Mainhattan Moments
Mainhattan Moments
Susanne Ruitenberg und Julia Breitenöder haben Geschichten geschrieben, die alle etwas mit Frankfurt zu tun haben.
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Andrea Will IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Jubiläum | Februar 2011
Die Schule des Lebens
von Andrea Will

Heute Nacht habe ich noch schlechter geschlafen als sonst. Diese schrecklichen AlptrĂ€ume. Herzrasen. Auf den Kalender brauche ich heute nicht zu schauen. Ich weiß, welcher Tag heute ist. Der neunundzwanzigste Oktober. Heute genau vor zehn Jahren habe ich ihn umgebracht. Es kam damals in allen Zeitungen. In allen Nachrichtensendungen. Und die Meinungen darĂŒber gingen sehr weit auseinander. Ich verbĂŒĂŸe meine Strafe noch heute. Denn ich bekam LebenslĂ€nglich. LebenslĂ€nglich fĂŒr eine Tat aus Liebe.Jedes todkranke, leidende Tier hat das Recht auf die erlösende Spritze des Tierarztes, aber der Mensch soll qualvolle Schmerzen erdulden mĂŒssen!? Wer gibt deshalb anderen das Recht, ĂŒber mich zu urteilen, wenn sie sich noch nicht in so einer Situation befunden haben? Doch vielleicht sollte ich Ihnen noch ein wenig mehr erzĂ€hlen. Denn Sie sehen mich so fragend an. Aber was kann man ĂŒber einen Menschen sagen, den man mehr als sich selber liebte?Er fiel sofort auf. Sobald er den Raum betrat, war er der Mittelpunkt und zog alle in seinen Bann. Ein groß gewachsener Mann. Schlank. Grau melierte Haare. Ein gut trainierter Körper, der verriet, dass er Sport liebte.Auf Frauen wirkte er anziehend. Er war ein begehrter GesprĂ€chsteilnehmer. Wen er in sein Innerstes schauen ließ, dem offenbarte er Sehnsucht nach BestĂ€ndigkeit. Nach einem Ruhepol im Leben. Was er sagte und tat, erwies sich selbst dann als tief durchdacht, wenn der rote Faden erst auf den zweiten Blick sichtbar wurde.Auf einer Geburtstagsfeier bei gemeinsamen Freunden lernten wir uns kennen. Wir fanden uns auf Anhieb sympathisch und verabredeten uns fĂŒr den kommenden Tag. Zwei Tage spĂ€ter zogen wir zusammen und vier Wochen darauf heirateten wir.Wenn man sich in GlĂŒck und Sicherheit wiegt, verdrĂ€ngt man gerne den Gedanken, wie schnell sich dies Ă€ndern kann. Zwei Jahre spĂ€ter traten bei ihm anhaltende Kopfschmerzen auf. Manchmal schwankte er. SpĂ€ter stĂŒrzte er sogar, fiel zu Boden. Blieb mehrmals eine Zeit lang besinnungslos liegen. Ich bestand darauf, dass er sich in Ă€rztliche Behandlung begab. Untersuchungen wechselnder Ärzte folgten: Blutwerte, usw., die ganze Bandbreite. Dann die niederschmetternde Diagnose: Gehirntumor. Inoperabel. Man gab ihm noch etwa drei Monate.Ich sah in sein Gesicht. Er musste nichts sagen. Ich wusste es. Wir verstanden uns ohne Worte. Doch schnell nahmen die Schmerzen ĂŒberhand, wich das LĂ€cheln aus seinem Gesicht. Er bekam Morphium, aber nicht ausreichend dosiert. Bald schrĂ€nkte sich seine Sehkraft ein, seine Motorik wurde unkoordiniert. Zuletzt konnte er das Bett nicht mehr verlassen, musste wie ein SĂ€ugling gewickelt werden. Nur sein Sprachzentrum blieb eigenartigerweise völlig intakt. Wie oft nahm ich ihn in den Arm, versuchte ich zu trösten. Wollte ihn nie wieder loslassen. “ Ich kann nicht mehr. Ich weiß, was ich von dir verlange, ist furchtbar. Aber ich will nicht mehr leiden ...“ ... nicht mehr leiden 
“ TrĂ€nen rollten ihm die Wangen hinunter, aber ich strĂ€ubte mich:„Ich kann nicht. Ich könnte es mir nie verzeihen, dich zu töten.”“Willst Du mich wirklich so leiden sehen? Mit Windeln, hilflos wie ein SĂ€ugling? Schau mich an! Ich bin ans Bett gefesselt. Kann nichts mehr selber tun. Nur noch mit dir reden.“ „Ich weiß, du wĂŒrdest fĂŒr mich das Gleiche tun“, antwortete ich irgendwann.Er saß auf seinem Bett. Ich setzte mich hinter ihn, umarmte ihn ein letztes Mal und legte meinen Kopf behutsam an seinen. Fasste ihn von hinten an seine beiden Schultern. Warum ist das Leben nur so grausam? In der Schule lernt man vieles. Nicht alles kann man brauchen. Aber ĂŒber die wichtigsten Sachen im Leben, wie ĂŒber Liebe, Leiden und Sterben, lernt man nichts.Seine Lieblingskrawatte lag neben dem Bett auf dem Nachttisch. “Schließ die Augen, Schatz“, sagte ich. Dann löste ich meine HĂ€nde von seinen Schultern. Nahm die Krawatte vom Nachttisch. Legte sie ihm um den Hals und zog sie zu. So fest ich konnte. Es ging sehr schnell, denn natĂŒrlich wehrte er sich nicht. Bald kam ein Arzt, der auch die Polizei rief. Er ist tot und begraben, mein Geliebter, mein Mann. Als sie mich abfĂŒhrten, fand ich so schnell kein passendes Erinnerungsfoto. Aber ich habe ein Bild von ihm immer in meinem Herzen.

Letzte Aktualisierung: 13.02.2011 - 11.39 Uhr
Dieser Text enthält 4292 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.