Das alte Buch Mamsell
Das alte Buch Mamsell
Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Traumfrau/-mann | April 2011
Und triff mich hinter dem blauen Bus
von Sylvia Seelert

Verdammt, sie musste ihn loswerden. Keine Frage.
Ihre Finger umschlossen das Lenkrad fester, als seine Stimme in ihrem Kopf aufflammte.
„Darling, you’re late. Denk bitte an die Tomaten und Hefe. Ansonsten: no Pizza!“
„I’m on my way“, antwortete sie und beschleunigte den Wagen.
Das Implantat erzeugte ein kurzes Knacken in ihrem Kopf, dann war die Verbindung unterbrochen. Ein Upgrade, das er für sie hochgeladen hatte, um das Feeling von alten Telefonleitungen zu simulieren. Er liebte so etwas. Retrostyle nannte er das.
Sie fand das Knacken und Rauschen zwischendurch eher nervig. Doch so wusste sie wenigstens, wann er in ihrem Kopf war und wann nicht. Aber sicher war sie sich nie.
Lilli dachte an Palmen und kristallklares Wasser. Seit zwei Monaten trainierte sie, Gefühle und Gedanken zu trennen. War sie entspannt und ruhig, hörte er nicht mit. Freiraum für ihren Geist.
Sie hielt an der Lebensmittelausgabe. Der Himmel war staubig mit Streifen von dreckigem Orange. Irgendwo über der schmutzigen Atmosphäre schien die Sonne. Ein schöner Tag. Heller als alle anderen davor.
Mit ihrem Fingerchip loggte sich Lilli am Schalter ein.
„Ihr Kreditstatus beträgt hundert Einheiten“, surrte die weibliche Computerstimme.
„Bitte nennen Sie Art, Gewicht und Anzahl der gewünschten Lebensmittel.“
„Zehn Tomaten, fünfzig Gramm Hefe.“
„Bitte nennen Sie das Gewicht der Tomaten.“
Lilli überlegte kurz.
„Pro Stück fünfzig Gramm“.
„Auftrag wird bearbeitet.“
Eine Windböe fegte durch die Straße, verwirbelte die Luft wie ein heißer Föhn. Auf der anderen Straßenseite klapperte ein Blechschild gegen eine Bretterwand. ’Geschlossen’ stand in verblichenen Buchstaben darauf. Die Leuchtreklame an dem Gebäude war zum großen Teil eingeworfen, hing nur noch in Bruchstücken in der Halterung. Lillis Mutter hatte hier noch gearbeitet. Dunkel konnte sie sich an die vielen Gänge und Waren in dem Supermarkt erinnern. Alles war so bunt, voller Gerüche gewesen. Diese Welt lag mehr als dreißig Jahre hinter ihr.
„Ihr Konto wurde mit fünf Krediteinheiten belastet. Bitte entnehmen Sie die Waren“, sprach die Computerstimme zu ihr. Es lag weder Freundlichkeit noch Ablehnung in ihr. Eher eine große Gleichgültigkeit.
Lilli entnahm dem Schacht zwei Pakete mit Konzentraten. Mit Hilfe ihres Implantats suchte sie im Internet nach Tomaten. Die Bilder wurden direkt auf ihre Netzhaut übertragen. Grüne, krautige Zweige krochen über den Boden. Gelbe Blüten wuchsen aus den Ästen, wandelten sich zu roten, runden und glatten Früchten.
Lilli schnalzte mit der Zunge und packte die Einkäufe in den Wagen.
„Kein Stau auf den Straßen. In zehn Minuten bist du zu Hause.“
Erneut flammte seine Stimme in ihrem Kopf auf.
Er überwachte jeden ihrer Schritte. Wusste immer, wo wie war, mit wem sie sprach und wie sie sich dabei fühlte. Kontrollierte Puls- und Herzschlag. So kannte er auch ihre Gefühle für Mark, ihren Chef. Und sie wusste, er war eifersüchtig.
Mark war bei einem Autounfall verunglückt. Die polizeilichen Untersuchungen liefen noch. Lilli selbst war dabei in den Fokus der Ermittlungen geraten, weil eine Überwachungskamera sie aufgenommen hatte. Auf den Bildern war zu erkennen, wie sie am Tag des Unglücks auf Marks Wagen zuging. Dann brach die Aufnahme ab. Auf dem Rest der Speicherung befand sich lediglich grauer Schnee. Ein unbekannter technischer Defekt.
Lilli parkte auf demselben Deck wie Mark. Sie kam jeden Tag an seinem Auto vorbei. Die Aufzeichnung zeige daher nichts Ungewöhnliches, versicherte sie den Militärpolizisten.
„Verlassen Sie nicht den Troposektor“, ermahnten die Beamten sie. Der Zweifel in den Augen der Staatsdiener erzeugte in Lilli ein unbehagliches Gefühl, auch jetzt noch.
„Alles ist gut, Schatz. Mach dir keine Sorgen“, murmelte seine Stimme beschwichtigend in ihrem Kopf.
Verdammt, sie hatte nicht aufgepasst. Erneut beschwor sie ihr Inselbild herauf, um sich zu entspannen. In der Zentralbibliothek hatte sie eine Aufzeichnung von den Seychellen gefunden, eine Reisedokumentation aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Der weiße Sand, das türkisfarbene Wasser und die Granitfelsen entführten sie in eine andere Welt.
Die Inselgruppe lag nun verloren unter dem Meeresspiegel.
Bei Block C parkte sie ein. Der Außenlift katapultierte sie in den einundzwanzigsten Stock. Von hier oben blickte sie auf die schachtelförmige Stadt. Wie Christbaumkerzen glänzten die beleuchteten Fenster im grauen Dämmerlicht. Block an Block reihten sich die Häuser, getrennt durch schnurgerade Straßen. Die Randbezirke waren dunkel. Hier lebten keine Menschen mehr. Alle scharten sich um den Stadtkern mit Kraftwerk und Militärzentrale.
Der Türsensor tastete ihr Auge ab und öffnete die Verriegelung. Dissonante Staccato-Akkorde schlugen ihr entgegen und standen zitternd im Raum. Auftakt zu Vivaldis Violinkonzert Winter aus den ’Vier Jahreszeiten’. Sie fröstelte.
„Fünf Grad wärmer“, forderte sie.
Die Temperaturanzeige an der Wand leuchtete rot auf. Es wurde wärmer.
„Schatz, hast du an alles gedacht?“, tönte seine Stimme aus der Küche. „Das Rezept für die Pizza liegt im Drucker.“
„Yes, Sir“, rief sie. „Ich habe alles dabei, was wir für einen gelungenen Abend brauchen.“
„Hey, was hast du vor?“, fragte er.
„Och, lass dich überraschen.“
Lilli brachte die Einkäufe in die Küche.
„Acousticmaster, Musik ändern. Band DO-E1 einspielen.“
Vivaldis Violinen verstummten. Orgelakkorde dröhnten auf. Die Stimme von Jim Morrison, hypnotisch, anklagend erfüllte den ganzen Raum.
„Was du nur bei dieser komischen Musik empfindest. Viel zu düster“, brummelte er.
„The blue bus is calling us”, sang sie und öffnete das Tomatenkonzentrat.
„Driver, where you are taking us…“
Schon bald formte sich ein glänzender Teig zwischen ihren Händen. Sie stellte ihn in die Backeinheit, wo er in Ruhe aufgehen konnte.
Lilli träumte, wie sie an ihrem Lieblingsstrand lag; die Sonne stand klar am Himmel und erwärmte ihre Haut. Leichter Wind wuselte durch die Palmenblätter. Ein blauer Bus parkte hinter den Felsen, der Chromkühler ragte aus dem Steingewirr hervor. Sie stand auf, knotete das Haar zusammen. Ihr war heiß. Der Sand brannte unter den nackten Füßen. Sie eilte zu den Felsen, kuschelte sich in den Schatten des Busses. Das Blech drückte sich kühl an ihre Haut.
„This is the end, beautiful friend“, sang sie mit Jim lauthals mit.
Das Meer rauschte schaumig ans Ufer.
„Lilliiiiii“, kreischte es plötzlich in ihrem Kopf. Seine Stimme pures Entsetzen. Dann Schweigen.
„Plug-In Dreamboy erfolgreich gelöscht“, bestätigte die Zentraleinheit.
Strand, Jim Morrison und der Bus verschwanden aus ihren Gedanken. Langsam rutschte Lilli von dem Terminal an der Wand auf den Wohnzimmerboden. Marks und ihr Plan war geglückt.
Sie lachte und weinte gleichzeitig.
Ein Jahr Terror lag hinter ihr. Wie hatte sie nur auf die Werbung im Netz hereinfallen können? Dreamboy – der optimale Partner für ihr Leben - ein Plug-In für ihr Netzwerk. Angepasst auf ihre Bedürfnisse mit dem Emotional Connecting Interface.
Seit dem Download hatte sich das Plug-In alle Schnittstellen erobert, mit denen ihr Implantat verbunden war. Eine Deinstallation war nicht mehr möglich. So war er ihr ständiger Begleiter, nistete sich in ihren Kopf, in ihre Gedanken ein. Bewachte, beschützte, umsorgte sie. Jede Sekunde.
Mark half ihr, einen Virus zu programmieren, der Dreamboy löschen sollte. Bis zu dem Tag seines Autounfalls. Auf dem Parkdeck vor seinem Unfall hatte er ihr die letzte Sequenz übergeben. Der Unfall sollte alle Spuren löschen.
„Hi Lilli“, flüsterte eine Stimme.
Sie blickte sich um. Niemand war da.
Der Tonfall, er kam ihr bekannt vor.
„Ich bin’s, meine süße Lilli!“
Sie riss den Mund weit auf. Kein Ton kam über ihre Lippen. Die Stimme, sie war mitten in ihrem Kopf.
„Nun bin ich für immer bei dir. Ich habe deine schmachtenden Blicke gesehen. Jeden Tag. Die Sehnsucht in deinen Augen gelesen, wenn meine Nähe dich traf.“
Ein Schluchzen drang aus ihrer Kehle. Leise röchelte sie: „Mark?“
„Ja, mein Schatz!“
Lilli schrie.

Letzte Aktualisierung: 22.04.2011 - 11.43 Uhr
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