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Süchtig nach ... | März 2011

Fortuna
von Lutz Schafstädt

Es war einmal ein Bauer, der lebte mit seiner Familie auf einem kleinen Hof, den er von seinen Eltern geerbt hatte und der ihnen ein leidliches Auskommen sicherte. Der Bauer hieß Gert und baute auf den Feldern hinter der Scheune Gemüse an. Seine Frau Rike half ihm dabei und versorgte außerdem eine Schar Hühner, deren Eier sie auf einem kleinen Tisch an der Straße zum Kauf anbot. Gert und Rike hatten zwei Kinder, die in der benachbarten Stadt die Grundschule besuchten und schon groß genug waren, um beim Unkrautjäten und der Ernte zu helfen.

Das Leben von Bauer Gert war schlicht, doch nicht frei von Sorgen. Einem langen, frostigen Winter war wochenlanger Regen gefolgt, dringend mussten die Felder vorbereitet werden. Und zu allem Überfluss bereitete nun auch noch die Hydraulik des alten Traktors Probleme. Mit Rohrzange und Schraubenschlüssel machte er sich daran, den Fehler zu suchen und hoffte, dass es nur eine undichte Leitung sei, die das Anheben des Pfluges verhinderte. Für eine gründliche Inspektion durch einen Mechaniker fehlte das Geld, weil bereits im Vorjahr die Erträge durch einen viel zu trockenen Sommer nur mager ausgefallen waren.

Als hätte die Welt sich gegen uns verschworen, dachte Gert. Eigentlich muss ein neuer Traktor her, irgendwann wird mich das klapprige Ding im Stich lassen. Bei meinem Glück wird das mitten in der Erntezeit passieren. Uns kann nur noch ein Wunder helfen.

Ein kleines Wunder war für ihn bereits, dass nur die Schelle einer Schlauchverbindung erneuert werden musste. Während er sich mit einem Putzlappen zufrieden das Öl von den Händen wischte, kam ihm ein Witz in den Sinn, den sein Sohn ihm kürzlich erzählt hatte. Dabei ging es um einen, der die Glücksgöttin täglich anflehte, ihm doch einen Lottogewinn zu bescheren - bis die sich irgendwann entnervt bei ihm meldete und ihn aufforderte, doch endlich einmal einen Lottoschein abzugeben.

Nach kurzem Schmunzeln wurde Gert nachdenklich. Warum war ihm das eben eingefallen? Hatte vielleicht Fortuna mit ihm Kontakt aufgenommen? Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Von Arbeit allein ist noch niemand reich geworden. Diese und ähnliche Sprüche fielen ihm plötzlich ein und er meinte viel Wahres darin zu entdecken. Noch am gleichen Tag spielte er den ersten Lottoschein.

Von nun an saß Gert jeden Sonnabend um kurz vor acht erwartungsvoll vor dem Fernseher. Er hielt es für wichtig, den Kugeln beim Rollen zuzuschauen, der spirituellen Verbindung wegen. Nach einigen Wochen kannte er seine Zahlen auswendig und hatte gelernt, mit den Enttäuschungen umzugehen: Er musste einfach nur geduldig sein. Jeder hatte die gleiche Chance. Irgendwann wäre auch sein Tipp einmal an der Reihe. Es kann sich nur lohnen, auf einen guten Jackpot zu warten. Neues Spiel, neues Glück.

Sein Leben und seine Gedanken richteten sich auf den Sonnabend aus. Gert fand Gefallen daran, sich während der Arbeit auf dem Feld auszumalen, was er ab nächsten Montag tun und worum er sich alles kümmern müsste. Den alten Traktor würde er behalten, als Liebhaberstück auf Vordermann bringen lassen und ihm einen Ehrenplatz in der alten Scheune zuweisen, nachdem deren marodes Dach erneuert worden war. Er würde weitere Flächen kaufen, Leute einstellen und endlich im großen Stil ins Geschäft einsteigen. Mit dem Gefühl, dass schon bald alles besser werde, war es auch gar nicht mehr so schlimm, wenn die geplatzten Kohlrabiknollen überhand nahmen. "Lass uns nächste Woche darüber reden", sagte er gern zu seiner Frau, wenn sie ihn zum Beispiel auf die Wartung der Heizung oder die Reparatur der Waschmaschine ansprach. Anfangs hatte Rike darüber gelacht, war jedoch zunehmend mürrisch geworden und erwiderte irgendwann nur noch ärgerlich: "Ja, Hauptsache der Lottoschein ist gültig."

Eines Nachts, nach einem heißen Sommertag voller Ärger mit der Beregnungsanlage, hatte Gert einen Traum. Er glaubte aufgewacht zu sein, stand auf, wollte aus dem Schlafzimmer in den Flur gehen und befand sich unvermittelt am Eingang einer weiten Halle, deren Dach von mächtigen Säulen getragen wurde. Der Raum war bis in den letzten Winkel von Menschen gefüllt. Auf der obersten Stufe der Eingangstreppe stehend, konnte Gert über ihre Köpfe hinweg bis zur anderen Seite der Halle blicken. Auf einem Podest stand dort mit wallendem Gewand Glücksgöttin Fortuna höchst persönlich. Immer wieder griff sie in das Füllhorn unter ihrem Arm, warf einen Schauer goldenen Münzenregens in die Menge und sofort hob ein vielstimmiges Rufen und Jubeln an. Gert ging die Marmorstufen hinab und schob sich in das Gedränge.
"Ich will auch ein wenig Glück", rief er so laut er konnte. "Warum lässt du mich nicht gewinnen? Es müssen keine Millionen sein, nur so viel, dass wir eine Weile sorglos davon leben können."
Rings um ihn herum wurden ähnliche Bitten geschrien. Gert drängte die neben ihm Stehenden zur Seite, schob sich weiter nach vorn, damit Fortuna ihn sehen konnte. Nur mühsam kam er in dem wogenden Meer aus Leibern voran und gab es schließlich auf, die anderen übertönen oder wegdrängen zu wollen. Er blieb stehen, fühlte sich verloren. Da wichen plötzlich die Menschen vor ihm zurück, die Menge teilte sich und bildete eine Gasse bis zum Podest Fortunas. Das Stimmengewirr verebbte. Die Göttin richtete ihren Blick auf ihn. Lange und eindringlich sah sie ihn an und Gert meinte, ein sanftes Kopfschütteln zu erkennen. Er verstand, dass sie seine Bitte um Glück und Reichtum nicht erhören würde.

Am folgenden Morgen, es war ein Sonnabend, erzählte er Rike von seinem Traum.
"Du steigerst dich da in etwas hinein, das mir immer mehr Angst macht", sagte sie. "Wir sollten mit dem Spielen aufhören, bevor du wirr im Kopf wirst."
"Einverstanden", entschied Gert. "Ich werde heute nicht spielen gehen."
So schwer es ihm fiel, der Tippschein blieb in der Schublade des Wohnzimmerschrankes liegen. Pünktlich um zehn Minuten vor acht saß er am Abend trotzdem vor dem Fernseher, weil er es so gewohnt war und weil er sichergehen wollte, keinen falschen Entschluss gefasst zu haben. Doch die Ziehung der Lottozahlen fiel aus. Fortan würde sie immer erst nach dem Abendprogramm gezeigt, gab es einen Hinweis. Gert hielt es für ein erneutes Zeichen. Erst der Traum, dann am gleichen Tag ein neuer Lotto-Sendeplatz für die Ziehung - da hatte sich Fortuna aber äußerst gründlich um ihn gekümmert. Sie wollte wohl, dass er sein Glück auf andere Weise machte.

Nur noch ein kurzer Blick in den Videotext, dachte Gert am Sonntag, dann ist das Thema für mich erledigt.
"Rike", rief er, "komm mal schnell."
Einen Vierer mit Zusatzzahl, gut und gerne zweihundert Euro wert, war an ihnen vorbeigegangen.
"Das wäre doch eine schöne Abschiedsprämie gewesen. Hoffentlich geht das jetzt nicht jede Woche so weiter."
Rike kniff ihre Augenbrauen zusammen, ging an den Schrank und holte den Spielschein hervor.
"Ach du", seufzte Gert erleichtert, "hast du gestern doch noch einmal gespielt, als du im Ort warst?"
"Nein, das habe ich nicht," sagte Rike und begann, den Schein in kleine Schnipsel zu zerreißen. "Es ist Schluss damit. Vergiss die Zahlen und fang an, dich endlich wieder auf die Arbeit zu konzentrieren."

Gert versprach es, verließ das Haus und ging seine Felder entlang. Schulterzuckend gestand er sich ein, dass ihn immer noch nur ein kleines Wunder retten konnte. Es war bereits August, der größte Teil der Saison vorbei, wieder hatte alle Mühe nur wenig eingebracht. In Erwartung des nahen Geldregens war vieles liegen geblieben oder nur halbherzig erledigt worden. Was jetzt blieb, war die Hoffnung auf eine reiche Weißkohlernte und gute Preise.

Doch ein Wunder blieb aus. Über den schlechten Jahresbilanzen sitzend fiel Gert sein Traum wieder ein und in seiner Erinnerung hatte das Gesicht der Schicksalsgöttin kalte Züge bekommen. Die Lage war aussichtslos und es war sogar fraglich, ob im Frühjahr noch genug Geld für Setzlinge, Dünger und Pflanzenschutz übrig wäre.

Im Spätherbst tuckerte der Traktor zum letzten Mal. Eine Reparatur des Motors lohne sich nicht mehr, meinte der Mechaniker. An einen Kredit für eine neue Maschine war nicht zu denken. Es wurde ein trauriges Weihnachtsfest und es mussten viele Entscheidungen getroffen werden.

Gert fand in der Kreisstadt eine Stelle als Gärtner. Rike bekam Arbeit als Verkäuferin. Die Familie zog in eine Mietwohnung am Stadtrand. Die Felder verpachteten sie an einen Bauern aus dem Dorf, den Hof schrieben sie zum Verkauf aus. Schnell fand sich ein Interessent, der bereit war, einen guten Preis für das Anwesen zu bezahlen. Ein älteres Ehepaar verwirklichte sich seinen Traum von einem Leben auf dem Land und machte sich daran, den Hof zu modernisieren. Neue Dächer, Solaranlage, Swimmingpool, ein parkartiger Garten mit Skulpturen zwischen den Blumen.

"Ist doch hübsch, was die aus der alten Klitsche gemacht haben", sagte Rike, als sie später einmal an ihrem ehemaligen Zuhause vorbeispazierten.
"Man munkelt, das Geld dafür sollen sie im Lotto gewonnen haben", erwiderte Gert.
Rike griff nach seiner Hand und lachte. "Sie haben uns doch etwas davon abgegeben. Auf dem Acker hätten wir das nie erwirtschaften können. Sommerurlaub und freie Wochenenden gab es sogar noch gratis dazu."
"Lass uns doch mal einen Schein spielen, dann kaufen wir uns vielleicht am Montag das Haus wieder zurück."
"Ich will hier nicht mehr her, Gert. Aus unserer Wohnung ziehe ich höchstens in eine protzige Villa am See. Es ist gut, wie es jetzt ist."
"Und dabei haben wir noch nicht einmal richtiges Glück gehabt."

Lutz Schafstädt (3/2011)

Letzte Aktualisierung: 22.03.2011 - 15.40 Uhr
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