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Jubiläum | Februar 2011

Apfelkuchen mit Sahnehäubchen
von Martina Bracke

„Weißt du, was heute für ein Tag ist?“ Emma stellte ihre Tasse scheppernd auf dem Unterteller ab, dass der Teelöffel tanzte und herunter zu fallen drohte.
Eduard verschanzte sich weiter hinter seiner Zeitung und murmelte nur: „Heute? Samstag.“
„Ja, Samstag. Und weiter?“ Sie ließ nicht locker.
Endlich senkte Eduard die Zeitung, blickte seine Frau ĂĽber die Lesebrille hinweg an. Ihrem Gesichtsausdruck entnahm er, dass ihr die Frage wichtig war, also bemĂĽhte er sich angestrengt, eine Antwort zu finden.
„Der 26. Februar“, fiel ihm ein.
„Ja, und … weiter!“
Eduard seufzte. Er liebte seine Emma inniglich, jedes kleine Fältchen in ihrem rundlichen Gesicht. Aber manchmal war sie ein bisschen schrullig.
„Du könntest es mir einfach sagen.“
„Heute!“, wiederholte sie eindringlich. „Heute sind es vierzig Jahre, dass ...“ In der folgenden Pause, die Emma geschickt dehnte, breitete sich Stille im Raum aus, glaubte Eduard zu spüren, wie das Ticken der Kaminuhr über die Härchen auf seinem Arm strich, die sich widerstrebend aufrichteten.
„Oh Gott, du hast recht. Vierzig Jahre.“ Die Erinnerung klopfte laut in Eduards Gedanken.
Emma sah sehr zufrieden aus, als sie sich in den Ohrensessel zurĂĽcklehnte und ihren Tee schlĂĽrfte.
„Was sollen wir tun?“ Eduard war nun voll bei der Sache.
Sie zuckte nur mit den Schultern. „Heute ist Samstag, da ist kaum etwas zu machen.“
„Das geht nicht. Wir müssen was tun.“ Energisch faltete Eduard die Zeitung zusammen. „Dieses Datum können wir nicht verstreichen lassen. Wer weiß, ob wir die fünfzig noch erleben.“
„Ach, Schatz!“, strahlte Emma ihn an, „du bist wunderbar!“ In einer einzigen geschmeidigen Bewegung beugte sie sich zu ihm hinüber, drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf seine Lippen, sandte eine Streicheleinheit über seine Bartstoppeln und schwang sich aus ihrem Plüschsessel. „Was meinst du, was brauchen wir für ein spontanes Fest?“, animierte sie ihren Gatten.
„Kerzen.“
Einen Moment lang schien sie nachzudenken, dann hellte sich ihre Miene auch schon auf, sie eilte zu dem alten Nussbaumschrank und riss triumphierend eine der TĂĽren auf.
„Voilà! Kerzen.“ Eine ganze Batterie von roten Grablichtern füllte diesen Schrankteil.
„Genau das Richtige!“, lachte ihr Eduard entgegen. „Wie sieht es mit Kuchen aus?“, forderte er sie aber gleich wieder heraus.
„Eduard!“ In Emmas Stimme klang Empörung mit. „Eine meiner leichtesten Übungen. Gib mir anderthalb Stunden, und es duftet nach Kuchen. Was hältst du von Streuselkuchen? Oder Butterkuchen?“
Eduard verzog die Mundwinkel. „Beerdigungskuchen!“
„Findest du nicht angemessen? Na gut, Apfelkuchen kann ich uns machen“, schlug Emma vor. Sie zwinkerte ihm zu.„Apfelkuchen mit Sahnehäubchen! Aber du kümmerst dich um einen Gast!“
„Viele sind ja nicht mehr da“, meinte Eduard.
„Lass dir was einfallen. Du machst das schon.“ Mit diesen Worten entschwand sie bereits in die Küche.
Eduard grummelte etwas vor sich hin, lehnte sich im Sessel zurĂĽck und dachte nach.
„Aber nicht einschlafen!“, tönte es aus der Küche.
„Sag mal, hast du noch diesen Zettel?“, fragte Eduard hellwach.
Emma zeigte sich apfelschälend im Türrahmen. „Etwas präziser, bitte.“
„Na, mit der Nummer von dieser Sozialarbeiterin. Sybille Irgendwas.“
„Sybille Neuruther oder so ähnlich. Liegt da am Telefon. Für alle Fälle.“ Ein wenig Spott vermeinte er bei seiner besseren Hälfte zu hören.
„Du hattest doch nicht gedacht ...“, ungläubig sah er sie an.
Doch sie lachte nur und drehte sich vergnĂĽgt wieder zur KĂĽche.
Kopfschüttelnd holte er sich das Telefon und fand sofort den Zettel. Nur einen Moment später hatte er auch schon gewählt.
„Ja, hallo Frau Neuruther.“
...
„Ah, Frau Neurieder. Hier Lehmacker. Sie erinnern sich? Sie waren vor zwei Wochen bei uns und haben uns von diesen netten Altenwohnungen erzählt.“
…
„Wissen Sie, wir haben es uns überlegt. Hier draußen ist es doch recht einsam, der Weg zum Einkaufen wird auch immer beschwerlicher. Vielleicht sollten wir tatsächlich …“
…
„Nein, das ist keine einfache Entscheidung. Wir leben schon so lange hier. Und wir sind ja noch zu zweit.“
…
„Es wäre schön, wenn wir noch einmal darüber sprechen könnten. Wollen Sie nicht vorbeikommen?“
…
„Kommen Sie doch jetzt. Meine Frau backt gerade Kuchen.“
…
„Wenn Sie schon was anderes vorhaben … Wir dachten bloß, bevor die Wohnungen weg sind ...“
…
„Das ist doch wunderbar. Kommen Sie wieder mit dem Rad?“
…
„Ach, Sie haben gar kein Auto?“
…
„Doch, ich glaube, Sie erwähnten das. Wunderbar. Mit einem Fahrrad ist man viel flexibler, nicht wahr? Wir erwarten Sie! Bis gleich!“
Emma erschien kurz in der Tür. „Ohne Auto, nicht wahr? Ich wusste, sie ist ideal.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sie sich dem Herd zu und schob den Kuchen hinein. „Brauchen wir das große Messer?“, fragte sie, während sie schon Geschirr und Besteck aus dem Schrank holte.
„Willst du viel oder wenig Arbeit haben?“, kam es von ihrem Gefährten.
Eineinhalb Stunden später war der Tisch hübsch gedeckt, flackerte es in gedämpften roten Licht von den Fensterbänken, dem Schrank und den Beistelltischchen. Köstlicher Apfelkuchenduft strömte ihrem Gast entgegen, der von den Grablichtern allerdings irritiert zu sein schien.
„Die waren neulich im Sonderangebot“, entschuldigte sich Eduard, der das Zögern bemerkte.
Dankend nahm Frau Neurieder eine Tasse Tee, und das Gespräch plätscherte über das Alter, die Einsamkeit der Gegend und die eingeschränkte Mobilität dahin.
„Was sagt eigentlich Ihr Freund, dass Sie samstags noch arbeiten?“, hielt Emma das Gespräch in Gang.
Eduard sah sie warnend an, Frau Neurieder senkte den Blick.
„Oh, Verzeihung, wie ungeschickt. Er hatte sie erst vor kurzem verlassen, ich erinnere mich“, stotterte Emma ein wenig.
„Kommen Sie, Frau Neurieder, ich zeige Ihnen unseren Weinkeller. Ich suche uns einen guten Tropfen zur Feier des Tages heraus“, lenkte Eduard ab.
„Sie haben sich wirklich entschieden?“, freute sich Frau Neurieder. „Ja, das sollten wir feiern. Sie machen keinen Fehler, glauben Sie mir.“
„Nein, wir machen keinen Fehler, wir sind sicher.“ Und nach einer kurzen Pause fügte Eduard hinzu: „Na, dann wollen wir das mal begießen.“ Damit führte er sie aus dem Zimmer in Richtung Keller und lächelte Emma aufmunternd zu. „Kommst du auch, Schatz?“
„Bin schon da.“ Emma eilte hinter den beiden her.
Als Frau Neurieder die letzte Stufe errechte hatte, blieb sie stehen und sah sich um. Auf ihrem Gesicht malte sich Verwunderung ab im Schein von Dutzenden Grablichtern, die den Keller rot flackernd erleuchteten. Doch Emma drängte sie weiter.
„Kommen Sie!“, ermunterte sie Eduard. „Dieses Licht hat doch etwas, nicht wahr? Wir lieben diese Stimmung. Brennt drei Tage lang.“
„Ich weiß nicht“, murmelte Frau Neurieder. Ihr Blick fiel auf die Flaschen im Weinregal, aus dem Eduard jetzt einen Tropfen heraussuchte. „’Altendorfer Spätes Mädchen’“, kündigte er an, „genau das Richtige.“
Auf einem kleinen Tisch neben dem Weinregal befand sich ein geschwungener Flaschenöffner, den Eduard zur Hand nahm und damit den Blick auf das daneben liegende aufgeschlagene Buch lenkte.
„Nur zu, Frau Neurieder!“ Emma schob sie zum Tisch.
Sybille Neurieder las die zierliche Handschrift.
„Lesen Sie ruhig laut“, forderte Eduard auf, während er zwei Gläser mit Rotwein füllte.
Ganz automatisch begann sie: „Ferdinand, Helmut, Julia, Cornelius, Edwin, Renate.“ Sie geriet ins Stocken. „Lauter Namen. Was bedeutet das?“
„Das ist unser Gästebuch. Alle unsere Lieben, die uns im Laufe der letzten vierzig Jahre besucht und dann verlassen haben, haben wir dort verzeichnet, zum ewigen Gedenken.“
Ihr Besucherin las weiter: „Thorben, Annegret, Lydia, Gustav, Karl-Otto.“ Vorsichtig sagte sie: „Sie haben wirklich eine Menge Menschen verloren.“
Gedankenvoll schwenkte Eduard den Rotwein in seinem Glas. „Wir können uns kaum noch an alle erinnern.“
„Ferdinand ist uns der Liebste. Er war der Erste“, warf Emma ein und griff ebenfalls nach einem Glas. „Was meinst du, Schatz? Ferdinand könnte Gesellschaft gebrauchen. Nach all den Jahren.“
Ungläubig wandte sich Frau Neurieder um. „Sie denken doch nicht an Selbstmord? Wir haben doch eben noch über die hübschen Altenwohnungen gesprochen!“
„Aber nein, wo denken Sie hin?“ Emma stellte ihr Glas ab und ergriff Frau Neurieders Hände. Sie hielt sie fest, während sie erklärte: „Ferdinand ist der Einzige, den wir hier begraben haben.“
Frau Neurieder sah sie an.
„Alle anderen liegen in der Umgebung im Wald an verschiedenen Stellen.“
Ihre Augen öffneten sich weit.
„Natürlich in einiger Entfernung. Schließlich sind wir nicht dumm.“
Frau Neurieder versuchte, die Hände zurückzuziehen. Für ihr Alter war Emma ungewöhnlich kräftig. Frau Neurieder zerrte, wand sich. Es half nichts. Sie stemmte sich gegen die Kraft, die sie festhielt, drängte zur Treppe. Doch Emma ließ sich nicht beirren.
„Das perfekte Verbrechen. Jeder sagt, das gibt es nicht. Es hat uns gereizt. Und wissen Sie, wir haben es geschafft. Wir tun es seit vierzig Jahren!“
Entsetzen spiegelte sich in Frau Neurieders blauen Augen. Ihren Schrei schnĂĽrte der Seidenstrumpf ein, den Eduard ihr von hinten umlegte.
„Sie sind unser Ehrengast zum Vierzigjährigen! Ferdinand wird sich freuen. Wir behalten Sie hier, es ist ja noch Platz im Keller.“
Eduard zog die Schlinge immer fester zu.
„Schreiben Sie sich eigentlich mit 'i' oder 'y'?“, fragte Eduard außer Atem, gerade bevor Sybille Neurieders Hände in Emmas Umklammerung erschlafften.

Letzte Aktualisierung: 25.02.2011 - 19.25 Uhr
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