Das mit 328 Seiten dickste Buch unseres Verlagsprogramms ist die Vampiranthologie "Ganz schön bissig ..." - die 33 besten Geschichten aus 540 Einsendungen.
War es das Schicksal selbst oder dessen Ironie, das Antonia Kübler an diesen Punkt führte? Gehört es zu den unvermeidbar scheinenden Folgen einer Konfektionsgröße zweiundvierzig, statt in den Armen eines wohlriechenden Latinos in einer Firma zu landen, die solche Typen anbietet? Umgeben vom photoshopgepushten Hochglanz der Männer und Frauen, auf die eine oftmals eher mattierte Kundschaft hofft, stellte sich die junge Projektmanagerin Fragen über ihr Leben. Es war, mit Verlaub, ein Scheiß-Tag und er drohte zur Krönung einer nicht minder bescheidenen Woche zu werden.
Bungert entfernte sich im kurvenreichen Gang von ihrem Schreibtisch und schlingerte durch das Großraumbüro dem Ausgang entgegen. Dass er als Vorgesetzter kein Rückgrat besaß, fürchtete sie schon lange. Soeben hatte er unter Beweis gestellt, dass er in Mitarbeitern nur wenig mehr sieht als Opfer seiner fragwürdigen Methoden.
„Kübler, denken Sie, wir sind ein Wohlfahrtsunternehmen?“
„Nein, Herr ... Bungert, wieso?“
„Lassen Sie ihn am besten unberührt. Möge dieser Umschlag als Mahnung verschlossen neben Ihnen liegen bleiben.“ Pause. Über die Brille schielend drückte er ihn an sich. „Was das ist? Eine Aufstellung Ihrer Zahlen aus dem vergangenen Monat.“ Er holte tief Luft. „Sieben Reklamationen, in Worten: Sieben! Die allesamt zugunsten der Kunden ausgingen.“
Er legte das harmlos wirkende Kuvert vor sie hin, beugte sich weit hinunter und lehnte sich so auf den Tisch, als wollte er es mit dem Kinn versiegeln.
„Küb ... ler“, zischte er mit aufgerissenen Augen. „Wie ist es möglich, dass eine unserer Mitarbeiterinnen praktisch jedes Gemecker bedient? Umtausche und Nachbesserungen im Wert von knapp Dreihunderttausend! Dafür könnte ich sechs Küblers einstellen!“
„Chef, die Kunden sollen mit ihrer Traumfrau oder dem Traummann fürs Leben glücklich sein, stimmt‘s? Dann erzählen sie es anderen und wir kriegen Neukunden. Sehen Sie es als Investition.“
„Ach, papperlapapp, glücklich, glücklich“, strich er den Staub vom Blatt eines Gummibaums, der unweit des Druckergebläses sein Dasein fristete. „Wenn Kunden sich das unpassende Modell raussuchen, ist das deren Problem. Wer zig Tausende ausgibt, der muss halt genauer hingucken.“
„Was soll ich denn machen? Bei Frau Hamacher zum Beispiel ist ganz klar falsch geliefert worden. Die aus der EDV haben in der Serie ‚Manfred‘ im Katalog schlichtweg verkehrte Häkchen gesetzt. Da sind wir als Vermittler doch machtlos!“
„Kübler, was Sie auch immer tun: Bringen Sie den Fall Hamacher zum Ende, egal, ob wir nun falsch geliefert haben oder nicht. Und sorgen Sie damit ausnahmsweise mal für einen Gewinn, sonst enthält der nächste Umschlag, den ich Ihnen überreiche alles, was Sie mit nach Hause nehmen können.“
Er tippte zum Abschied kurz aber doppelt auf das braune Papier und ließ in der raschen Kehrtwende nur seine gefürchtete Mischung aus einem Herrenduft und kaltem Rauch zurück.
Antonia starrte durch die Bungertsche Wolke aus dem Fenster. Drei Tage war es erst her, da hatte sie aus dem aktuellen Freund einen Ex gemacht. Ihren Glauben an eine Männerwelt, in der Frauen mit ohnehin stark reduzierten Erwartungen Exemplaren mit ernsthaften Absichten begegnen könnten, nahm er gleich mit. Frustriert machte sie im Innendeckel ihres Tagebuchs bei den gescheiterten Beziehungen den siebten Strich und stürzte sich wieder in jene Arbeit, die vielleicht auch einige Gefährten gekostet hatte. Wenigstens ihre Kundschaft sollte zufrieden sein. Die neue Serie ‚Manfred‘, in mühevollen Monaten entwickelt, ging auf ihr Konto. Herren dieses Segments durchliefen Benimm- und Tanzkurse, praktische Ausbildungsblöcke in Restaurants und Theatern und, revolutionär für das Angebot der Firma, sogar Hausarbeitsseminare. Als sie in diesem Laden anfing, beschränkten sich Bungert und seine bis dahin ausnahmslos männlichen Kreativkräfte auf die Befriedigung der Wünsche von Damen nach eher körperorientierten Traumpartnern, die man in monatelangen Trainingslagern und regelmäßigen Bräunungsintervallen auf ihren späteren Einsatz vorbereitete. Für einen kurzen Zeitraum versuchte sie sich auch einmal an der Weiterentwicklung der Offerten für die Herren, scheiterte aber am Widerstand des Chefs mit dem Vorschlag, die intellektuell geprägten Modelle im Katalog zur Abwechslung mal vor den Barbies zu platzieren. Zum Dank für sechs Jahre Engagement drohte Bungert jetzt mit dem Rausschmiss. Ihr Blick fiel auf den Umschlag. In dem Moment klingelte das Telefon.
,Dreampeople Unlimited, mein Name ist Antonia Kübler, was kann ich für Sie tun?“
„Hamacher hier. Umtauschen können Sie mir diese Kanaille. Heute hat er zwei Mal nicht die Tür aufgehalten und sich außerdem eine unmögliche Krawatte ausgesucht. ... Manfred, lass das. Nein, der Knopf da bleibt zu. ... Tschuldigung, Frau Kübler, aber der fängt schon wieder ... Manfred! Aus hab ich gesagt! Mach Sitz!“
„Frau Hamacher, was genau ...“
„Ich will umtauschen, hören Sie? Ist aus der Serie ‚Heinrich‘ noch einer frei? Ich glaube, das war das gemäßigtere Modell ‚Frühpensionär um die Fünfzig‘ mit dem tadellosen Benehmen, das liegt mir wohl eher. Der hier ist einfach zu geil, um es mal drastisch zu ... oooh, Manfred, ich weiß, das war dein Stichw ... verflucht! Jetzt ist es aber gut! ... Moment Frau Kübler, ich geh mal ins Nebenzimmer. So wird das nix.“
Sie fuhr den Rechner am Morgen wieder hoch und sah in den elektronischen Briefkasten. Die Besprechungsanfrage von Bungert hatte sie erwartet. Eine andere Titelzeile aber stach noch deutlicher hervor: ‚Anfrage zur Express-Vermittlung des Modells Antonia‘. Lächelnd nahm sie den Zettel von der Wand und ging in Richtung Chefbüro. Selten bringt jemand den Pokal zur Siegerehrung selbst mit. Es war, mit Verlaub, ein guter Tag und es war definitiv der beste in dieser Woche.
Letzte Aktualisierung: 17.04.2011 - 18.37 Uhr Dieser Text enthält 9360 Zeichen.