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Süchtig nach ... | März 2011

Aufmerksamkeitsdefizit
von Sabine Barnickel

„Was siehst du, wenn du in den Spiegel siehst?“
„Nichts.“ Mit einem Schulterzucken.
„Sieh genau hin.“
„Ich sehe nichts. Niemanden.“
Seufzen.
„Und was fühlst du, wenn du hungerst?“
„Dass da vielleicht doch noch etwas ist.“
„Und wenn du dich schneidest?“
„Wenn ich tief genug schneide … Manchmal spüre ich dann etwas.“


„Junge, du musst mehr auf dich achten. Nicht immer nur vor dem Computer abhängen und Chips in dich hineinfressen“, sagte mein Vater.
„Dein Vater hat recht. Geh doch mal mit ihm laufen. Würde dir bestimmt gut tun“, sagte meine Mutter.
Widerwillig ging ich mit, hechelte hinterher. Mein Vater spottete über meine Unzulänglichkeit. Meine Mutter freute sich, dass Vater und Sohn jetzt öfters etwas miteinander unternahmen. Je öfter ich zum Laufen mitkam, desto besser fühlte ich mich jedes einzelne Mal.
Als ich dann vornweg lief und er nicht mehr mit mir mikam, fing Vater an, Tennis zu spielen an und ich lief allein weiter. Jeden Tag. Manchmal reichte einmal am Tag nicht mehr aus, um mich gut zu fühlen. Dann konnte ich mich nicht konzentrieren, nicht lernen und mein Körper schrie nach mehr. An solchen Tagen ging ich zwei- bis dreimal zum Laufen.

Dann kam der Unfall, der mein Sprunggelenk ruinierte und mich wochenlang ans Haus fesselte. An Laufen war nicht mehr zu denken. Ich stürzte mich auf meine Hausaufgaben und das Lernen. Chips und Schokolade schmeckten nicht mehr so gut wie vor dem Laufen, doch sie verschafften mir eine gewisse Befriedigung und trugen mich bis zum Abitur.
„Junge, lass dich nicht so gehen“, sagte mein Vater. „Du wirst fett.“
„Sei doch nicht so hart zu ihm“, sagte meine Mutter.

Vor dem Unfall wollte ich an die Sporthochschule nach Köln gehen. Möglichst weit weg von zu Hause. Jetzt blieb ich, fügte mich den Wünschen meiner Eltern und fing an, BWL zu studieren. Vater ging in den Tennisclub. Mutter traf sich mit ihren Freundinnen zum Kaffeeklatsch oder zum Shoppen.

Ich blieb mit mir allein zu Hause und dachte nach. Vater hatte recht, ich wurde fett. Also beschloss ich, das Essen einzustellen. Weitestgehend zumindest. Ich war verblüfft und erfreut zu gleich: Das Hungergefühl zu überwinden gab mir fast den gleichen Kick wie das Laufen früher.

Meine Mitstudenten gingen in Clubs zum Abtanzen. Für mich war das nichts. Ich blieb zu Hause und versuchte zu lernen.

Den Hunger spürte ich immer seltener und der Kick blieb aus. Das beunruhigte mich.

Eines Morgens schnitt ich mich beim Rasieren. Es blutete, doch ich spürte nichts. Ich drückte fester zu, bis der Schmerz mir zeigte, dass ich noch am Leben war. Mutter starrte den Schnitt auf meiner Wange ein paar Sekunden lang entsetzt an, sagte nichts. Sie schüttelte nur mit dem Kopf und vertiefte sich wieder in ihre Zeitschrift. Als wäre ich unsichtbar.
Trotzdem wich ich auf meine Arme aus …

„Und die Sache mit den Pulsadern?“
Schweigen. Schulterzucken. Dürre Finger, die über eine Landkarte aus Narben auf dem Unterarm streicheln.
„Ich wollte nur wissen, ob ich mir nur einbilde, dass ich noch da bin oder ob ich tatsächlich noch da bin.“
„Und? Bist du noch da?“
Ein nachdenkliches Lächeln, nur eine Andeutung davon.
„Wenn du weiter mit mir sprichst …“

Letzte Aktualisierung: 09.03.2011 - 00.11 Uhr
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