Der himmelblaue Schmengeling
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Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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Jubiläum | Februar 2011
Auf den Spuren der Jugend
von Gisela Reuter

Bereits während des Telefonats wird mir warm ums Herz.
Dass sie in diesem Jahr siebzigjähriges Freundinnen-Jubiläum haben, ruft Luise fröhlich in den Hörer. Und da meine Tante Bertha außerdem am Maifeiertag achtzig Jahre alt wird, hat man sich etwas ganz Besonderes ausgedacht:
„Was hältst du von einer Überraschungsreise als Geschenk für Bertha? Du müsstest natürlich mitkommen. Falls mal was ist, unterwegs. Adele meint das auch. Also, wir haben schon alles geplant und vier Hotelzimmer gebucht. Der Zug geht am ersten Mai um neun Uhr achtunddreißig ab Hauptbahnhof und –“
Siebzig Jahre Freundschaft zwischen Luise, Adele und meiner Patentante Bertha.
Wie könnte ich diese Reise ablehnen …


Noch bevor die Fahrt beginnt, köpft Luise die erste Flasche Sekt und ich bete, dass ich die Damen später heil aus dem Zug herausbekomme. Langsam wird mir klar, weshalb Luise und Adele darauf bestanden haben, dass ich als Reisebegleiterin mitfahre.
Meine Patentante strahlt. Wir heben die Pappbecher und prosten ihr zu. Hoch soll sie leben. Adele und Luise haben einen Lorbeerkranz gebastelt und ihn bereits am Bahnhof über Berthas Dauerwellen gestülpt. Vorne dran baumelt eine goldene Achtzig.

Wir stoßen an und Luise erhebt sich würdevoll.
„Meine liebe Bertha“, schmettert sie durchs Abteil, „in diesem Jahr feiern wir siebzigjähriges Freundinnenjubiläum und genau heute vor achtzig Jahren wurdest du geboren und – huch -“
Der Zug fährt an und Luise plumpst zurück in ihren Sitz.
Die übrigen Fahrgäste kichern.
Luise erhebt sich erneut.
„– und aus diesem Grunde, liebe Bertha, machen wir mit dir diese Reise, von der du ja noch nicht weißt, wohin sie geht“.
Bertha hat hochrote Bäckchen und schaut erwartungsvoll in die Runde.
Die Mitreisenden schauen auch.
Der Zug ruckelt und Luise fällt samt Sektbecher vornüber auf Adele.
Das Kichern der Mitreisenden verwandelt sich augenblicklich in schallendes Gelächter.
Ich entwirre die beiden und wische mit einem Taschentuch über Adeles Rock.
„Nun sag schon, ich kann es nicht mehr erwarten“, juchzt Bertha aufgeregt.
Glücklicherweise beschließt Luise nun im Sitzen weiterzureden.
„Also“, hebt sie erneut lautstark an, „wir machen die Reise dorthin – wo wir vor genau dreißig Jahren einen gemeinsamen Urlaub verbrachten.“
Die Atmosphäre im Waggon ist zum Bersten angespannt.
Etliche Augenpaare ruhen auf uns.
Bertha hält die Luft an.
„Neuharlingersiel?“, fragt sie zaghaft.
Donnernder Applaus setzt ein und Tante Bertha muss auf diesen freudigen Schrecken hin erstmal zur Toilette. Ich begleite sie und als wir zurückkommen, ist die zweite Flasche Sekt geöffnet. Luise und Adele stimmen „Bruder Jakob“ an und der komplette Waggon singt im Kanon.

Kurz vor der Ankunft schmettern wir noch ein gemeinsames: „De-her Mai ist – gekommen – “.
Freundliche Hände helfen uns mitsamt unserem Gepäck und den Spazierstöcken aus dem Zug. Das ist auch gut so. Denn Luise und Adele schwanken sektselig. Bis das Taxi kommt, lehne ich die beiden an der Bahnhofsmauer an.
„Auf der Mauer, auf der Lauer –“, trällern sie. Tante Bertha kichert.

Im Hotel flüstert Adele dem Herrn an der Rezeption irgendetwas ins Ohr und Luise schmettert: „Aber heut – sind wir fidel – ein Herz und eine Seel’ – “. Das Foyer füllt sich mit Schaulustigen und ich sehe mich gezwungen, einen Mittagsschlaf anzuordnen.

Doch wir kommen nicht weit.
Die Fahrstuhltüre öffnet sich.
„Überraschung!“, krähen Luise und Adele, und Tante Bertha verliert beinah das Bewusstsein.
Aus dem Aufzug steigt ein Herr mit schütterem Haar. Kniestrümpfe und Sandalen zieren seine Füße. Die knielange Hose wird von Hosenträgern gehalten.
„Das ist der Josef“, wispert Luise.
Ich habe keine Ahnung, wer Josef ist, aber Bertha schmeißt vor lauter Freude ihren Gehstock hinter sich und fällt ihm stürmisch um den Hals. Josef strauchelt bei dem Angriff. Adele und Luise stützen ihn geistesgegenwärtig und verhindern damit ein größeres Unglück. Tante Bertha strahlt und wischt sich verstohlen ein Tränchen weg. Und Josef wischt auch und schreit: „Bertha, du hast ja eine Fahne!“
„Die haben wir alle“, jauchzt Adele und stimmt sogleich das nächste Lied an: „Wenn die bunten Fahnen wehen – “.
Wir kommen bis Strofe drei. Dann wird Josef, der Jugendfreund, herumgereicht und erhält von allen ein schmatzendes Begrüßungsküsschen auf die Wange. Er grient hocherfreut und gehört ab sofort als festes Mitglied zu unserer Reisegruppe. Das ist eine absolute Bereicherung, denn er ist textfest beim kompletten Heinoprogramm, wie er uns sogleich versichert.

Das Wiedersehen wird im gegenüberliegenden Café gefeiert. Bertha will neben Josef sitzen und der wiederum sonnt sich wie ein Gockel in dem Bewusstsein, auf seine alten Tage noch einmal derart umschwärmt zu werden. Damit er auf dasselbe Level kommt, ordern wir ihm einen doppelten Schnaps.
„Bertha, du siehst gut aus“, strunzt er daraufhin.
Und Bertha wird so rot wie ihre Tomaten im heimischen Garten.
Die Damen bestellen auf meinen Rat hin lediglich Kaffee und Kuchen und wir beschließen, im Anschluss daran einen Spaziergang zu machen.

Auf dem Weg zum Strand singen wir auf Josefs Wunsch „Muss i denn, muss i denn zu-hum Städtele hinaus – “.
Bei diesem Lied hat er vor fünfundsechzig Jahren die Bertha heimlich geküsst, wie er uns hinter vorgehaltener Hand verschämt zugeflüstert hat. Ich bringe es nicht übers Herz, ihm diesen Wunsch abzuschlagen. Die Menschen um uns herum bleiben stehen, und wir marschieren tapfer und laut singend durch den Sand.
Vorneweg Luise, Adele und ich, dicht gefolgt von Tante Bertha mit dem Hosenträger-Josef am Arm.

Aha. Also nicht nur siebzig Jahre Frauenfreundschaft, sondern eine ebenfalls langjährige Liebe, die – aus welchen Gründen auch immer – nie hat gelebt sein sollen.
Nun wird mir klar, weshalb Tante Bertha unverheiratet geblieben ist.

Plötzlich wird es still hinter uns.
Die Sonne steht tief und wir hören nur noch das leise Plätschern der Nordsee.
Zaghaft drehe ich mich zu den beiden um und was ich da sehe, lässt mein Herz höher schlagen.
Ich schließe einen Moment die Augen.
Und öffne sie wieder.
Josef und Tante Bertha haben fünfundsechzig Jahre zurückgeschraubt.
Einfach so.
Luise und Adele schnäuzen in ihre Taschentücher. Gerührt stehen wir drei nun da und schauen uns an. Adele bückt sich und zieht mit dem Finger ein Herz in den Sand. Luise hilft ihr beim Aufrichten und berichtet, dass Josef seit drei Jahren verwitwet ist. Irgendwie hat sie ihn vor einigen Monaten ausfindig gemacht, und nach etlichen Telefonaten mit ihm, unterstützt von Adele, beschlossen, ihn in einem letzten Versuch mit meiner Tante Bertha zusammenzubringen.

Beseelt von diesem gelungenen Unterfangen schlendern wir schon mal vor zur Strandbar.
Eine halbe Stunde später trudeln die beiden ein. Hand in Hand. Und mit hochroten Wängelchen. Josef schmeißt eine Runde Sekt. Es würde mich nicht wundern, wenn er Tante Bertha gleich einen Heiratsantrag machte.
Adele und Luise schauen sich vielsagend an und Bertha verkündet stolz, dass Josef sie für den nächsten Tag eingeladen hat.
„In sein Hotelzimmer oder auf neutralen Boden?“, kichert Adele.
Josef grinst daraufhin und zieht verlegen mit den Daumen seine Hosenträger stramm. Dann räuspert er sich.
„Liebe Bertha, heute ist dein runder Geburtstag. Und wir beide haben uns heute nach über sechzig Jahre wiedergesehen. Aus diesen Anlässen möchte ich dir etwas sagen.“

Luise kneift Adele vor lauter Aufregung in den Arm und ich trinke aus Versehen meinen Sekt in einem Zug leer. Bertha hat die Augen aufgerissen und lauscht mit angehaltenem Atem.
Josef hüstelt einen Frosch aus seinem Hals und greift zu seinem Glas. Und dann beginnt er zu singen. Erst ganz leise, ganz zaghaft: „Es gibt – Millionen von Sternen – uns’re Stadt – sie hat tausend Laternen –“.
Adele und Luise schnäuzen schon wieder in ihre Taschentücher. Als Josef bei „– aber dich – gibt’s nur einmal für mich –“ angekommen ist, klingt seine Stimme schon deutlich fester und die anderen Gäste drehen sich, offensichtlich gerührt, zu uns um.
Den Refrain schmettern wir gemeinsam aus voller Brust und der Barkeeper schlägt auf der Theke den Takt dazu.
Bertha und Josef schauen sich tief in die Augen und Luise wispert:
„Was hier geschieht, wäre Rosamunde Pilcher wohl im Traum nicht eingefallen …“

Ich glaube, Luise hat Recht.
Es scheint Dinge zwischen Himmel und Erde zu geben, die weitaus bezaubernder sind, als man sie sich hätte ausdenken können …



© Gisela Reuter, 2011

Letzte Aktualisierung: 25.02.2011 - 09.12 Uhr
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