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Süchtig nach ... | März 2011
Das Angebot
von J. Th. Thanner

1992, zwanzig Jahre nach seiner Heirat, kam ein Mann zu meinem Vater und bot ihm 100.000 Mark, wenn er sich scheiden ließe und seine Frau freigäbe. Er wolle sie selbst heiraten, erklärte der Fremde. Mein Vater, damals in den Fünfzigern, nickte schwer bei diesen Worten. Nach Aussage des Mannes wusste meine Mutter nichts von diesem Angebot, und so sollte es bleiben.
Nach drei Tagen Bedenkzeit lehnte mein Vater ab. Er hatte es sich nicht leicht gemacht, hatte sorgfältig das Für und Wider abgewogen, eine Plus- und Minus-Liste aufgestellt und die Sache mit seinem besten Freund, einem ehemaligen Handballer, der heute Versicherungen verkauft, besprochen. Sie waren der einhelligen Meinung, mein Vater solle sich den Mann warm halten, um ihn in Krisenzeiten das Angebot erneut machen zu lassen, jedoch in doppelter Höhe. Denn wo 100.000 Mark waren, waren auch 200.000 Mark.
Der Fremde war nicht begeistert von der Antwort meines Vaters. »Lieben Sie sie?«, fragte er aufgebracht. »Selbstverständlich liebe ich sie«, antwortete mein Vater. »Ich auch«, sagte der Fremde, »seit über dreißig Jahren. Aus der Ferne, sozusagen.« – »Das tut mir leid«, sagte mein Vater. »Mir nicht«, antwortete der Fremde. »Aber ich habe jetzt lange genug gewartet. Ich dachte, ich muss jetzt etwas unternehmen, oder mein Traum wird sich nie erfüllen. Ich möchte wenigstens noch ein paar gute Jahre mit Ihrer Frau verbringen, und dass Sie sterben, damit ist nicht zu rechnen, zumindest nicht so rasch, wie ich mir das wünschen würde.« – »Da könnten Sie recht haben«, sagte mein Vater und bot dem Fremden eine Flasche Bier an. Bei diesem Gespräch saßen sie im Wohnzimmer am Esstisch und tranken, während meine Mutter in der Küche Hirtenauflauf zubereitete, den sie nach dem Gespräch alle zusammen verspeisten.
Meine Mutter war einst eine schöne Frau gewesen; ich habe Fotos aus ihrer Jugendzeit gesehen. Ihr schwarzes Haar, die schlanke Figur und die nicht zu übersehenden Rundungen hatten die Männerwelt betört. Dass sie an meinem Vater hängengeblieben war, war wohl reine Liebe gewesen, denn er hatte nie besonders viel besessen noch war er ein reicher oder hübscher Mann gewesen. Ich kenne viele Leute, die meinen Vater um diesen »Fang« beneideten. Selbst Jungs in meinem Alter habe ich meine Mutter anstieren sehen; der Wunsch, sie als Mutter zu haben stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Ich habe nie beobachtet, dass meine Mutter mit meinem Vater gestritten hätte. Aus meiner Sicht war ihre Ehe mehr als glücklich; sie war vollkommen. Allerdings war sie nicht mehr ganz so taufrisch, als der Fremde meinem Vater das Angebot unterbreitete, und etwas zugenommen hatte sie auch.
An jenem Abend kam keine Einigung zustande. Nachdem sie den Hirtenauflauf verspeist und jeder noch ein Glas Wein getrunken und ein wenig gescherzt hatten, verließ der Fremde unsere Wohnung. Zwei Jahre lang sah ich ihn nicht wieder. Weder in einer der Kneipen der Stadt noch auf der Straße noch in irgendeinem der Läden, in denen ich damals einkaufen ging.
Zwei Jahre später gab es Schwierigkeiten. Sie begannen mit dem Brief eines Rechtsanwalts, der uns ins Haus flatterte. Doch bevor ich weitererzähle, muss ich etwas vorausschicken: Ich hatte nie gehört, gesehen oder sonstwie mitbekommen, dass mein Vater und meine Mutter den Geschlechtsakt vollzogen. Sie wussten das immer akribisch vor mir und meinen Schwestern zu verbergen. Als ich einmal am Mittagstisch freiheraus ein Erlebnis, das ich mit einem Mädchen gehabt hatte, erzählen wollte, legte mein Vater die Hand auf meinen Arm und sagte: »Der Gentleman genießt und schweigt.« Das war eine von drei Gelegenheiten, wo ich ihn das sagen hörte, und wenn ich zurückdenke, gab es niemals eine Situation, in der er schlecht über Frauen gesprochen hätte. Ich weiß von einer Frau, die vor seiner Hochzeit seine Freundin war, und von einer anderen vermute ich, dass sie meinem Vater einmal nähergekommen war – ebenfalls vor seiner Hochzeit –, aber Genaues weiß man nicht und wird es vielleicht niemals wissen. »Der Gentleman genießt und schweigt.«
Es sorgte für einigen Aufruhr im Haus, als ein Rechtsanwalt namens Dr. A. Filius von meinem Vater 120.000 Mark für den Unterhalt eines Kindes verlangte, das er mit einer Frau namens Gerlinde Stowibke gezeugt haben soll. Diese Frau hatte meinen Vater verklagt, und der Junge sollte in meinem Alter sein. Nach dieser einmaligen Forderung, so erklärte Dr. Filius, würde mein Vater nie wieder etwas von diesem Kind hören; der Junge und seine Mutter würden aus seinem Leben verschwinden, als hätten sie nie existiert. Mit 120.000 Mark wären alle Forderungen von Adam und Eva bis zum jüngsten Tag abgegolten.
Man konnte regelrecht zusehen, wie mein Vater auf der Kopfseite des Tisches in sich zusammensank, die Hände links und rechts des Briefes auf der Tischplatte abgelegt, die braune Bierflasche im Licht der Dämmerung, die tiefen Schatten, die das Zimmer durchzogen und sich schwer auf das Haupt und die gerunzelte Stirn meines Vaters legten. Wir alle schnauften schwer, vor allem, als wir unsere Mutter sagen hörten: »Du hast ein Kind? Außerhalb dieser Familie? Gezeugt?« Sie wiederholte das pausenlos mit tiefer Stimme, anscheinend war sie in irgendeine Art von Feedback-Schleife gefallen.
Schließlich nickte mein Vater. »Ich werde das nicht kampflos akzeptieren«, sagte er. »Ich verlange einen Vaterschaftstest. Ich …«
Meine Mutter sagte nur: »Du hast keine 120.000 Mark«, stand auf und verließ das Zimmer.
Der Vaterschaftstest brachte das zutage, was alle befürchtet hatten: Vater war der Erzeuger dieses Jungen namens Julian, den er nie gesehen hatte und nie sehen würde, und für dessen bloße Existenz er jetzt würde bezahlen müssen. 120.000 Mark für ein ganzes Leben – eigentlich recht wenig, wenn man’s bedenkt. Doch wie meine Mutter schon sagte: Er hatte keine 120.000 Mark.
Irgendwo an einem sicheren Ort musste mein Vater die Visitenkarte des Fremden aufbewahrt haben. Sie war so sicher aufbewahrt, dass keiner von uns sie jemals fand, und so gut aufbewahrt, dass mein Vater sich nach zwei Jahren sogleich daran erinnerte, wo sie steckte. Ich vermute, hinter dem Schlafzimmerspiegel, doch meine Schwestern teilen diese Meinung nicht. Jedenfalls sah ich den Fremden kurze Zeit später unten im Hof stehen und mit meinem Vater reden.
Später erfuhr ich die Einzelheiten. »Ich bin jetzt bereit, sie Ihnen zu überlassen«, sagte mein Vater, »für 200.000 Mark.« Der Fremde schüttelte den Kopf. »Zwei Jahre sind vergangen«, sagte er, »zwei Jahre, in denen mir das Herz blutete, in denen ich mich hoffnungslos nach Ihrer Frau verzehrte, und – sehen Sie sie an – sie nicht gerade hübscher geworden ist. Hat sie zugenommen? Diese Falten waren damals auch noch nicht da. Nun, um es kurz zu machen, ich biete Ihnen 70.000 Mark.«
Mein Vater, Pferdehändler von Beruf, wusste über die Haltbarkeit verderblicher Ware; er schluckte zwei Mal trocken, bevor er nickte. Dann konnte man beobachten, wie sie sich die Hände schüttelten. Der Fremde war urplötzlich von einer fiebrigen Erregung erfasst, strahlte übers Gesicht und fragte meinen Vater, ob er nicht mit ins Haus kommen dürfe, um sich drinnen über die Einzelheiten zu unterhalten und mit meiner Mutter zu sprechen. »Das Eis zu brechen«, nannte er es. »Tauwetter«, nannte er es. »Eine verdammte, ekelhafte Annäherung«, nannte es mein Vater, »eine Beleidigung und ein Schlag ins Gesicht, im eigenen Haus, vor den Kindern.«
Die Scheidung war hundsgemein und erbärmlich. Meine Mutter verstand die Welt nicht mehr. Niemand hatte es für nötig befunden, sie über die Zusammenhänge in Kenntnis zu setzen, und so fand sie sich plötzlich auf der Straße wieder, getrennt von Mann und Kindern, die Schlösser in den Türen ausgetauscht, Letztere verschlossen. Glücklicherweise gab es da diesen Fremden, der sich rührend um sie kümmerte, der sie aufnahm, ihr zunächst eine Unterkunft und dann ein Heim bot, und sie schließlich nach Ablauf eines Jahres ehelichte.
So war das, und das wäre die ganze Geschichte gewesen, wäre mein Vater mit dem Geld glücklich geworden. Doch das wurde er nicht. Er musste noch weitere 50.000 Mark zusammenkratzen, um die Forderung des Rechtsanwaltes zu erfüllen, und als der Trubel mit Gerichtsverhandlung, Gerichtsvollzieher und Rechtsanwalt vorüber war und er frauenlos, mittellos und kinderlos (denn wir verachteten ihn für das, was er getan hatte, und trennten uns von ihm) mit einem großen Soll auf dem Konto des Lebens und einem bedrückenden Kredit zurückgeblieben war, wurde ihm bewusst, dass er nicht weniger als alles verloren hatte. Wie zuvor der Fremde, verzehrte sich nun mein Vater im Verlangen nach meiner Mutter, das so tief wurzelte, wie ich es niemals nachvollziehen und infolgedessen nur unzureichend beschreiben kann. Jedenfalls fand ich meinen Vater zwei Jahre später in seiner Wohnung; er hatte sie kaum noch verlassen, außer um zum Supermarkt rüberzuschlurfen und dort Bier und anderes Zeugs zu kaufen, das seine Leber zerfraß. Er tat alles, was in seiner Macht stand, um seinen Abgang zu beschleunigen. Die ganze Wohnung stand voll leerer Wodka- und Schnapsflaschen, anscheinend hatte er nie welche zurückgebracht, sondern immer nur neue, volle, stärkere und schärfere herbeigeschafft. Er musste alles daran gesetzt haben, die Einsamkeit aus seinem Gehirn herauszubrennen, niemand weiß, ob es ihm gelungen ist. Ich sah seinen Leichnam, er lag gekrümmt im Wohnzimmer auf dem Boden und war nur noch ein ausgemergeltes, verkümmertes Abziehbild dessen, was er all die Jahre über gewesen war. Am Besten, ich erspare mir jede weitere Beschreibung, denn ich möchte dieses Bild ohnehin vergessen.
Und meine Mutter? Sie führte eine glückliche Ehe mit ihrem zweiten Mann, bis er 2005 an einem Herzanfall verstarb, nachdem er noch acht Jahre an Diabetes Typ 2 gelitten hatte. So viel ich weiß, hatte er ihr niemals erzählt, wie er sie meinem Vater »abgekauft« hatte, aber jede Ehe hat ihre Geheimnisse, und wie war das? Ein Gentleman genießt und schweigt.

© J. Th. Thanner, März 2011

Letzte Aktualisierung: 09.03.2011 - 08.50 Uhr
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