage mich: „Warum?“.
Auf der Straße hupt ein Auto, aus Angst gestohlen zu werden, im Dauerton.
Cleo, unsere Hündin, legt sich zu meinen Füßen und brummt, will sagen, dass dieses Hupen nervt.
Ich starre geradeaus und wünsche mir eine heiße Tasse Kaffee.
Wie fremdbestimmt erhebe ich mich und gehe in die Küche. Der Plastikbeutel auf dem Tisch macht mich zwar neugierig , aber wie ein Bombenentschärfer will ich mir die nervenaufreibende Öffnung der Wundertüte aufsparen, mich konzentrieren, es genießen, jeder Handgriff muss sitzen.
Ich spüre, das ist besonders wichtig. Was da liegt ist etwas Bedeutendes zu meinem Fünfzigsten?
Mit wenigen Griffen habe ich Kaffee angesetzt. Die Kaffeemaschine blubbert mir zu: Das wird von Martina sein, die im Streit die Tür zugeschlagen und sich nie wieder gemeldet hatte.
Das Auto hupt energischer: Nein, das wird von deiner Schwester sein. Sie bereut den Abbruch eures Kontakts wegen des Streites um ihren Machobräutigam.
Ich sitze auf einem Küchenstuhl und grübele. Cleo kommt getrottet, legt ihren Kopf auf meinen Schenkel. Sie fixiert mich und sendet mir telepathisch ihre Meinung: Nein, nein! Der Brief ist von Nicole, die dich angeschrien hatte, sie hätte keine Lust mehr, sich zu rechtfertigen.
Langsam gehe ich zum Küchenschrank. Der Kaffee duftet. Die Tasse füllt sich mit dunklem Trank, die Milch färbt ihn rehbraun.
Vorsichtig, nicht zu schwabbern, gehe ich zum Esstisch zurück, stelle den Kaffeepott in sicherem Abstand zu dem gelben Päckchen auf den Tisch.
Warum klopft mein Herz so?
Vielleicht, weil ich morgen fünfzig Jahre zähle? Und, weil ich am kommenden Samstag viele Freunde aus allen Jahrzehnten meines Lebens treffen werde?
Sicher, da ist eine Überraschungsparty geplant und um mich herum ist viel an Geheimniskrämerei. Sicher auch, ich ahne nicht einmal, wo ich feiere. Ich weiß nicht, mit wem.
Und nun dieser Brief, dieser fehlgeleitete , irrgelaufene Brief.
„Charlottenburger Straße 18!“
Ich bin vierzehn. Der Kohlenhof mit den lauten schwarzen Männern auf der gegenüberliegenden Straßenseite bestimmt den Charakter der Gegend. Geruch nach Kohle, frischem Holz, der Staub in der Luft! Das Geräusch der Holzhackmaschine, die gebrüllten Rufe, die das Hacken übertönen. Meine Unsicherheit, wenn ich in das schwarz gefärbte Büro soll.
„...geh, frag nach zwei Zentnern Kohle auf Karte, so schnell wie möglich, sonst frieren wir ab nächste Woche!“
Warum macht das Mutter nicht selbst?
„Was willste?“, dröhnendes Lachen. Ich zucke zusammen.
„... ja, sonst frieren meine zwei Schwestern, meine Mutti und ich ab nächste Woche“, sage ich wahrheitsgemäß und kleinlaut.
„Na , jib mal her deine Karte, du Prinz!“
Dahin sollte der Brief gegangen sein? Oder ein Fake, eine Ãœberraschungsidee?
„Rosenfelder 18“ ... meine erste Wohnung, ein Zimmer, Kochnische, Bad, erste Etage.
Wie schön die Möbel meiner geliebten Großmutter darin aussahen; mich an sie erinnerten.
Sie war gerade verstorben, hatte die Wohnung nicht mehr kennengelernt.
Was habe ich da erlebt?!
Die Nachbarin, die nach einem Solidaritätsbeitrag für die Volkssolidarität fragte und in meinem Bett landete. Marina nebenan, die mich bat, auf ihre Tochter zu achten. Beatrice, mit der ich Hausaufgaben machte. Die Straße, auf der Panzer Richtung Osten dröhnten, als in Polen Solidarność zum Problem für den Warschauer Pakt wurde. Diese Jahre des Aufbruchs, des Umbruchs. Da war der Brief gelandet? Dieses gelbe Päckchen?
„Schönhauser Allee“ ... Drei Zimmer hatte ich da, habe die Feste gefeiert wie sie fielen, habe das Leben in vollen Zügen genossen. Die Wende lag hinter uns. Ich kannte die kleinen, die neuen und die großen Stars der Musikszene in den Neunzigern. Manche Nacht kam ich nach Hause, ohne am nächsten Tag zu wissen, wie.
Auch da hatte dieser Gelbe versucht, mich zu erreichen.
„Müggelheim“, mein trautes Heim, in Wohlstand und Glück, wie „Emil Pelle auf seiner Gartenlandparzelle“.
Cleo war Familienmitglied geworden. Der Wald, die Seen, die Ruhe. All das.
Das Haus! Schon Jahre zurück! Werde eben Fünfzig! Ein halbes Jahrhundert!
Warum wage ich nicht, den Brief zu öffnen?
Ich nestele an der Plastikfolie. Das liegt da wie ein Geschichtsprotokoll, hat den Kalten Krieg überlebt, die Achtziger, die Wende, die Neunziger und erreicht mich einen Tag vor meinem großen Jubiläum.
Was für ein Scherz ist das?
Endlich reiße ich die Folie vollständig auf.
Ein kleiner Brief rutscht heraus. Das Schriftbild lässt meinen Atem stocken. Ich kenne diese Bögen an den Anfangsbuchstaben der Worte, ich kenne diese hohen Anstriche.
Bernd Kleber
Charlottenburger Str. 18
112 Berlin
Absender
Gertrud Müller
Straße der DSF 28
156 Teltow
Mir läuft kitzelnd eine Träne über die Wange. Ich sehe, wie der Briefbogen in meiner Hand zittert.
Ich höre mich atmen, mein Herz drückt, Kindheitserinnerungen wirbeln durch meine Gedanken.
Teltow, den 7.02.1979
Mein lieber Bernd,
zu Deinem 18. Geburtstag wünsche ich Dir alles Gute.
Du bist nun endlich mit diesem Tag in die Welt der Erwachsenen aufgenommen.
Ich bin sehr stolz auf Dich und was aus Dir geworden ist. Emmi Böhm hat sich auch sehr gefreut, dass Du Deine Prüfungen bestanden hast, sogar die Giftprüfung, vor der Du solche Bange hattest.
Wir sehen Dich schon mit weißem Kittel in Deiner eigenen Drogerie stehen.
Du weißt, dass ich Dich sehr liebe und ich freue mich auch schon auf das kommende Wochenende.
Bei Hertie am Ku-Damm gab es leider nicht die von Dir gewünschte Jeans, man sagte, Schlauchjeans seien schon aus der Mode. Aber ich bringe Dir etwas anderes Schönes mit. Ich freue mich sehr, meinen großen Bernd in die Arme zu nehmen.
Meine Liebe zu Dir ist eine riesige Wolke, die mein tägliches Leben zu einer großen Freude macht.
Grüße an Deine Schwestern und Doris,
fühl Dich umarmt und geküßt
Deine Omi.
Letzte Aktualisierung: 24.02.2011 - 11.52 Uhr Dieser Text enthält 7299 Zeichen.