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Traumfrau/-mann | April 2011

Die Magie des Augenblicks
von Andrea Will

Jeder von uns hat gewisse Vorstellungen von seinem passenden Gegenstück, mit dem er gewillt ist, den Rest des Lebens zu verbringen. Und es genügt nicht das perfekte Aussehen. Schließlich sollte man mehr als zehn Wörter miteinander wechseln können. Bedenkt man, dass im Laufe des Zusammenlebens die Gespräche immer weniger werden, kein zu großer Wunsch.

Dabei waren meine Ansprüche an das männliche Gegenstück gar nicht mal so zahlreich. Und sie waren erfüllbar. Er sollte groß sein. Ein nettes Lächeln besitzen. Sich ein wenig für Kultur begeistern. Ich sollte mehr als die besagten zehn Worte mit ihm wechseln können und er sollte eine durchschnittlich gute Erscheinung besitzen. War das zu viel verlangt für einen Mann?

Eines Tages geschah es, dass ich jenen Traummann vor mir sah, der meinen Vorstellungen entsprach. Groß, schlank. Und dazu auch ein nettes Aussehen und ein Lächeln, das mir fast den Verstand raubte. Umwerfend. George Clooney würde vor Neid erblassen. Obwohl ich zugeben muss, dass ich auch den nicht von der Bettkante schubsen würde.

Ich sah meinen Traummann in der Eingangshalle eines Theaters. Cool stand er da an einem Tisch und nippte an einem Glas. Eine Jeans, ein in Pastellfarben gehaltener Pullover, braune Schuhe. Dunkle Haare. Und dieses bezauberndes Lächeln. Ich schmolz dahin.

Hat man erst einmal ein Opfer im Visier, stellt sich die Frage: Was nun? Es gibt ja bekanntlich immer zwei Möglichkeiten. Entweder man ergreift selber die Initiative oder man wartet ab, ob das Gegenüber den ersten Schritt tut. Was aber, wenn beide darauf warten, dass der jeweils andere den ersten Schritt unternimmt?

Minuten, die zu Stunden werden können, begannen. Ich gab meine Jacke an der Garderobe ab und überlegte mir einen Schlachtplan. Doch als ich mich wieder umdrehte, um ihn in die Tat umzusetzen, war das Objekt meiner Überlegungen wie durch Zauberei verschwunden. Weg! Meine Blicke musterten jeden Winkel des Raumes. Aber er blieb verschwunden. Wieder eine Chance vertan, die mein ganzes Leben hätte verändern können. Es war zum Verrücktwerden. Ich lächelte, als mir die Sprüche meiner Großmutter wieder einfielen. „Es gibt nicht ein Händchen voll, sondern ein ganzes Ländchen voll“. Oder: „Andere Mütter haben auch hübsche Söhne.“ Aber das tröstete mich wenig.

Ich ging zu meinem Platz im Theater und blätterte im Programmheft. Die ersten Besucher kamen und nahmen ihre Plätze ein. Und dann sah ich „ihn“ erneut. Im Programm! Auf Seite sieben. Peter Gerlach. Er war einer der Akteure, die bald dort oben auf der Bühne stehen würden. Auch das noch: Ein Schauspieler! Bilder und Geschichten schossen mir durch den Kopf.

Ich saß da und überlegte, wie ich es anstellen konnte, ihm zu begegnen. Dann stand ich auf und ging zur Toilette. Dort stützte ich mich am Waschbecken ab und sah in den Spiegel: Was war nur aus mir geworden? Kann man sich so in einen Menschen verlieben, den man nicht mal kennt? Ich sah auf die Uhr. In zwanzig Minuten begann die Vorstellung. Als ich mich zum Gehen wandte, wäre ich auf dem glatten Kachelfußboden beinahe ausgerutscht. Das brachte mich auf eine Idee.
Die Umkleideräume für die Schauspieler mussten sich ganz in der Nähe befinden. Und sicher gab es dort auch Ruhe-Räume …
Ich öffnete die Toilettentür und wartete, bis sich Schritte näherten. Dann ließ ich mich zu Boden gleiten und blieb liegen.
„Ist Ihnen etwas passiert? Kommen Sie, ich helfe Ihnen. Nebenan gibt es eine Liege.“
Es war die Stimme einer Frau. Offenbar jemand vom Theaterpersonal, stellte ich fest, als ich langsam und scheinbar mühevoll die Augen öffnete. Sie half mir auf und wir gingen zu einem kleinen Nebenraum. Beim Vorbeigehen sah ich, dass er sich neben der Garderobe von Peter Gerlach befand. Sein Namensschild befand sich an der Tür. Mein Herz überschlug sich. Doch ich musste ruhig bleiben, sonst würde alles auffliegen. In dem Raum befand sich eine Couch. Ich setzte mich hin und die Dame meinte: „Bleiben Sie ruhig sitzen. Ich hole Ihnen erst einmal was zu trinken auf den Schreck.“ Dann verschwand sie.
Ich saß also hier auf der Couch. Und nebenan Peter Gerlach! Schicksal? Doch wie sollte ich dem Schicksal auf die Sprünge helfen? Als ich mich umsah, bemerkte ich eine Zwischentür, die zu Peter Gerlachs Raum führte. Er und ich waren also nur durch diese Tür voneinander getrennt. Ich klopfte anstandshalber, aber nicht zu laut. Weil niemand antwortete, drückte ich vorsichtig die Klinke. Mein Herz klopfte bis zum Hals: Die Tür war nicht verschlossen! Ich öffnete sie vorsichtig einen Spalt weit: Mein Traummann saß mit dem Rücken zu mir an einem Schminktischchen!
In diesem Moment kehrte die freundliche Dame zurück. Ich trat hastig zurück und schloss die Tür.
„Ich sehe, es geht Ihnen besser“, sagte sie und reichte mir ein Glas Wasser.
Sie sah verstohlen zur Tür: „Ja ein Mann mit viel Charme und Charisma. Intelligent. Gut aussehend. Nicht verheiratet. So einen Mann wünschen sich viele. Glauben Sie mir“.
Er war nicht verheiratet! Also war er frei. Frei für mich.
„ Sieht so aus, als hätten Sie ein Auge auf ihn geworfen“, neckte mich meine Helferin und musterte mich eindringlich: „Ihre Augen strahlen! Es hat Sie erwischt! Stellen Sie sich hinten an, und nun gehen Sie am besten wieder zu den Zuschauern zurück.“

Ich befolgte ihren Rat. Nach einigen Minuten ging das Licht aus und die Vorstellung begann. Er spielte darin einen Rechtsanwalt. Es passte zu ihm. Seine Stimme. Sein Auftreten. Alles passte. Doch wie stellt man es nur an, jemanden wie ihn auf sich aufmerksam zu machen? Ich überlegte und überlegte. Doch es fiel mir nichts ein. Schließlich war ich keine pubertierende Göre mehr, der man alles durchgehen ließ, sondern eine Frau, die zumindest nach außen hin ihr Leben fest im Griff hatte.
Enttäuscht, holte ich mir nach der Vorstellung meine Jacke und ging zu meinem Wagen. Es war Zeit für meine Heimfahrt.

Im Wagen drehte ich das Radio an. Es war purer Zufall, aber sie spielten gerade meinen Lieblingstitel:„My Way“, von Frank Sinatra. Ich höre ihn immer, wenn ich traurig bin. So blieb ich einige Zeit regungslos im Auto sitzen. Und fing an zu träumen. Ich sah ihn und mich tanzend. Eng umschlungen. Es hätte alles so schön sein können. Der Titel war zu Ende und ich fuhr los. Doch ich kam nicht weit.
An der nächsten Ampel musste ich abrupt bremsen. Ich hatte beinahe Rot übersehen. Nur einen kurzen Atemzug später ohrenbetäubendes Quietschen hinter mir. Dann ein trockener Schlag gegen das Heck. Blech knallte auf Blech, Glas splitterte. Auch das noch! Enttäuschung in der Liebe. Autounfall. Was würde als nächstes kommen?
Jemand klopfte an die Autoscheibe. Und als ich einen Blick riskierte, sah ich ihn. Peter Gerlach persönlich. Mir stockte der Atem. Ich drehte die Fensterscheibe nach unten.
„Entschuldigen Sie. Sind Sie verletzt?“, fragte er besorgt. Mit einem Blick, dem man alles verzeihen konnte.
„Nein, mir ist nichts passiert, glaube ich.“
„Kann es sein, das Sie das vorhin im Nebenraum waren? Im Theater, neben meiner Garderobe? Ich glaube, ich habe Sie für einen Moment im Spiegel gesehen. Als ich mich umdrehte, waren Sie weg. Schade.“
Und mit einem Lächeln fügte er hinzu: „ Ich hätte es ewig bedauert, wenn
wir uns nicht wiedergesehen hätten.“
Innerlich machte ich Jubelsprünge. Er hatte angebissen! Ich hatte ihn an der Angel.
Damit der Verkehr wieder reibungslos weiterfließen konnte, fuhren wir an die Straßenseite. Wir tauschten unsere Daten für die Versicherung aus. Ich überlegte, was ich noch anstellen konnte, um das Wiedersehen zu verlängern.
„Ich glaube, ich werde erst mal hier irgendwo übernachten, denn ich habe noch fast hundertfünfzig Kilometer vor mir“, wagte ich einen Versuch, und wieder ging er darauf ein:
„Ich wohne im Rheinischen Hof. Dort sind wohl noch Zimmer frei, denke ich.“
„OK. Fahren Sie voraus?“
Kurze Zeit später bekam ich ein hübsches Einzelzimmer in der Nachbarschaft meines Traummannes. Ich hatte inzwischen schrecklichen Hunger.
„Darf ich Sie noch zu einem späten Imbiss einladen?“, fragte mich mein „Unfallgegner“.
Und so kam es, dass wir uns zu später Stunde noch im Hotelrestaurant trafen, das auf späte Gäste eingerichtet war. Was dann geschah, kam mir fast wie ein Märchen vor. Ein Glas Wein zu viel. Gedämpftes Licht. Romantische Musik. Mein Traum wurde wahr: Ein nicht enden wollender, langsamer Tanz. Eng aneinandergeschmiegt. Wir gingen auf sein Zimmer und wachten am Morgen im gleichen Bett auf.


***
Gegen zehn klingelte das Telefon.
„Hier ist der Weckdienst, Herr Gerlach, Sie wollten geweckt werden.“
„ Danke. Wir kommen in einer Stunde nach unten.“
Ich muss danach wohl noch einmal eingeschlafen sein. Peter weckte mich mit einem Kuss, und bald gingen wir hinunter an die Rezeption.
„Guten Morgen, Herr Gerlach. War alles zu Ihrer Zufriedenheit?“
„Danke, wie immer. Heute haben wir Jubiläum. Vor genau fünfundzwanzig Jahren lernten wir uns hier kennen. Und wir freuen uns immer wieder, wenn wir diesen Tag jedes Jahr aufs Neue erleben können. Nicht wahr, Resi?“

Letzte Aktualisierung: 13.04.2011 - 16.45 Uhr
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