Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespĂŒrt.
Der Fötus ist sechs Monate alt.
Hanna will eine gute Mutter sein. Sie will alles richtig machen.
Ihr Kind soll es weit bringen im Leben.
Sie hat sechs schlaue BĂŒcher gelesen. FĂŒr jeden Monat eines.
Im ersten Monat isst sie eiweiĂreich und in abwechselnden Farben.
Im zweiten Monat isst sie nur Kartoffeln und Quark.
Im dritten Monat isst sie Fisch und Reis.
Im vierten Monat isst sie nur gekochtes Huhn und Hirsebrei.
Im fĂŒnften Monat isst sie vegan und bio.
Im sechsten Monat isst sie Rohkost nach festgelegter Reihenfolge und streng nach Uhrzeit.
Jeden Monat sagt ihr ein neuer Ratgeber, was sie essen soll.
Sie will alles richtig machen.
Im siebten Monat kommt sie mit Mangelerscheinungen ins Krankenhaus.
âSo nichtâ, sagt der Arzt und entlĂ€sst sie mit einem festen Speiseplan: normal und von allem. Wie Cousine Bauerntrampel auf dem Land.
Hanna hÀlt sich daran.
Widerwillig.
Ihr Kind soll einmal schlauer sein als andere Kinder.
Ihr Kind soll ein besseres Abi, einen besseren Abschluss, einen besseren Job, einen besseren Ehepartner, ein besseres Leben haben.
Sie legt nach einem ausgeklĂŒgelten System Kopfhörer mit Mozart und Lyrik auf ihren Bauch.
Sie beschallt ihn mit englischen HörbĂŒchern. âUlyssesâ von James Joyce und âThe Seven Habits of Highly Effective Peopleâ.
Sie besucht Schwangerschaftsgymnastik und Aqua Fitness, homöopathische Partnermassage; ĂŒbt sich an ayurvedischem Chorgesang fĂŒr werdende MĂŒtter und macht eine Klangschalentherapie nach Orff.
Im achten Monat brennt ihr Mann mit seiner SekretÀrin durch.
Auch gut, denkt Hanna, er hat seinen Zweck erfĂŒllt.
Sie gebiert im VierfĂŒĂerstand.
Es ist ein Junge.
Er soll Jan-Emmanuel heiĂen.
Jan-Emmanuel ist sechs Monate alt. Er weint.
Das Kind soll die ungeteilte Aufmerksamkeit der Mutter haben. Sagt der aktuelle Ratgeber.
Sie nimmt Jani hoch, wiegt ihn, wickelt ihn, fĂŒttert ihn, trĂ€gt ihn durch die Nacht.
Und die nÀchste.
Und die ĂŒbernĂ€chste.
Sie hat im BĂŒro Probleme, wach zu bleiben. Sie lĂ€sst sich ein Home-Office einrichten, um die adĂ€quate Versorgung ihres Sohnes und ihren Beruf als Graphikdesignerin besser zu vereinbaren.
Sie gibt Beruhigungs-Globuli in seine Milch.
Jan-Emmanuel ist ein Jahr alt.
Hannas AnwĂ€ltin hat ganze Arbeit geleistet. Der monatliche Unterhaltsscheck fĂ€llt sehr groĂzĂŒgig aus.
Die Besuchsregelung dafĂŒr sehr restriktiv.
So kann Ex ihren Jani wenigstens nicht mit seinen bescheuerten Hobbys wie FuĂball (Igitt) und seinen schlechten Angewohnheiten â Socken auf der Heizung, Geschirr auf dem Boden (doppeltes Igitt) anstecken.
Hanna macht zur Feier eine Flasche Sekt auf.
Jan-Emmanuel ist drei Jahre alt. Hanna ist zu einer Hochzeit eingeladen. Damit er ruhig hĂ€lt, hat sie TrinkflĂ€schchen, ApfelstĂŒcke und Reiswaffeln dabei.
Beim Orgelvorspiel will er aufstehen und durch die Kirche tanzen.
Hanna setzt ihn hin und stopft ihm ein StĂŒck Apfel in den Mund.
Bei der BegrĂŒĂung des Pfarrers stellt Jan-Emmanuel eine Frage nach der anderen. Sie steckt ihm die Trinkflasche in den Mund.
Nach dem zweiten Lied hat er Hunger. Sie schiebt ihm eine Reiswaffel zwischen die Lippen.
Er spuckt die Reiswaffel aus. Es ist pfuibÀh, er will Fuchwerge haben.
Sie gibt ihm ein StĂŒck Apfel.
Er spuckt den Apfel aus. Es ist pfuibÀh, er will Fuchwerge haben.
âIch habe hier keine Fruchtzwerge, Schatzâ, sagt Hanna.
âICH WILL ABBA ICH WILL ABBA ICH WILL ABBAâ, kreischt er.
Hanna verlÀsst mit ihm die Kirche.
Jan-Emmanuel ist vier Jahre alt.
Er soll frĂŒh seine SelbststĂ€ndigkeit erlangen.
Er darf selbst entscheiden, was er in den Kindergarten anzieht.
Er steht vor dem Kleiderschrank und reiĂt T-Shirts heraus.
âNicht alles auf den Boden werfen, Janiâ, sagt Hanna. Es dauert zu lang. Sie zieht ihm ein blaues T-Shirt und die neuen Shorts von Esprit an.
Er wĂ€lzt sich so lange kreischend auf dem Boden herum, bis sie ihm das rote T-Shirt mit der Eisenbahn anzieht, fĂŒr das er sich eben entschieden hat.
Als Hanna ihn in die Kita bringt, will die Leiterin sie sprechen.
Jani schlÀgt andere Kinder, macht deren Sachen kaputt und stört beim Singkreis.
âEr hat eben eine ausgeprĂ€gte Persönlichkeitâ, sagt Hanna. âSie mĂŒssen mehr auf ihn eingehen.â
Jan-Emmanuel ist sechs Jahre alt.
Er hat keine Lust, in die Schule zu gehen.
âDu musst aber. Sonst kann die Mami nicht zur Arbeit. Die Mami hat einen Termin heute.â
Jani wirft seine Kakaotasse zu Boden, schmettert den Teller gegen die Wand, haut Hanna auf den Kopf und brĂŒllt so lange, bis er sein FrĂŒhstĂŒck auf den KĂŒchenboden erbricht.
Hanna schreibt eine Entschuldigung und bleibt mit ihrem kranken Kind daheim.
Jan-Emmanuel ist sieben Jahre alt.
Hanna sitzt im GesprÀch mit der Lehrerin.
Jan-Emmanuel stört den Unterricht.
Jan-Emmanuel hat nie seine Hausaufgaben.
Jan-Emmanuel weigert sich, die Rechenaufgaben zu lösen.
Jan-Emmanuel hat mit einem Edding die neue Jacke von Riccarda-Melusine beschmiert.
âJani ist hochbegabt. Er kann viel mehr. Er zeigt es nur nicht in ihrem Unterricht. Er ist unterfordert. Sie mĂŒssen mehr auf ihn eingehenâ, sagt Hanna, und beendet das GesprĂ€ch.
Jan-Emmanuel ist neun Jahre alt. Sein Handy ist in der Schule kaputt gegangen. Er braucht sofort ein Neues.
âDas geht nicht, Jani, du bist doch heute bei der Oma wegen meines Massagetermins.â
Jan-Emmanuel geht an Hannas Schreibtisch und nimmt einen Entwurf. Er reiĂt ihn mitten entzwei. Er starrt Hanna an und nimmt das nĂ€chste Blatt hoch.
Hanna ruft ihre Mutter an, dass sie Jani nicht vorbeibringen wird, der Massagetermin habe sich erledigt.
Jan-Emmanuel ist siebzehn Jahre alt. Er ist seit drei Monaten in einer Suchtklinik fĂŒr Jugendliche. Die Therapeuten fragen Hanna nach ihrer bisherigen Erziehungsmethode.
âEr hat eine ĂŒberkreative Persönlichkeit. Sie mĂŒssen mehr auf ihn eingehenâ, sagt Hanna und beendet das GesprĂ€ch.
Sie hat keine Zeit. Seit Kurzem hat sie einen neuen Partner. Heute will sie in die Buchhandlung gehen und nach neuen Ratgebern Ausschau halten.
Sie ist schwanger.
Sie will eine gute Mutter sein.
Sie will alles richtig machen.
Letzte Aktualisierung: 23.03.2011 - 15.43 Uhr Dieser Text enthält 8868 Zeichen.