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Traumfrau/-mann | April 2011

Irgendwo in Burbank/California brennt ein Lammgulasch an!
von Jochen Ruscheweyh

Als ich anfing, Comics zu zeichnen, beherrschte nur ein Einziger mein Denken.
Sein Kopf glich einer Birne. Neben dem Fruchtvergleich hätte eventuell noch das Prädikat geometrisch passen können, verjüngte sich sein Schädel doch auch irgendwie pyramidenförmig nach oben und endete schließlich in einem kleinen Haarbüschel, in das er eine rote Schleife geflochten hatte. Zeichnerisch verneigungswürdig, in jedem Falle.
Er wirkte entrückt und trotzdem – ist das eigentlich ein Widerspruch? - beinahe grenzenlos freundlich auf mich, mit einer an Lethargie grenzenden Bedächtigkeit ausgestattet. Andererseits so voller Vitalität und kindlicher Abenteuerlust.
Er: „Ich bin scharf wie eine Sichel und brunse auf Aktion!“

Ich konnte ganze Nachmittage darauf verwenden, ihn zu beobachten. Nein, beobachten beschreibt nicht wirklich, was ich tat; ich studierte ihn, seine Gestik, Mimik, sein bartstoppeliges Gesicht, das ständig unscharf wirkte, oder zumindest wie mit einer falschen Belichtungszeit festgehalten; konturlos und kontrastarm - Ich verstehe nicht viel von Fotografie, deswegen sei mir dieser laienhafte Vergleich verziehen.
Der Mann auf der Party zum anderen: „Marty, ist das nicht ... wie war noch gleich sein Name?“

Dennoch projizierte er sich oft selbst und wie von Geisterhand auf die Leinwand hinter meinen Pupillen. Dann erschienen mir er und sein Dreitagebart trotz ihrer eingeschränkten Dimensionalität beinahe haptisch, steigerte meinen Wunsch, ihn zu berühren, eine Konnektivität herzustellen. Direkt, unmittelbar, ohne Adapter.
Sie: „Also wirklich, du bist unmöglich!“


Vielleicht dockte er sich an die freie Stelle an, die der Funktionsverlust meiner akademischen Ausbildung in meinem zentralen Nervensystem hinterlassen hatte – neurologisch gesehen, sei hinzugefügt, wo wir doch gerade schon mit Fachbegriffen um uns werfen.
In diesem Zusammenhang:
Wer ist wir?
Klaus Kinski: „Ich verstehe die Frage nicht. Können Sie sie anders formulieren?“

Und vielleicht störte oder zerstörte er auch andere Verbindungen zwischen verschiedenen Zentren, die für die Bewertung der eigenen Position im sozialen Raum zuständig sind. Möglicherweise, und ich betone möglicherweise, war er aber auch weder Auslöser noch Symptom, sondern einfach nur Vorwand, um mich von bestimmten, mir lästig und mühsam erscheinenden Zwängen zu befreien.
Sie: „Also, Rhonda, ich muss jetzt aufhören, ich habe Besuch!“

Back to basic, zurück zu Taco-Soße und Donuts, Nachmittagen in Zirkustrailern und einer Sammlung Plastikbärte von Pointdexter lehrte er mich, dass eine Situation dann lustig ist, wenn scheinbar entgegengesetzte Elemente miteinander verbunden werden. Gibt es irgendeinen Philosophen oder Soziologen, der diesen Sachverhalt schon einmal treffender ausgedrückt hat?
Griffy: „Ich habe ihm die Worte eben in den Mund gelegt, na und?“

Ich schob ihn vor, ja ganz sicher tat ich das, zitierte ihn, um Kontrapunkte zu setzen, Diskussionen zu beenden oder einfach nur gehört zu werden. Soziale Beziehungen können sich mitunter als schwierig erweisen. Er schien der Schlüssel, die Brücke, die Krücke, als sonst wenig half. Eine isotonisch-mentale Erfrischung mit Regenerationseffekt. Und ich hatte Durst.
Mr. Toad: „Leben - reduziert auf das Elementare!“

Als er dann Anstalten machte, den mächtigsten Mann der Welt zu ersetzen, exemplarisierte – ein unmögliches Wort, aber er hätte es benutzt und dafür liebe ich ihn – also, exemplarisierte er mir, dass prinzipiell alles möglich war. Dass man sich nicht um Konventionen scheren musste, sondern auch wie er in luftig gelbfeurigem Dot-Shirt neue Akzente setzen konnte.
Die Familie vor dem Fernseher: „Er hat Mut, aber wird er mit dem Senat klarkommen?“

Aber ich drehe mich im Kreis. Ich möchte ihn skizzieren, auf ein Blatt Papier oder mein Display bringen. Gleichzeitig ist mir bewusst, dass er sich just in dem Moment, da Stifte die Papierfasern oder meine Finger die Tastatur berühren, aufzulösen beginnt und mich nur noch als sinnentleerte Variable spiegelverkehrt anstarrt.
Höchste deutsche Reichsbahn für den Brechtschen Verfremdungseffekt oder wie der Asterix-Texter Goscinny es einleiten würde - Zeit, eine Klammer aufzumachen:



Bertolt Brecht (tritt vor den Vorhang): „Was soll denn der Unfug, Jochen? Du hast in deinem Leben doch noch kein einziges Comic gezeichnet, du kannst gar nicht malen, nur diese orthopädisch verrenkten Figuren, die du überall hinkritzelst. Und dann diese ganzen Zitate! Denk´ doch mal an den Leser! Wer soll das denn verstehen? Meinst du, irgendjemand kennt dieses Zippy-Comic überhaupt? Wer soll ahnen, dass Griffy der Zeichner von Zippy und Mr. Toad, dem Frosch, ist, geschweige denn, dass Zippy in einer Ausgabe zur Wahl des amerikanischen Präsidenten antritt?“
Das literarische Ich: „Jetzt mach´ mal die Lauschluken auf Brecht-Boy! Das hier is´ mein Text und den schreib´ ich so, wie ich Bock hab´!“
Bertolt: „Es geht nicht immer um das, was du so salopp Bock haben nennst. Es geht um Aussage, Assoziationen, Zeit- und Themenbezug.“
Das literarische Ich: „Ey, du hast leicht Quatschen. Du sitzt da seit den 60ern auf deinem Literatenpodest im Himmel wie eine podestmässige Person und ...“
Bertolt: „Die ,podestmäßige Person’ ist ein Zitat aus der Fernsehsendung Roseanne. Ich hoffe, das kennzeichnest du durch eine entsprechende Fußnote.“
Das literarische Ich: „Logo, Bertie, logo!“
Bertolt: „Ich wünschte mir wirklich, du würdest dein Potential besser nutzen, Jochen!“
Das literarische Ich: „Vielleicht benutze ich dich ja gerade dazu ...“
Bertolt: „Du meinst, du hast meinen Erscheinen inszeniert, obwohl ich dachte, ich käme aus freien Stücken?“
Das literarische Ich: „So sieht´s aus, Bert-Man!“
Bertolt: „Genial!“
Das literarische Ich: „Sicher! Aber kann ich jetzt vielleicht meinen Text weiterschreiben?“
Bertolt: „Eins noch: Ich hätte gerne ein bisschen was Kommunistisches am Ende.“
Das literarische Ich: „Nein, Bert!“
Bertolt: „Etwas Gesellschaftskritisches?“
Das literarische Ich: „Vergiss es!“
Bertolt: „Dann irgendetwas aus Sissy. Vielleicht die Szene wo ihre kleine Tochter ... in Italien ... so als Antagonismus?“
Das literarische Ich: „Das is´ ne Scheißidee, Bertie! Ich mach´ jetzt weiter! Genau so wie ich angefangen hab´, mit Zitaten, Zusammenhangsprüngen und Verschleierungstaktik, das gibt immerhin ´ne gewisse Distanz bei meiner Eigencharakterisierung!“
Bertolt: Du raffinierter Hund!“



Er am Funkgerät – wer hat ihn eigentlich daran gelassen? - : „Over! Roger Meier!“

Der einzige Ausweg aus diesem Dilemma besteht wohl darin, zu realisieren, dass er nicht ist, nicht war, nicht sein wird und auch nicht sein kann, wie irgendein anderes fiktionales oder tatsächlich existierendes Lebewesen in diesem Universum.
Und so erlange ich - Traummann hin oder her - ein Stück universelle Weisheit.
Das Publikum über seinen Auftritt: „Ist das schon die Amtsantrittsfeier?“

Ich denke, es ist Zeit, den Topf vom Herd zu nehmen.
Sie, von nebenan: „Komm wieder ins Bett, Zippy, es ist noch viel zu früh!“

Viva la Mama – E pluribus Pinhead!



Hinter dem letzten Vorhang.
Bertolt Brecht: „Dieses Schwein hat meine Idee geklaut!“

Letzte Aktualisierung: 27.04.2011 - 18.51 Uhr
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