Der himmelblaue Schmengeling
Der himmelblaue Schmengeling
Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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Jubilum | Februar 2011
Die Schule des Lebens
von Andrea Will

Heute Nacht habe ich noch schlechter geschlafen als sonst. Diese schrecklichen Alpträume. Herzrasen. Auf den Kalender brauche ich heute nicht zu schauen. Ich weiß, welcher Tag heute ist. Der neunundzwanzigste Oktober. Heute genau vor zehn Jahren habe ich ihn umgebracht. Es kam damals in allen Zeitungen. In allen Nachrichtensendungen. Und die Meinungen darüber gingen sehr weit auseinander. Ich verbüße meine Strafe noch heute. Denn ich bekam Lebenslänglich. Lebenslänglich für eine Tat aus Liebe.Jedes todkranke, leidende Tier hat das Recht auf die erlösende Spritze des Tierarztes, aber der Mensch soll qualvolle Schmerzen erdulden müssen!? Wer gibt deshalb anderen das Recht, über mich zu urteilen, wenn sie sich noch nicht in so einer Situation befunden haben? Doch vielleicht sollte ich Ihnen noch ein wenig mehr erzählen. Denn Sie sehen mich so fragend an. Aber was kann man über einen Menschen sagen, den man mehr als sich selber liebte?Er fiel sofort auf. Sobald er den Raum betrat, war er der Mittelpunkt und zog alle in seinen Bann. Ein groß gewachsener Mann. Schlank. Grau melierte Haare. Ein gut trainierter Körper, der verriet, dass er Sport liebte.Auf Frauen wirkte er anziehend. Er war ein begehrter Gesprächsteilnehmer. Wen er in sein Innerstes schauen ließ, dem offenbarte er Sehnsucht nach Beständigkeit. Nach einem Ruhepol im Leben. Was er sagte und tat, erwies sich selbst dann als tief durchdacht, wenn der rote Faden erst auf den zweiten Blick sichtbar wurde.Auf einer Geburtstagsfeier bei gemeinsamen Freunden lernten wir uns kennen. Wir fanden uns auf Anhieb sympathisch und verabredeten uns für den kommenden Tag. Zwei Tage später zogen wir zusammen und vier Wochen darauf heirateten wir.Wenn man sich in Glück und Sicherheit wiegt, verdrängt man gerne den Gedanken, wie schnell sich dies ändern kann. Zwei Jahre später traten bei ihm anhaltende Kopfschmerzen auf. Manchmal schwankte er. Später stürzte er sogar, fiel zu Boden. Blieb mehrmals eine Zeit lang besinnungslos liegen. Ich bestand darauf, dass er sich in ärztliche Behandlung begab. Untersuchungen wechselnder Ärzte folgten: Blutwerte, usw., die ganze Bandbreite. Dann die niederschmetternde Diagnose: Gehirntumor. Inoperabel. Man gab ihm noch etwa drei Monate.Ich sah in sein Gesicht. Er musste nichts sagen. Ich wusste es. Wir verstanden uns ohne Worte. Doch schnell nahmen die Schmerzen überhand, wich das Lächeln aus seinem Gesicht. Er bekam Morphium, aber nicht ausreichend dosiert. Bald schränkte sich seine Sehkraft ein, seine Motorik wurde unkoordiniert. Zuletzt konnte er das Bett nicht mehr verlassen, musste wie ein Säugling gewickelt werden. Nur sein Sprachzentrum blieb eigenartigerweise völlig intakt. Wie oft nahm ich ihn in den Arm, versuchte ich zu trösten. Wollte ihn nie wieder loslassen. “ Ich kann nicht mehr. Ich weiß, was ich von dir verlange, ist furchtbar. Aber ich will nicht mehr leiden ...“ ... nicht mehr leiden …“ Tränen rollten ihm die Wangen hinunter, aber ich sträubte mich:„Ich kann nicht. Ich könnte es mir nie verzeihen, dich zu töten.”“Willst Du mich wirklich so leiden sehen? Mit Windeln, hilflos wie ein Säugling? Schau mich an! Ich bin ans Bett gefesselt. Kann nichts mehr selber tun. Nur noch mit dir reden.“ „Ich weiß, du würdest für mich das Gleiche tun“, antwortete ich irgendwann.Er saß auf seinem Bett. Ich setzte mich hinter ihn, umarmte ihn ein letztes Mal und legte meinen Kopf behutsam an seinen. Fasste ihn von hinten an seine beiden Schultern. Warum ist das Leben nur so grausam? In der Schule lernt man vieles. Nicht alles kann man brauchen. Aber über die wichtigsten Sachen im Leben, wie über Liebe, Leiden und Sterben, lernt man nichts.Seine Lieblingskrawatte lag neben dem Bett auf dem Nachttisch. “Schließ die Augen, Schatz“, sagte ich. Dann löste ich meine Hände von seinen Schultern. Nahm die Krawatte vom Nachttisch. Legte sie ihm um den Hals und zog sie zu. So fest ich konnte. Es ging sehr schnell, denn natürlich wehrte er sich nicht. Bald kam ein Arzt, der auch die Polizei rief. Er ist tot und begraben, mein Geliebter, mein Mann. Als sie mich abführten, fand ich so schnell kein passendes Erinnerungsfoto. Aber ich habe ein Bild von ihm immer in meinem Herzen.

Letzte Aktualisierung: 13.02.2011 - 11.39 Uhr
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