Unsere Literaturzeitschrift Schreib-Lust Print bietet die neun besten Geschichten eines jeden Quartals aus unserem Mitmachprojekt. Dazu Kolumnen, Infos, Reportagen und ...
Look into my eyes now.
Tell me, what you see.
It is no surprise now.
What you see is me. Beatles
Als ich meinen neuen Kollegen das erste Mal sah, ging ich davon aus, dass er im früheren Leben eine Ente gewesen sein musste. Seine Füße zeigten nach außen und erfreuten sich offensichtlich nicht des Gehens. Das mochte auch daran liegen, dass sie auf kurzen Beinen steckten, die zudem stark übergewichtig waren. Um den Bauch herum hatte man den Eindruck, er habe einen Medizinball verschluckt.
Da meine biologische Uhr gegen Ende dreißig ziemlich laut tickte, nahm ich alle Männer genau unter die Lupe, ob sie dafür geeignet waren, mein Bett für die nächsten vierzig Jahre zu teilen. Der neue Kollege erfüllte keine meiner immer bescheidener gewordenen Kriterien, und so hätte sich unser Kontakt auf ein „Hallo“ beschränkt, wenn es sich nicht vermeiden ließ, weil man in einer kleinen Behörde auf Dauer keinem aus dem Weg gehen konnte.
Nun ergab es sich aber, dass der neue Kollege genau wie ich den seelenlosen Aschenbecher vor dem tristen Backsteingebäude unserer Behörde aufsuchte, das vielleicht zu Bismarcks Zeiten ein frisches Rot besessen hatte. Die bösen, verächtlichen Blicke der militanten Nichtraucher schweißen uns Raucher automatisch zusammen, zumal wir zusehends eine Minderheit werden, zumindest, wenn man in einer Gesundheitsbehörde arbeitet.
So begann auch ich mit einem Small talk und ließ meine Blicke weiter nach oben schweifen. Er hatte tatsächlich schöne braune Augen, von schwarzen Wimpern eingerahmt, so wie einst Paul Mc Cartney, falls Sie den kennen. Eine völlige Verschwendung der Natur bei dem Körper, seufzte ich innerlich, während er mir stolz erzählte, dass für ihn Sport in jeder Form Mord sei, und er Herrn Churchill in seiner diesbezüglichen Meinung unbedingt zustimmen müsse. Ich fragte vorsichtig nach, womit er sich nach der Arbeit die Zeit vertreibe.Er habe zehntausend Filme zu Hause, alle sauber katalogisiert, und wenn ich Lust hätte, könne er mir gern einen Film zeigen und mir fast jeden Wunsch erfüllen. Nur an den neuen, modernen Filmen sei er nicht interessiert. Seine Sammlung ginge bis 1980.
Ich bezweifelte sehr, ob er mir meine wirklichen Wünsche erfüllen konnte, und lehnte unter dem Vorwand ab, dass ich leider sehr beschäftigt sei.
„Womit?“, hakte er gleich nach, und ich geriet etwas ins Stolpern, denn ich wusste nicht, ob meine exzessive Lust, Romane zu konsumieren, bei ihm durchging. „Doch, doch“, das könne er gut verstehen, zwinkerte er mir konspirativ zu. Es seien ja viele Romane verfilmt worden, und auch da brauche ich ihm nur einen Titel zu nennen.
Leider las ich keine Romane, die vor 1980 erschienen waren. Ich graste in der Regel die aktuelle Belletristik- Bestsellerliste ab, oder holte mir schon mal den einen oder anderen Tipp aus der Tagespresse.
„Alt werde ich von alleine. Da muss ich nicht noch alte Bücher lesen“, hätte ich ihm meine churchilladäquate Weisheit präsentieren können. Doch während ich den Rauch in den Himmel blies, rettete ich mich vor seiner Einladung mit einer anderen sportlichen Weisheit:
„Schau’n wir mal.“
Ohne uns zu verabreden, trafen wir uns nun täglich zu einem Plausch, und da er das Angebot zu einem gemeinsamen Filmabend nicht wiederholte und mich auch nicht mit der Zusammenfassung alter Filme langweilte, genoss ich zunehmend seine Unterhaltung, die mir ganz im Gegensatz zu seinem Körper als sehr reizvoll erschien, hatte er doch jede Menge Witz und Esprit zu bieten. Und so erzählte ich ihm, dass der Roman mit dem Titel „H...“ mich im Augenblick sehr fessle, und dass ich ihn wie exquisite Schokolade verschlänge, was ja auch besser sei, da Lesen bekanntlich nicht dick mache. Nun ja, bei meiner Figur könne ich mir schon ein Täfelchen pro Woche leisten, meinte er schmunzelnd, und ich dachte: „Du verspeist vermutlich ein Täfelchen pro Tag.“ Als ob er meine Gedanken lesen könnte, fügte er hinzu, dass ihn persönlich Schokolade nicht reize, eher ein deftiges Schnitzel mit Pommes, und er wollte wissen, wer der Autor meines neuen Lieblingsromanes sei.
„Das ist ja das Tolle“, platzte es aus mir heraus. Der Autor sei völlig unbekannt, ein Nickname wie beim Chatten üblich, sonst nichts, ein dickes Fragezeichen. Das könne nur eine Frau geschrieben haben, mutmaßte ich, denn das Ego eines Mannes ließe keine Anonymität zu. Wenn man zum Goethe geboren sei, dann wolle Mann auch sein Licht nicht unter den Scheffel stellen.
Seine Augen bekamen plötzlich einen unerwarteten Glanz. Ohne mir zu nahe treten zu wollen, aber er bezweifle, ob ich wirklich die männliche Psyche hinreichend kenne, denn er könne es sich auch als Mann durchaus vorstellen, unerkannt zu bleiben, um dem dämlichen Medienrummel zu entkommen.
Vor meinem geistigen Auge spazierten gerade meine Ex-Lover vorbei, die, wenn man mal vom Schwanz absah, vor allem ihr überzogenes Geltungsbedürfnis gemeinsam hatten.
Aber beschämt musste ich eingestehen, dass etwa zwei Hände voll Männerbekanntschaften nicht wirklich eine signifikante Repräsentation von zirka 40 Millionen Männern darstellte, allein in Deutschland.
In der Regel las ich pro Monat einen Roman, aber „H...“ hatte ich innerhalb von drei Tagen ausgelesen. Das war schon ungewöhnlich und zeugte davon, dass mich dieses Buch vollkommen in seinen Bann geschlagen hatte, aber was wahrlich eine Premiere feierte, war die Tatsache, dass ich es gleich wieder von vorn anfing.
Wer schrieb „H....“?
Irgendwo in diesem Werk musste es doch Hinweise auf das Täterprofil geben. Das einzige, was die Zeitungsredakteure, als ich die Rezension vor Wochen las, über den unbekannten Autor preisgaben, war die Vermutung, dass er aus Düsseldorf stammen müsse. Nun ist Düsseldorf trotz des Namens kein Dorf, aber immerhin befand sich dort die Behörde, in der ich und mein neuer Kollege arbeiteten oder wahlweise Rauchkringel in die Luft bliesen.
Ich hatte mir schon die zweite Kanne Orangenblütentee mit Zimtaroma aufgegossen, und wie mein Kater Karlo fand ich trotz fortgeschrittener Stunde nicht den Weg ins Bett, als ich elektrisiert vor einer Textstelle Halt machte. Der Protagonist hatte eine Vorliebe für Filme vor 1980, und es wurden immer wieder Filmparts eingeflochten, die ich nur vom Hörensagen kannte und denen ich daher nicht genügend Beachtung geschenkt hatte. Das sollte sich nun ändern. Mit Papier und Bleistift bewaffnet schrieb ich die in Frage kommenden Textstellen heraus.
Am nächsten Tag wartete ich ungeduldig auf das Erscheinen meines neuen Kollegen. Noch nicht mal seinen Namen wusste ich. Vielleicht hieß er Helmut oder Hans oder Heribert oder Hartmut oder? Nein, er hieß Paul. „Ich bin Sabine“, gab ich nun meinerseits preis. „Äh, ich möchte doch auf dein Angebot zurückkommen und einen Film bei dir gucken.“
„Welchen?“
„ Jakob, der Lügner.“ Ich hatte mich schlau gegoogelt und wusste, dass der Film von 1974 war, nach dem gleichnamigen Roman von Jurek Becker aus dem Jahr 1969, den mir mein Bruder vor Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. „Wenn ich dir etwas von der Bestsellerliste schenke, muss ich es wieder umtauschen“, hatte er grinsend hinzugefügt. Ob er meinte, ich könne gut flunkern, oder ich müsste meine Geschichtsbildung aufpolieren, ist mir bis heute ein Rätsel geblieben.
Ehrfürchtig betrat ich Pauls Walhalla. An den Wänden hingen Regale bis unter die Decke vollgestopft mit Videos und DVDs. An der Stirnseite des Raumes klebte ein Flachbildschirm. Das einzige Fenster, das hätte Licht spenden können, war durch Rollos verdunkelt und zwar schon länger, wie das reichhaltige Sammelsurium auf dem Fensterbrett bezeugte.
„Jakob, der Lügner. Kein Problem. Wo möchtest du sitzen?“
Mein Blick fiel auf den einzigen Sessel in Raum.
„Setz dich ruhig! Ich hole mir einen Stuhl aus der Küche.“
Nach dem Film würdigten wir noch schweigend den Nachspann.
„Wenn man Menschen durch Lügen glücklich machen kann, ...“ ließ ich den Satz unvollendet im Raum stehen, während Paul seinen Stuhl gepackt hatte und in die angrenzende Wohnküche trug. Ich folgte ihm.
„Wow! Was sind das für tolle Bilder an der Wand?“
Ich stellte mich davor und bewunderte die Akribie und Detailfreude des Künstlers.
„Wer hat die gemalt?“
„Gefallen sie dir?“
„Ja, und wie!“
„Ich male in meiner Freizeit“, gestand er erfischend unprätentiös.
„Und liest du auch Bücher?“
„Das weniger. Ich schreibe lieber“, und er wies auf einen Computer in der Ecke.
In der Zwischenzeit hatte ich ein kleines Regal mit Büchern entdeckt.
Ich spürte förmlich, wie mich ein Blitz durchzuckte, als ich den mir bekannten Roman „H...“ entdeckte und sogleich in die Hand nahm. An unterschiedlichen Stellen klebten gelbe Zettelchen, und ich wusste sofort, dass es sich um die Filmparts handelte, die ich ja bereits eigenhändig exzerpiert hatte. Wumm! Jetzt war der richtige Augenblick für meine Gretchenfrage.
„Bist DU der Autor dieses Buches?“
„Das kann ich dir nicht sagen.“
„Bingo, Sabine!”, sagte ich mir. Er hatte natürlich ein Abkommen mit dem Verlag und durfte sein Geheimnis nicht lüften.
Ich war geplättet. Ich kannte einen richtigen Autor, noch dazu einen mit wunderschönen braunen Augen, die mich ganz ohne Zweifel feurig anglühten.
„Wo der Geist aufleuchtet, muss der Körper verblassen“, so ähnlich hatte sich mal ein antiker Autor ausgelassen. Ich habe mir im Traum nicht vorgestellt, dass ich mal einen erfolgreichen Schriftsteller kennen lernen würde, der auch noch ganz offensichtlich in mich verliebt war!
Was zählte da noch ein durchtrainierter Body!
Letzte Aktualisierung: 06.04.2011 - 21.35 Uhr Dieser Text enthlt 9681 Zeichen.