Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
Gedankenverloren strich sie über das feine Schultertuch, das ihr als einziges geblieben war. Wolle mit zehn Prozent Seide, ihre liebste Mischung. Wie hatte alles angefangen?
Es war kurz nach ihrem zwölften Geburtstag. Sie erinnerte sich genau an den trüben, aber nicht sehr kalten Novembertag, an dem sie zum ersten Mal geblutet hatte. Das war zu erwarten gewesen und doch riss es Lieselotte abrupt aus ihrem bis dahin relativ unbeschwerten Leben.
Ihr Vater war ein strenger Prediger, dem sehr an der Unschuld seiner doch ohnehin von Erbsünde belasteten Tochter gelegen war. Deshalb begann er an jenem Tag, sie vom Leben fernzuhalten. „Und führe mich nicht in Versuchung“. Die Versuchung lauerte überall.
Lieselotte fügte sich. Sie ging nicht in die Disko, nicht ins Kino, nicht mit den anderen Jugendlichen an den Weiher und sie tat auch all die anderen Dinge nicht, an denen ihre Schulkameraden Spaß hatten. Etwas aber gab es auch für sie: Lieselotte durfte zum Handarbeitskreis der Kirchengemeinde gehen. Den ersten Schal strickte sie damals für ihre Mutter.
Ein Seufzen stieg in ihrer Brust auf. Alles war so in Ordnung gewesen dort … Wenn sie sah, wie ein Schal unter ihren Händen wuchs, vergaß sie alles andere; die Drangsalierungen auf dem Schulhof, die abfälligen Blicke der Jungs, die ihr „Strickliesel“ nachriefen, den strengen Blick des Vaters, sogar ihre Sehnsüchte. Bald beherrschte sie die kompliziertesten Muster und wagte sich an große Schultertücher, in die sie sich fast ganz einhüllen konnte.
Dann zog Klaus in ihre Gemeinde. Lieselottes Blick wanderte gedankenverloren aus dem Fenster … Klaus war anders. Er hatte ein Knalltrauma, von einem Unfall beim Wehrdienst, deshalb mochte er keinen Lärm und ging auch nie in die Disko. Sie trafen sich im Gottesdienst, den er immer vor der Zeit verließ, um dem Abschlussgeläut zu entgehen. Klaus mochte Lieselottes friedlichen Ausdruck, wenn sie strickte. Er nannte sie Lilo und hatte sie tatsächlich gern. Das gleichmäßige Klackern der Stricknadeln beruhigte ihn, wenn er nach einem langen Arbeitstag nach Hause kam. Sie heirateten.
Ihre Hände zuckten, als sie sich an jenen Tag erinnerte.
Zur Verlobung hatte sie ihm einen Schal aus reiner Kaschmirwolle gestrickt, mit einem eigens von ihr entworfenen Zopfmuster, bei dem sich zwei einzelne Zöpfe miteinander verbanden. Ihr Meisterstück bis dahin. Mit diesem Schal hatte sie Klaus erstickt.
Die Anstalt war ganz in Ordnung, fand Lieselotte.
Man ließ sie arbeiten; alle mochten ihre Schals mit den ausgefallenen Mustern und die feinen Schultertücher für die Frauen. Bis der Idiot aus Zimmer 7 versucht hatte, sich mit seinem Schal zu erhängen. Sie hätte ihm gleich sagen können, dass die Wolle und das Zopfmuster dafür zu nachgiebig waren. Mit einem glatt gestrickten Schal, zumal aus Polyacryl – das wäre vielleicht gegangen. Aber so etwas machte Lieselotte nicht; sie verarbeitete nie etwas anderes als reine Wolle, und über die glatt-rechts-Phase war sie längst hinaus.
Jetzt durfte sie keine Schals mehr für die anderen Insassen stricken; sie durfte überhaupt nicht mehr stricken. Man hatte ihr die Wolle weggenommen; zu gefährlich, hieß es. Lieselotte schnaubte empört.
Lieselotte hörte Schritte vor der Tür und schaute auf die Uhr. Es war so weit. Ihr Körper straffte sich, als ihre Finger sich um die Stricknadel schlossen. Kurz zögerte sie noch bei der Vorstellung, die Nadel zu entweihen. Aber es musste sein.
Letzte Aktualisierung: 26.03.2011 - 09.30 Uhr Dieser Text enthält 4639 Zeichen.