Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Jubiläum | Februar 2011
Bis dass der Tod euch vereint
von Robert Poleschny




„Warum hast du das getan?“
Emma saß mit herunterhängenden Schultern vor dem zerbrochenen Spiegel, der seit Jahren auf dem Dachboden ihres Hauses sein Dasein fristete, und betrachtete sich, während sie mit ihrem Spiegelbild sprach. Sie hatte blasse Haut, ihr Haar war zerzaust und ihr Kleid stand ihrer Mähne in nichts nach.
„Wieso hast du Paul nur verlassen?“
Emma seufzte. Sie wusste keine Antwort. Bekäme sie noch einmal die Gelegenheit, etwas zu ändern, sie würde alles anders machen. Nach ein paar Minuten erhob sie sich und ging durch den Raum. Sie atmete tief ein, schloss die Augen und genoss den vertrauten Geruch.
„Ach Paul.“
Langsam ging sie weiter und strich mit den Fingern über die Erinnerungen, die hier im Laufe der Jahre ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten.
Die antike Kommode, die Paul ihr zum Einzug in ihre erste gemeinsame Wohnung geschenkt hatte, eine Truhe voller alter Kleider, die sie nicht wegwerfen wollte, falls sie doch noch einmal eines Tages modern werden würden, eine geschmacklose Keramikzitrone ohne jegliche Funktion, die Pauls Tante ihnen zur Hochzeit geschenkt hatte und schließlich ein Porträt, das Emma in jungen Jahren zeigte und das Paul für sie gemalt hatte. Sie fand schon immer, dass er ihre Lachgrübchen viel zu übertrieben dargestellt hatte.
Der Raum war gefüllt mit allen möglichen Skurrilitäten. Eine Retrospektive ihres Lebens. Plötzlich erblickte sie die Wiege ihres Sohnes und eine Flut von Erinnerungen stürzte auf sie ein, die sie schon längst verdrängt geglaubt hatte. Der Unfall, das lange Bangen um sein Überleben und schließlich sein Tod.
Emma fing an zu weinen, und der Schmerz bahnte sich erneut seinen Weg an die Oberfläche. Sie verfluchte diesen Schmerz, der sich so tief in ihre Seele gefressen hatte. Könnte sie ihn doch nur abschütteln, wie ein Hund das Wasser aus seinem Fell.
Sie musste weg hier, wenn sie nicht Gefahr laufen wollte, verrückt zu werden. All das erinnerte sie zu sehr an ihre gemeinsame Zeit mit Paul, die sie über alles liebte und die sie nicht vergessen konnte.
Sie lebte diese Vergangenheit. Sie war das Einzige, was sie noch besaß.
Emma wendete den Blick vom Babybett ab.
Sie hatte gesehen, was geschah, wenn man nur noch in die Zukunft schaute und die Vergangenheit aus den Augen ließ. Man vergaß. Schließlich hatte auch Paul sie vergessen. Damals hatte sie es nicht mehr ausgehalten, in diesem ruhigen, leblosen Haus. Ohne Kindergeschrei und ohne eine Aufgabe, die sie erfüllte. Paul und sie lebten nur noch nebeneinander her und sprachen kaum ein Wort miteinander.
Nach ihrem Weggang zog er sich ganz und gar zurück. Seine Arbeit war das einzige Tor zur Außenwelt. Alles andere war egal. Dann trat eine Frau in sein Arbeitsleben, die alles umkrempelte. Hannah. Sie sorgte sich um Paul und lockte ihn aus seiner Isolation.
Einfühlsamkeit, Geduld und Charme waren eine Kombination, der Paul nicht lange standhalten konnte.
Paul fand den Weg zurück ins Leben. Stück für Stück kam er aus seinem Schneckenhaus gekrochen. Er genoss das steigende Interesse an seiner Person, fand wieder Freunde und alles bekam für ihn einen neuen Sinn. Emma gönnte ihm die neue Lebenskraft. Trotzdem geriet gerade deshalb die Erinnerung an ihre gemeinsame Zeit immer mehr in den Hintergrund und machte Platz für einen neuen Abschnitt in seinem Leben. Das alles war Jahre her.
Sie hatte Paul nie vergessen.
Emma fasste sich wieder. Sie hatte sich einmal mehr in Rückblicken verloren und die Zeit um sich herum vergessen. Sie fragte sich, ob es wirklich klug gewesen war, hierher zurückzukehren.
Sie hätte sich denken können, nein wissen müssen, was passieren würde.
Schnell ging sie zum Spiegel. Da es schon dämmerte, sah sie ihr Spiegelbild nicht mehr ganz deutlich. Sie trat ganz nah heran und fixierte ihre Augen.
„Emma, du wirst jetzt diesen Raum und dieses Haus verlassen und nie mehr wiederkehren. Es gibt keinen Grund hierzubleiben. Niemand erinnert sich an dich und wird dich hier vermissen. Geh!“
Dann sah sie sich noch eine Weile im Spiegel an, drehte sich schließlich mit schwerem Herzen um und stieg die Treppe hinunter. Auch wenn Paul nicht mehr an sie dachte, sie würde für immer an ihn denken. Sie würde Paul immer lieben. Nur an einem anderen Ort.
Plötzlich hörte sie Pauls Stimme, die unten aus der Küche zu kommen schien.
Sie erreichte den Raum gerade rechtzeitig, um Pauls Worten zu lauschen. Dieser saß am Tisch in der Mitte der Küche. Nur eine Kerze erhellte den Raum und Pauls Gesicht, dessen Wangen feucht glitzerten. Die Kerze stand einsam und verlassen auf einem kleinen Marmornapfkuchen. Ihrem Lieblingskuchen. Sie lächelte. Würde sie jemand sehen, würde derjenige Grübchen entdecken. Genau so, wie auf dem Porträt.
„Ach Emma. Seit deinem Tod ist nichts mehr, wie es war. Falls du mir von dort oben zuschaust, möchte ich, dass du weißt, dass ich immer an dich denken und dich ganz tief in meinem Herzen immer lieben werde. Alles Gute zu unserem 25. Hochzeitstag.“
Paul blies die Kerze aus.

Letzte Aktualisierung: 25.02.2011 - 11.42 Uhr
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