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Süchtig nach ... | März 2011

Die Lösung?
von Gisela Reuter

Eine Träne rinnt meine Wange hinab. Sie sucht sich einen Weg vorbei am Nasenflügel und landet schließlich auf der Oberlippe. Bewegungsunfähig sitze ich in der Bahn, starre aus dem Fenster, sehe durch einen Schleier Häuser und Bäume vorbeifliegen und frage mich erschüttert, weshalb die Ärzte Martha nicht haben retten können. Einhundertneunundsiebzig Seiten habe ich mitgezittert, mitgehofft, mitgebangt –
„Die Fahrkarte, bitte!“, reißt mich eine unbarmherzige Stimme aus der Trauer.
Fahrkarte? Scheiße. Die hab ich vergessen. Doch es ist mir egal. Wie unwichtig sind Fahrkarten im Gegensatz zu MarthasTod. Ich knicke lethargisch ein Eselsohr in die nächste Seite und überlege, ob ich überhaupt noch weiterlesen soll.
„Geht es Ihnen nicht gut?“ Der Herr in dunkelblauer Uniform beugt sich zu mir herunter
Ich schĂĽttele den Kopf.
„Es ist nur – weil – ach, wissen Sie, Martha ist gestorben.“
„Martha?“
„Die Mutter von Bernadette, und ich hatte so gehofft –“
„Die Mutter von wem?“
„Na, Bernadette.“
„Bernadette – sicher – “
„Genau, hätte sie doch nur – aber wem sag ich das – “
„Nächster Halt, Niederkasseler Kirchweg“, schnarrt eine blecherne Stimme aus dem Lautsprecher.
„Oh!“, ich erhebe mich, „ich glaube, hier muss ich raus!“
„Natürlich!“ Der freundliche Kontrolleur begleitet mich zur Türe und wünscht mir alles Gute und viel Kraft. Ich nicke ihm dankbar zu und schleiche auf die andere Straßenseite.

Mein Name fällt und jemand tippt mir auf die Schulter.
„Sie sind dran.“
„Danke!“, winke ich eifrig ab, „Aber gehen Sie ruhig zuerst.
Ich hebe kurz den Blick, sehe, wie die Sprechstundenhilfe verständnislos den Kopf schüttelt und mein Nachbar freudig aufspringt.
„Es ist gerade so spannend!“, murmele ich verlegen und deute auf meinen Roman.
Bernadette steht am Grab ihrer Mutter und spürt, wie sich eine Hand auf ihre Schulter legt. Es ist eine vertraute Berührung. Mir wird warm ums Herz. Ihre Jugendfreundin Roberta ist zur Beerdigung gekommen. Die beiden haben sich nach dreißig Jahren wieder getroffen. Am Grab von Martha. Nein, ich kann jetzt unmöglich ins Sprechzimmer und mir den Zahnstein entfernen lassen.

Nachdem ich zwei weiteren Damen den Vortritt gelassen habe, weil Roberta und Bernadette sich nach unzähligen Jahren in den Armen liegen und sich unendlich viel zu erzählen haben, taucht die Sprechstundenhilfe auf und fragt, ob ich nun bereit sei oder einen neuen Termin haben möchte.
„Kann ich während der Behandlung weiterlesen?“
Ihr Blick spricht Bände und ich verstaue meine Lektüre schweren Herzens in der Handtasche.

Während Roberta Bernadette erzählt, dass sie mehrere Jahre im Ausland gelebt hat, werde ich dreimal angehupt, weil ich lesend die Straßenseite wechsele. Der nächste Autofahrer steigt voll in die Bremsen und zeigt mir einen Vogel, aber ich lächele ihn verzückt an, weil die beiden Freundinnen wieder beisammen sind. Fröhlich deute ich auf mein Buch, woraufhin er die Seitenscheibe herunterkurbelt und mich fragt, ob ich noch alle Tassen im Schrank hätte.

Weil Bernadette gerade erfährt, weshalb Roberta sich Ewigkeiten nicht gemeldet hat, bin ich schon wieder ohne gültigen Fahrschein unterwegs. Der freundliche Kontrolleur von heute Nachmittag scheint bereits Feierabend zu haben und so kann ich ungestört lesen, wie Roberta beichtet, dass sie damals unsterblich in einen Jungen verliebt war, der jedoch nur Augen für Bernadette hatte. Nun ist sie selber glücklich verheiratet, hat zwei gut geratene Kinder, und als sich die Familien Tage später zu einer gemeinsamen Wanderung treffen, hab ich zwei Haltestellen verpasst. Ich lese das Wort ENDE und muss vier Kilometer zurücklaufen. Das jedoch war mir die Sache wert und fröhlich beschwingten Fußes, ob des guten Ausgangs, erreiche ich mein Zuhause.


Im Schein der Nachttischlampe tauche ich ein in das Leben eines Gutsherren und seiner beiden Schwestern. Doch was ist das?
Lord Desmonds Leiche wird in den frühen Morgenstunden aus dem Moor geborgen. Der Ruf eines Käuzchens verhallt im Nichts, und durch den Nebel, der wie Blei über der malerischen schottischen Landschaft ruht, nimmt niemand die Gestalt wahr, die sich schemenhaft zwischen den Schwaden bewegt. Geraldine und Gwendolyn schlagen bei der Nachricht dieses grausamen Todes verzweifelt die Hände vor ihre bleichen Gesichter. Erstochen hat man ihren Bruder. Hinterhältig erstochen. Die beiden Schwestern sind verzweifelt. Wie sollen sie das Gut nun alleine weiterführen? Wie konnte der Mörder bloß so gefühllos sein?
„Du Schuft!“, rufe ich erbost aus und schlage wütend mit der Faust auf mein Kopfkissen, „Man sollte dich mit deinem eigenen Messer hinterrücks erstechen!“
„Was?“ Mein Gatte schreckt aus dem Schlaf hoch und wird bleich.
„Oh – nein nein, ich meine den Mörder!“
„Vielleicht könntest du woanders weiterlesen?“, schlägt mein Gemahl ungehalten vor und verschwindet wieder unter der Bettdecke.

Die Geschehnisse rauben mir den Schlaf. Es ist drei Uhr nachts und ich halte mir bereits die Augen mit Daumen und Zeigefinger auf. Der Gärtner scheidet definitiv als Täter aus. Der Butler hingegen scheint mir nicht ganz koscher zu sein. Eben verfolgt er Gwendolyn, als sie zu später Stunde in den Pferdeställen nach dem Rechten sehen will –

Als ich erwache, ist es bereits hell und ich habe einen Druckschmerz auf der Stirn. Auf Seite 186 muss ich kopfüber in den Krimi gefallen sein. Was war noch gleich passiert? Gwendolyn – im Dunkeln – ach ja, und der Butler –
Mein Nacken schmerzt ebenfalls. Ich blättere eine Seite zurück. Der Stalljunge beobachtet, wie Geraldine den beiden nachgeht, und gerade als der Butler die schwere Stalltüre hinter sich schließt, fliegt die Küchentüre auf und mein Mann steht da, grinst und tippt sich an die Stirn.
„Du hast da einen roten Fleck“.
Verlegen zupfe ich an meinem Pony und schleiche ins Bad.
Der Butler – der Stalljunge – ob einer von beiden der Mörder ist?
Hoffentlich kommen die Schwestern nicht auch noch zu Schaden.
Ich lese im BĂĽro weiter. Mein Chef ist auf Dienstreise, was die Sache ungemein erleichtert.

Der Stalljunge schlüpft hinter einen Heuballen und wird Zeuge eines Gesprächs, in welchem der Butler Gwendolyn eröffnet, dass er einen Verdacht habe. Gerade in dem Moment, da er sich anschickt, einen Namen zu nennen, hämmert Geraldine an die Stalltüre und die Vollblüter beginnen zu wiehern.
Zeitgleich klingelt mein Telefon. Die Kollegin Pörschke möchte meinen Chef sprechen. Geistesabwesend stammele ich irgendetwas in den Hörer und gebe noch eilig die Handynummer preis, um fortan ungestört zu sein.

Gwendolyn und der Butler verlassen das Gestüt und gehen zum Herrenhaus. Geraldine versteckt sich rasch hinter einer Mauer und der Stalljunge beginnt, die Pferde zu tränken.
Am nächsten Morgen wird Gwendolyn tot in ihrem Bett aufgefunden. Sie wurde erwürgt. Mir stockt der Atem.
Erneut rappelt mein Telefon. Mit zitternden Händen hebe ich ab und höre meinen Chef mit ungehaltener Stimme fragen, was mich dazu gebracht hätte, Frau Pörschke weiszumachen, dass er sich gerade dienstlich in einem Pferdegestüt befände.

Ich glaube, ich muss meine Leselust zügeln und diszipliniere mich selber, indem ich meinen Krimi im Nachbarbüro abgebe, mit der Auflage, ihn mir keinesfalls vor der Mittagspause auszuhändigen.
Die Kollegin schaut auf den Titel und ruft fröhlich aus, dass sie das Buch bereits gelesen habe. Bevor ich sie bremsen kann, teilt sie mir mit, dass der Stalljunge die Morde begangen hat, weil Lord Desmond –
„Dusselige Kuh!“, zische ich wütend.

In der Mittagspause verzichte ich aufs Essen und gehe in die Stadt, um Nachschub zu besorgen. Dass ich lediglich zwei ungelesene Bücher daheim habe, macht mich nervös. Was, wenn ich in den nächsten Tagen erkranke? Was, wenn ich gehunfähig werden sollte und mein Gemahl versäumt, mir rechtzeitig genügend Literatur zu besorgen?
Die horrende Summe im Buchhandel bezahle ich mit EC-Karte und die Kassiererin meint schmunzelnd, dass ich ja nun für die nächsten Jahre ausgesorgt hätte. Und mein Gatte empfiehlt mir eine Woche später – nach Durchsicht der Kontoauszüge – doch eher einen Ausweis in der hiesigen Stadtbücherei zu beantragen.

Meinen freien Tag nutze ich, um mich als neues Mitglied im städtischen Bücherparadies umzusehen. Die Bibliothekarin ist mir mit ihren Empfehlungen behilflich und ich darf zwischen sieben Liebesromanen, neun Krimis und acht Abenteuerromanen wählen. Als ich mich innerhalb einer Zehntelsekunde entschließe, gleich alle mitzunehmen, wird die freundliche Dame beinah bewusstlos. Sie sieht mich prüfend an und fragt mit hochgezogener Stirn:
„Sagen Sie mal – sind Sie – “ Diskretion scheint wichtig, deshalb blickt sie sich noch einmal nach allen Seiten um und flüstert: „ – Lesesüchtig?“

Es habe da wohl während ihrer Laufbahn einmal einen solchen Fall gegeben. Besagter Dame wurde zunächst die Stellung gekündigt und später auch die Wohnung. Die Bücher begannen irgendwann aus den Fernstern herauszuquellen, die Lesesüchtige nahm kaum noch Nahrung zu sich und verwahrloste schließlich zwischen unkontrolliert verschlungener Literatur.
Nach einer mehrmonatigen Therapie darf sie nun – allerdings unter strenger Aufsicht – mit dem Lesen von täglich höchstens einer Kurzgeschichte in den Alltag zurückkehren.

In den letzten drei Monaten habe ich vierzig Bücher verschlungen. Einen Leseentzug stelle ich mir grausam vor. Wie kann der Mensch ohne Buchstaben leben? Bevor ich zwangseingewiesen werde, muss ein Heilungsweg gefunden werden. Panisch wähle ich Astrids Nummer, bitte meine Freundin, mein Geständnis vertraulich zu behandeln und frage sie zitternd um Rat.
„Ich bin am Ende, Astrid“, wispere ich, „du musst mir helfen.“
Ich habe die beste Freundin der Welt. Die Antwort kommt prompt und scheint wirkungsvoller als jeglicher Entzug:
„Du willst vom Lesen wegkommen? Da gibt’s nur Eines: Du musst selber schreiben.“

Tschaka! Das ist die Lösung!
Wobei ich im Moment noch rätsele, ob dieser Vorschlag tatsächlich weniger Suchtpotenzial birgt …



© 2011, Gisela Reuter

Letzte Aktualisierung: 26.03.2011 - 13.47 Uhr
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