'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
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Süchtig nach ... | März 2011
Die ungleichen Schwestern
von Hajo Nitschke

Es waren einmal zwei Schwestern. Wie es das Schicksal wollte, waren sie als Zwillinge auf die Welt gekommen. Als man sie der Mutter ans Herz legte, verlor jene vor Schrecken die Besinnung. Ihre Töchter hatten einen gemeinsamen Körper, aus dem zwei Köpfchen herauslugten! Die Hebamme hat das Ungeheuer, wie sie es nannte, gleich an sich nehmen und mit einem Gott-sei-bei-uns ertränken wollen. Aber in dem Moment, da sie in die Augen des Kopfes zur Rechten schaute, ging mit ihr eine rätselhafte Veränderung vor. Diese Augen geboten ihr mit der Macht einer Herrscherin Einhalt. Just in selbigem Moment erwachte die arme Mutter und wollte anheben zu schreien. Doch der Kopf zur Rechten drehte sich ihr zu. Und da verstummte sie.

So kam es, dass den kleinen Wesen ein zweites Mal das Leben geschenkt ward. Der Kopf auf der rechten Seite erhielt den Namen Gertrud, der andere Johanna. Diese war von Anbeginn die Stillere von beiden. Und als sie heranwuchsen, geriet sie zu einem sanften, lieblichen Menschenkind. Gertrud aber war eigensinnig, zänkisch und beherrschend. Es darf mit Fug und Recht gesagt werden, Gertrud habe ihren eigenen Kopf gehabt. Der Vater, ein armer, aber rechtschaffener Schneider, versuchte mit Strenge, die ungeratene Tochter Güte und Bescheidenheit zu lehren. Aber er konnte ihr so viel Backpfeifen geben wie er wollte, sie blieb verstockt. Und als er sie eines Tages wieder züchtigen wollte, befahl sie ihm mit den Blicken einer Löwin, abzulassen.

Sehr bald zeigte sich, dass Trudchen das Leben der Schwestern bestimmte. Hannchen folgte ihr, so stark war ihre finstere Schwester. Als beide fünf Jahre alt waren, schenkte die Mutter ihnen eine wunderschöne Puppe mit niedlichem Gesichtchen und Kulleraugen. Da befahl Trudchen der Puppe, den Kopf auf unnatürlichste Weise rückwärts zu verdrehen. Sie tat es, wobei Trudchen tüchtig nachhalf. Hannchen weinte bitterlich.

Mit acht Jahren tat Trudchen kund, sie werde dem Hündchen ihren Willen aufzwingen. Es war gewohnt, das Bett mit den Schwestern zu teilen. Du dummer Köter, herrschte sie jenen an, wirst hinfort draußen auf dem Hofe schlafen! Und siehe da, das arme Tierchen tat wie ihm geheißen, wenngleich auch erst nach einigen Stockschlägen.

Als Hannchen und Trudchen die ersten zehn Jahre ihres Lebens hinter sich hatten, war Letztere zum Oberhaupt der Schneidersfamilie emporgestiegen. Es hatte sich jeder nach ihren Befehlen und Aufträgen zu richten. Die Eltern nahmen es seufzend hin, es war schier unmöglich, dem Kinde etwas abzuschlagen. Einmal stopfte der Vater Gertruden im Schlaf einen Flicken in den Mund, den er fest mit einem Tuch umwickelte. Die Geknebelte erwachte alsbald, weckte ihre Schwester und befahl, sie von dieser Last zu befreien. Dann stellte sie den Vater so zur Rede, dass er sie von Stund an in allem gewähren ließ.

Mit vierzehn wollte Hannchen den Eltern im Hause zur Hand gehen und bei des Vaters Tagewerk helfen. Tüchtig angestellt, mochte mancher Taler das karge Einkommen aufbessern. Aber sie hatte nicht mit den Plänen ihrer despotischen Schwester gerechnet. Nichts da, du dummes Ding, verkündete jene, wir werden unser Glück in der Fremde suchen! Und so schnürten sie ihre Ränzlein und verließen Vater und Mutter.

Sie wanderten lange Zeit. Über Stock und Stein ging es, durch Haine und Anger und über Berg und Tal, bis sie zu einer großen Stadt gelangten. Dort bot jemand Anstellung als Schneidersgeselle. Und da Hannchen im Schneiderhandwerk schon recht geschickt war, verdingten sich die beiden dort. Der Meister hatte seine Abscheu über das junge Mägdelein mit den zwei Gesichtern bald vergessen. Dass er dies nur Trudchens beherrschendem Willen verdankte, ward ihm nicht bewusst. Und wie ihm erging es allen Städtern. Wer immer die beiden verfluchen, davonjagen oder ihnen gar nach dem Leben trachten wollte: Ein Blick Trudchens, und er verwandelte sich in einen willenlosen Diener. So kam nach einigen Jahren der Tag, da Trudchen den Meister aus dem Hause jagte und die Geschäfte selber in die Hand nahm. Die neue Herrin verlangte für die Dienste Hannchens Wucherpreise. Doch jedermann zahlte sonder Murren.

Weitere Jahre vergingen. Trudchen hatte sich einen Mann genommen. Einen wackeren Handwerksburschen, den sie allzu schnell zu einem geknechteten Geschöpf abrichtete.
Er tat Hannchen weh, aber sie musste es leiden, dass er nur noch gemeine Dienste für die Schwestern verrichtete und wie ein Sklave gehalten ward. Manchmal, wenn sie sich unbeobachtet dünkte, streichelte sie ihrem Schwager voller Mitleid über seine arme Stirn. Der Geschundene fristete ein freudloses Dasein unter der Knute seiner Gemahlin und wünschte sich manchmal, zu sterben. Sein Weib aber war wie eine böse Königin, die ihre Untertanen quälte, ihren Willen brach und sich um nichts scherte als um ihre eigenen Wünsche.

Waren die Geschwister gemeinsam auf die Welt gekommen, verließen sie diese auch zusammen. Als sie starben, bedauerte es niemand, ging es um Trudchen. Aber um Hannchens willen gab der Pfarrer nach und sie wurden in geweihter Erde begraben. Seite an Seite, so verschieden und doch unzertrennlich.

Im Fegefeuer sorgte Trudchen alsbald für Ordnung. Die Heizer durften nur die vorgezählten Kohlen verfeuern, der Zerberus musste wie weiland das kleine Haushündchen künftig fernab des wärmenden Feuers sein Dasein fristen. Die armen Seelen durften nur auf Trudchens Zeichen seufzen und klagen und der Gehörnte hatte ihr Dienste als Kammerherr zu leisten. Als sie ihm befahl, dem Höllenhund nach draußen zu folgen und vor der Höllenpforte sein Lager aufzuschlagen, schickte er sie fort und ihre Schwester gleich mit.

Sie gelangten aber durch die Himmelstüre ins Paradies. Hannchen ward nun von Engeln geherzt und geliebt. Trudchen indes ordnete an, dass die himmlischen Heerscharen nur noch einmal im Jahre Halleluja sangen. An den anderen Tagen hatten sie Landsknechtlieder zu grölen oder so zotige Verse über liederliche Frauenzimmer anzustimmen, dass der heilige Petrus errötete. Die Erzengel bekamen Weisung, den himmlischen Hofstaat durch Schleiertänze zu unterhalten. Der Uralte auf dem Throne sah sich alles eine Weile an. Dann verwies er Trudchen aus den Gefilden der Seligen. Hannchen musste mit, so leid es ihm tat: Mitgefangen, mitgehangen. Petrus aber übergab am Ausgang ein Bündel von Prüfungsaufgaben. Wenn Trudchen jemand fände, der sich ihrem Willen widersetze, sei sie von ihrer Herrschsucht befreit. Das Elysium stünde wieder offen. Der Uralte und auch der klumpfüßige Schwefelspeier allerdings seien weiterhin unantastbar.

So zogen beide fortan heimatlos durch die Welt. Wann immer Trudchen Anordnungen traf, sie wurden klaglos befolgt. Die Schwestern hatten längst gewahrt, wie es sich mit Trudchen verhielt: Sie musste jeden beherrschen, mochte sie es wollen oder nicht. Aus diesem finsteren Zwange gab es für sie kein Entrinnen. Selbst jetzt, da sie es aus Berechnung auf ein Unterliegen im Streite anlegte, gelang es ihr nicht. Zuletzt blieben nur noch zwei Bewährungsproben.

In den Wäldern eines fernen Reiches hauste ein Riese. Ein grimmiger Unhold, der Menschen fraß. Nun hatte er es sich aber zur Gewohnheit gemacht, jeden zweiten Wanderer zu fangen und zu verspeisen, der ihm unter die Augen kam. Kaum hatten die Schwestern den Wald betreten, stürzte sich der Goliath auf sie. Die Wipfel der Föhren überragten um weniger als eine Elle sein Haupt, aus dem ein schrecklicher, weit aufgerissener Rachen dräute. Hannchen, welche er als Erste wahrnahm, verschonte er. Aber Trudchens Kopf hielt er bereits in den Pranken.


Kalte Blicke senkten sich wie Dolche in die Augen seines Opfers. Doch dieses gab widerwillig und von einer unbegreiflichen Macht getrieben einen noch kälteren Blick zurück. Einen so grausamen, dass der Koloss auf die Knie fiel und um Gnade flehte. Ei, du großer Tor, anderer Mütter Töchter werden dir wohl besser munden, herrschte Trudchen ihn an. Wieder hatte sich ihr Wille als stärker erwiesen, aber sie konnte ob ihres Triumphes nicht frohlocken. Denn hätte der Riese sie mit Haut und Haaren verschlungen, wäre sie und damit auch Hannchen erlöst gewesen.

Mit wenig Hoffnung reisten sie zuletzt gen Sonnenuntergang. Als sie vor den Toren Roms standen, meinte Hannchen verzagt, die Schwester möchte von ihrer Sucht lassen und sich unterwerfen. Was weder Königen noch Kaisern, Riesen und anderen Gewalten gelungen war, das musste wenigstens jetzt gelingen. Sonst wäre Verdammnis ihr Teil für alle Ewigkeit.
Gleichwohl wussten beide, dass Trudchen gegen alle Vernunft in ihrem Eigensinn verharren werde. Wie sie nun beim Heiligen Vater Einlass erhielten, erhob Trudchen die Stimme, als werde sie von fremder Macht gelenkt. Es war die Stimme einer von aller Welt gefürchteten Tyrannin.

Augenblicks solle es ein Ende haben, dass die frommen Kirchenmänner sich über ihre Schäfchen erhaben dünkten. Ich befehle Eurer Heiligkeit, hinfort nicht mehr Eure Unfehlbarkeit zu verkünden, schrie Trudchen. Wenn einer unfehlbar ist, dann ich, fuhr sie fort, und ihre Augen bohrten sich in seine. Nicht dieser, sondern sie habe das Recht, die vielen frommen Seelen zu beherrschen und ihnen ihre Gedanken vorzuschreiben. Er aber werde jetzt Rom verlassen und als Buße eine Wallfahrt antreten.

Der Heilige Vater wich ihrem Blick nicht aus. Und was noch nie geschehen war, geschah: Es war Trudchen, die ihre Augen abwandte. Sie und mit ihr Hannchen wurden aus den Stadtmauern gejagt und durften bei Todesstrafe wegen Ketzerei selbige nie mehr betreten. Zum ersten Mal im Leben und Sterben hatte Trudchen ihren Meister gefunden.

Und das ist der Schluss der Geschichte: Plötzlich fand sich Hannchen allein vor den Toren. Der rechte Kopf war verschwunden. Es gab kein Trudchen mehr, als hätte es nie eines gegeben. Hannchen fühlte sich so erlöst und leicht ums Herz wie noch nie in ihrem Erdenleben. Von weitem sah sie vor den Toren des himmlischen Jerusalems Petrus, der ihr voller Liebe zuwinkte.
Und wenn sie nicht gestorben wäre, so lebte sie noch heute.

Letzte Aktualisierung: 25.03.2011 - 10.14 Uhr
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