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Süchtig nach ... | März 2011

Entsetzen
von Monika Reidegeld

Ekelhaft diese abgewrackten Typen.
In verdreckten Klamotten lungerten sie am Bahnhof herum. Wie dahingerotzte Schandflecke. Alle Gedanken waren auf den nächsten Schuss fixiert. Die Haltung sprach dafür. Man wusste es doch auch. Hießen sie deshalb eigentlich Fixer? Erschreckend dürr ihr Körper. Sie besaßen einen unfassbar leeren und gehetzten Blick und hielten ganz unverhohlen nach Freiern Ausschau.

Auch einige Mädchen waren dabei.
Ein Grünhaariger hatte einen unangeleinten Hund an seiner Seite. Ein verfilztes Etwas, genau wie sein Herrchen. Eine Ratte krabbelte auf der Schulter eines schwarz gekleideten Stiefelträgers. Manche waren noch halbe Kinder.

Er grapschte sich eine handvoll Chips und stopfte sie in seinen Mund. Krümel fielen auf die Bettdecke.

Ein Freier im eleganten grauen Mantel näherte sich vorsichtig, die Junkies möglichst unauffällig aus den Augenwinkeln taxierend. Verstohlen stand er am Zeitungskiosk und täuschten Interesse für Zeitschriften vor.

Einige Sicherheitskräfte in blauer Uniform stolzierten in gerader Haltung und einem Blick, dem nichts zu entgehen drohte, umher.

Zwei unruhige Augenpaare hatten sich gefunden. Der Grünhaarige und der Graumantel waren sich handelseinig geworden. Wie auf ein geheimes Zeichen verließen sie kurz darauf nacheinander die zugige Halle. Einige Zeit später waren die ausgemergelten Gestalten wieder da und das Spiel begann von neuem.

Erneut wanderte eine große Anzahl Chips in seinen Mund. Seine Zähne zermalten sie krachend. Er rülpste.

Kaum vorstellbar, dass diese Wracks einmal ein normales Leben gehabt haben sollten.
Hatten sie vielleicht auch nicht.

Der Kommentator brachte es fertig, in unsentimentaler Weise seine Betroffenheit über das Schicksal dieser Versager zum Ausdruck zu bringen.

Unverständlich dieser Quatsch.
War er etwa zum Fixer geworden oder zum Alkoholiker?
Oder hatte er vielleicht Gewalt gegen andere ausgeübt, wie dieser Tätowierte da auf dem Bildschirm?

Er nahm das Handtuch, das neben seinem verschwitzten Kopfkissen lag und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Verdammt heiß war es heute. Seine Beine schmerzten auch. Sie würden gewickelt werden müssen. Es war frustrierend, den ganzen Tag im Bett zu liegen.

Er hasste dieses ständige Gelaber um die Opfer der Gesellschaft. Schließlich war er auch nicht abgerutscht. Grund dafür hätte er genug dafür gehabt.

Sie hatten ihn hinausgeworfen, belächelt, abgekanzelt und sich angeekelt von ihm abgewandt.
Die Sätze mit denen sie ihn aus ihrem Leben weggewischt hatten, als wäre er Fliegendreck, hatten sich in sein Gemüt gebrannt. Er kannte den Gau, der die Eingeweide zum Schmelzen bringt, wenn zuviel Druck entstand.
Er konnte nicht unter Kontrolle gebracht werden. Eines Tages war alles in seinen Eingeweiden implodiert.
Ein Gefühl nach dem anderen hatte sich daraufhin aus seinem Körper abgespalten und verabschiedet. Was er erlebt hatte, war eigentlich zu viel, um in eine einzige Seele zu passen.

Er hatte beschlossen, nicht mehr daran denken.
Er hatte sich eine Betonummantelung zugelegt.
Vor allen Dingen hatte er diesem Zeugs widerstanden.
Niemand hatte er auch nur ein Sterbenswörtchen gesagt. So war allein damit fertig geworden. Wenn man Dinge nicht preisgibt, werden sie nach einer Weile nebelig und schließlich unsichtbar, fand er.
Außerdem hatte sowieso niemand zugehört.

Und die da? Parasiten, Abschaum der Gesellschaft. Und dieses Mitleidsgeschwafel. Widerlich.
Er hatte genug.
Was gaben die anderen Programme denn noch her?

Seine Wurstfinger griffen schnell nach der Fernbedienung, die er zuvor auf seinem Bauchgewölbe abgelegt hatte.
Durch seine hastige Bewegung rutschte sie langsam aber unaufhaltsam zwischen seine Oberschenkel.
Ein jäher Schreck durchfuhr ihn und verursachte augenblicklich einen weiteren Schweißausbruch. Er wurde panisch.

Seine Gedanken stürzten zusammen. Er würde sich aufsetzen müssen. Er würde sich um Himmelswillen aufsetzen müssen.
Verzweifelt versuchte, sich auf seine Unterarme zu stützen, um den Oberkörper hoch zu hieven. Doch die Mühe war vergeblich.
Ächzend brach er seine Anstrengungen ab.

Er startete einen erneuten Versuch, den er ebenfalls stöhnend beenden musste. Er war am Ende seiner Kräfte.
Der Schweiß lief nun in Strömen von seinem aufgedunsenen Gesicht, die Hände waren vollkommen glitschig. Er trocknete sie mit dem Handtuch und versuchte, sich zu beruhigen. Er würde er einen neuen Vorstoß wagen müssen.

Diese Bilder mussten weg. Sie waren unerträglich. Noch nicht einmal ausschalten konnte er das verdammte Ding und die Pflegerin kam noch lange nicht.

Unter verzweifelter Willensanstrengung versuchte er es erneut. Als er das schwarze Ding endlich in seiner Hand hielt, nickte er vor Erschöpfung ein. Wie er es geschafft hatte, wusste er selbst nicht.
Als die Pflegerin endlich kam, berichtete er ihr stolz von seiner Aktion. Sie lächelte professionell, lobte ihn und sagte:
„Bis morgen dann, Herr Wagner.“

Als sie gegangen war, aß er die restlichen drei Chipstüten leer, die seinem Bett stand, das beruhigte ihn etwas.
Aufstehen konnte er schon seit langem nicht mehr.
Er wog mittlerweile 346 Kilo.

Letzte Aktualisierung: 21.03.2011 - 22.01 Uhr
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