Helga schloss ihre Augen und sog tief den zarten Hauch von Moschus und Amber ein.
Die geschlossenen Augenlider flatterten unruhig.
Ein WohlgefĂŒhl strömte durch ihren Körper.
Sie fuhr sanft mit zittrigen Fingerspitzen ĂŒber die FlĂ€chen und Konturen.
Ăber ihrer Oberlippe bildeten sich SchweiĂperlen.
Ein lautes, aber freundliches. âKann ich Ihnen helfen?â riss sie aus dieser VerzĂŒckung.
Das grelle Licht der Strahler schmerzte in Helgas Augen. Sie lehnte sich zurĂŒck und atmete tief durch. Die VerkĂ€uferin nahm die Schuhe an sich.
âEin extravagantes Modell. Crashlack mit Wildleder kombiniert.â
Und ehe Helga sich versah, schmĂŒckten diese Schuhe ihre FĂŒĂe.
âSchwarz ist in diesem Sommer stark angesagt. Genau das Richtige fĂŒr eine selbstbewusste, emanzipierte Frau.â
âOh jaâ, hauchte Helga und wischte sich ihre feuchten HĂ€nde rasch am Mantel trocken. Sie stand auf und betrachtete die Pumps von allen Seiten im Standspiegel.
Herzrasen.
âKaufen! Kaufen!â, befahl eine innere Stimme.
âAchten Sie auf die NahtfĂŒhrung. Dadurch wirkt Ihr FuĂ zierlich.â Die VerkĂ€uferin stöhnte. âWir haben leider alle keine ModelmaĂe.â
âWas kosten die?â Helgas Stimme klang brĂŒchig. Sie schritt auf und ab. BemĂŒhte sich um einen eleganten Gang.
âBemerken Sie den Schockabsorber? Der ist unsichtbar im Absatz untergebracht.â Sie kicherte. âDas ist vergleichbar mit StoĂdĂ€mpfern bei einem Auto. Jeder Schritt wird abgefedert. Das schont die Gelenke bis hinauf zur HalswirbelsĂ€ule.â
Helga setzte sich, zog die Schuhe aus und drehte einen in ihren HĂ€nden hin und her.
âKauf sie endlich!â
âMit Gelenkpelotte.â Die Verkaufsdame erhöhte nun ihre Stimmlage. âUnd weil der Absatz im Mittelpunkt zur Ferse gearbeitet ist, haben Sie stets einen sicheren Stand.â
âDie sind, sind, so, so schönâ, flĂŒsterte Helga stockend, âwie ein Kunstwerk.â Sie roch wieder an den Schuhen, schloss abermals die Augen und inhalierte den Geruch gegerbten Leders.
âItalienisches Kalbsleder auf deutschen Leisten gearbeitet.â
âIch könnte mir mit diesen Pumps einen Theaterbesuch vorstellenâ, hörte Helga ihre Stimme wie aus weiter Ferne. Sie öffnete die Augen.
Die VerkĂ€uferin lĂ€chelte. âOder ein Dinner mit dem Liebsten?â
Helga sah sich in einem schwarzen Chiffonkleid ein Restaurant betreten. Der Kellner wĂŒrde sich leicht vor ihr verbeugen und ein dezentes Kompliment flĂŒstern. Ihr Mann Michael sĂ€Ăe bereits am Tisch und wĂŒrde ihr den Stuhl zurechtrĂŒcken. "Wow! Du bist die eleganteste Dame im Lokal.â
Und der Champagner prickelte in der Kehle.
âIch nehme die Schuheâ, sagte Helga hastig.
Das Paar wurde ihr aus den HĂ€nden genommen und flink in den Karton gelegt.
âDie Kasse ist drĂŒben. Ich beglĂŒckwĂŒnsche Sie zu ihrer Entscheidung.â
Helga bezahlte und nahm die Tragetasche in Empfang.
Die VerkĂ€uferin hielt die TĂŒr auf. âUnd viel VergnĂŒgen im Theater und beim Dinner.â
Helga ging mit weichen Knien zur Haltestelle. Es kam ihr vor, als trage sie eine Zentnerlast in der Einkaufstasche heim.
. . .
In der Diele stank es nach Nikotin.
âWo warste so lange?â, hörte sie ihren Mann aus dem Wohnzimmer rufen. âHaste Bier, Schnappes und Tabak mitgebracht?â
Daran hatte sie nicht mehr gedacht. Ihre Kehle wurde trocken.
Eilig quetschte Helga den Schuhkarton in die letzte freie Ecke des Dielenschrankes. Danach hĂ€ngte sie ihren Mantel und den SchlĂŒssel an den Garderobenhaken.
âIch habe dich was gefragt!â, rief Michael. Er hustete gequĂ€lt.
Sie holte die letzte Flasche Bier aus dem KĂŒhlschrank und stellte sie vor ihn auf den Wohnzimmertisch. âDie Letzte. Ich hatte meine Geldbörse vergessen.â Wieder kam es ihr vor, als sei ihre Stimme weit weg.
Er rĂ€usperte sich und zog die TrĂ€ger seines Unterhemdes zurecht. âAch so! Vergessen! Madame vergisst in letzter Zeit ziemlich viel!â, brĂŒllte er und sein Gesicht lief hochrot an. âUnd gekocht hast du auch nicht! Was tust du den ganzen Tag, wenn ich auf der
Arbeit bin?â
âIch mache dir Salat und RĂŒhrei.â Helga wandte sich um und wollte in die KĂŒche gehen.
Er schnellte hoch, schnappte seine Frau an ihrer Bluse und riss sie auf das Sofa. âIch mag aber kein Kaninchenfutter und labberiges Eiâ, zischte er.
Sie wandte sich angeekelt ab, weil sein Atem nach Schnaps stank.
âDann taue ich ein Steak in der Mikrowelle auf.â Helga wollte sich aufrichten.
Michael drĂŒckte sie nieder.
âIch esse aber nichts Aufgetautes!â An seinem Hals trat dick eine Ader hervor.
Der Alkoholgeruch erzeugte bei Helga ein WĂŒrgen.
Er holte aus und gab ihr eine Ohrfeige. âWarst bestimmt wieder in SchuhlĂ€den, anstatt dich um den Haushalt zu kĂŒmmern!â
Helga wimmerte und schĂŒttelte den Kopf.
Michael zĂŒndete sich eine Zigarette an. Helga nutzte diesen Moment und stand auf. âEs ist noch ein frisches Schnitzel im KĂŒhlschrank. Das brate ich dirâ, sagte sie leise und hielt ihre kĂŒhle HandinnenflĂ€che auf die heiĂe Wange.
Michael rĂŒlpste, nahm einen Schluck aus der Bierflasche und stellte den Fernseher an. Helga blieb in der WohnraumtĂŒr stehen und rieb sich die Wange. âWenn du nicht immer betrunken von der Arbeit kommen wĂŒrdest, könnten wir mal wieder in ein Restaurant gehen. Wie frĂŒher.â Sie schluchzte. âBitte hör mit der Sauferei auf.â
Er lachte schallend und stellte den Fernseher lauter. âVon dir lasse ich mir mein Feierabendbier nicht verbieten! Kannst ja gehen, wenn âs dir nicht passt!â
Helga zuckte mit den Schultern und ging in die KĂŒche. âIch werde dich auch verlassen!â
Er lachte schrill. âAber von mir kriegste keinen mĂŒden Cent Unterhalt!â
Gerade, als sie mit dem Teller in die Diele kam, polterte Michael ihr entgegen. Fast hĂ€tte sie das heiĂe Essen ĂŒber seinen Oberkörper geschĂŒttet.
âPass doch auf, du tollpatschige Kuh!â Er wedelte mit einem Blatt vor ihrem Gesicht herum. âDas ist unser Kontoauszug!â
Sie huschte in den Wohnraum und stellte den Teller ab. âIss doch erst. Wird sonst kalt.â Helga wischte ihre schweiĂnassen HĂ€nde an den Seiten ihrer Jeans ab.
Sein aufgedunsenes Gesicht lief wieder rot an. âFĂŒnfhundert Miese!â
Helga ging in die KĂŒche. Ihre Kehle war wieder trocken. Sie hielt ein Glas unter den laufenden Wasserhahn und trank. Aber der Knoten in ihrer Kehle wollte sich nicht auflösen. Sie wischte das Tranchiermesser sauber und legte es auf die AbtropfflĂ€che der SpĂŒle. Dann nahm sie einen weiteren Schluck.
In der Diele rumorte Michael. Er warf Schuhkartons umher. âAlles voller Schuhe! So viele, dass sich die Einlegeböden biegen! Die Alte stĂŒrzt mich in den Ruin!â
Er stĂŒrmte in die KĂŒche, riss Helga von der SpĂŒle fort und drĂŒckte sie wuchtig gegen den KĂŒhlschrank. Das Wasserglas fiel herab und zersprang klirrend. Helga rang nach Luft. âSchnaps, Bier und Zigaretten kosten auch Geld!â, keuchte sie.
âAber im Gegensatz zu dir gehe ich dafĂŒr malochen!"
Michael bekam einen Hustenanfall und lieĂ von ihr ab. Er lief wieder in die Diele und warf wĂŒtend Schuhkartons auf den Boden. Dann stampfte er auf die Schuhe herum.
Helga folgte ihm. Sie weinte. âDu weiĂt genau, wie schwer es ist, in meinem Alter eine neue Stelle zu finden. Und ab und zu was Schönes möchte ich mir doch auch gönnen."
Er warf ihr einen Schuh an den Kopf. âIn diese Treter passen deine ElefantenfĂŒĂe sowieso nicht rein!â
Seine Grimasse mit den Bartstoppeln und den verfaulten, gelben ZĂ€hnen verschwamm vor ihren Augen.
Er stieĂ sie zu Boden. âRĂ€um mir diese Dreckstreter aus den Augen!â
Helga raffte die Schuhe unter sich zusammen. WĂŒtend warf er weitere Paare auf sie und grölte. âBeeil dich! Musst noch mein Feierabendbierchen besorgen!â
Sie spĂŒrte einen stechenden Schmerz im RĂŒcken, weil ein Absatz hart ihre Rippen getroffen hatte. FĂŒr einen Augenblick blieb ihr der Atem weg.
Der Geruch des Leders vermischte sich mit seinem Gestank nach SchweiĂ. Helgas HĂ€nde krallten sich an Sandaletten fest.
Das Trommelfeuer auf ihrem RĂŒcken nahm kein Ende. Ihr wurde ĂŒbel und sie erbrach sich. Seine Schimpftiraden drangen nur noch bruchstĂŒckhaft an ihre Ohren.
âFreie Putzstellen gibt es genug!â... âFaule Schlampe!â
Helga atmete tief durch. âIch kann deine Erniedrigungen nicht mehr ertragen!â, stieĂ sie hervor.
âHeb deinen Hintern hoch und hole endlich Schnappes!â
Ihr Oberkörper bĂ€umte sich auf. Sie sprang ihm entgegen und schlug mit dem spitzen Absatz der Sandale auf Michaels Visage ein. Er verschrĂ€nkte die Arme schĂŒtzend vor seinem Gesicht und taumelte von der Diele in die KĂŒche. âDu wagst es, aufmĂŒpfig zu werden?â Helga sah, wie sein Blick das Tranchiermesser traf. Dieses Aufblitzen in seinen Augen!
Da ergriff sie das Messer ...
. . .
Michael lag winselnd auf dem KĂŒchenboden und wollte nach ihren Knöcheln greifen. Helga sprang zur Seite. Sie lief in die Diele, zog sich Schuhe und Mantel an. Nahm ihre Handtasche, blieb stehen und blickte in die KĂŒche. âIch gehe!â, kreischte Helga. Sie schlotterte am gesamten Körper.
Michaels Augen starrten ins Leere. Er röchelte. âBeweg deine ElefantenfĂŒĂe.â Aus einem seiner Mundwinkel rann Speichel herab. âBier.â
BlutdurchtrÀnkt das Unterhemd.
Sie schritt langsam an ihn heran und versetzte ihm einen krÀftigen Tritt auf seine Visage.
âHast du meine ElefantenfĂŒĂe gespĂŒrt?â, zischte Helga.
Michaels Kopf fiel leblos zur Seite. Sie stolperte in die Diele und sackte vor dem geöffneten Garderobenschrank zusammen.
Helga schloss die Augen und saugte den Lederduft in sich hinein.
Da ist es wieder.
Das WohlgefĂŒhl.
Letzte Aktualisierung: 15.03.2011 - 19.48 Uhr Dieser Text enthält 9555 Zeichen.