Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
“Welcher Unhold hat unser Farblager verwüstet?” Die schwarzen Flügel der Zauberfee Calista vibrierten und wirbelten die Farbpigmente zu einer Puderwolke auf. Sie nieste mehrmals kräftig und sank erschöpft auf einen der zahlreichen ausgehöhlten Baumstämme nieder. Die meisten waren fast leer.
Höchstens die Hälfte des kostbaren Rohstoffes war farbrein zu gebrauchen.
Calista sprang auf.
“Das reicht niemals!” Schweiß trat aus ihren Fühlern hervor, tropfte zu Boden und bildete mit den Pigmenten eine undefinierbare graubraune Paste.
Wo waren die Wachen geblieben?
Was ging hier vor?
. . .
Die Arbeitsfee Floriel hatte die Arbeiterinnen auf dem Platz unter den Farnen um sich versammelt. Der Frühjahrswind wehte leicht um ihre pastellenen Tüllröckchen.
“So bedenkt doch! Wenn Calista wirklich eine Zauberfee wäre, dann hätte sie auch die Kraft, der Natur das Bunte einzuhauchen!”
Aus dem Feenvolk kam Zustimmung.
“Wohl wahr!”
“Stattdessen lässt sie uns jahraus, jahrein mühselig Blüten, Gräser und Holz ernten und sammeln, um daraus die Mischung für den Lenz herzustellen!”
“Täte sie zaubern, wäre die Mühsal entbehrlich!”
“Wenn wir für unsere Arbeit wenigstens eine zusätzliche Gabe Honig erhalten würden!”
“Das kann Caslista nicht bestimmen. Was soll man machen, wenn die Bienen so geizig sind?”, bemerkte die kleinste und zierlichste der Feen leise.
Hinter den Blättern lugte der fettleibige Troll Elon mit seiner roten Kugelnase hervor. “Oh! Die werten Damen genießen beizeiten den Feierabend?”, krächzte er. “Wo doch die Sonne noch nicht dem Mond gewichen ist!”
“Zieh von dannen!”
“Wie er aussieht! Abscheulich!”
Elon hüpfte von einem krummen Beinchen auf das andere. “Haben meine Ohren es recht vernommen? Calista soll die Frühlingsfarben herbeizaubern?” Er fletschte mit seiner wulstigen Zunge durch seine große Zahnlücke und benetzte seine bläulichen Lippen.
“Dein Anblick beleidigt unsere Augen”, flüsterte die kleinste Fee.
Floriel erhob Flügel und Arme. “Was schert uns dieser Troll.”
Der Gnom pflückte eine Blüte vom Löwenzahn. Blass sah es aus, weil ihm noch keine Farbe aufgetragen worden war.
Er zupfte ein Blättchen nach dem anderen ab. “Calista kann zaubern. Calista kann nicht zaubern. Sie kann zaubern, sie kann nicht zaubern.” Dann warf er das zerrupfte Blümchen auf den Boden.
Elon stellte seine Füße mit den Zipfelschuhen auf ein Eichenblatt und schwebte fort. “Elon ist ein Troll gar toll!”
Glockenhelles Feenlachen verabschiedete ihn.
“Er sollte seine kümmerliche Figur im Wasserspiegel des Sees ansehen!”, spotteten sie.
“Was kümmert uns dieser Eremit! Wir müssen mit Calista sprechen”, mahnte Floriel.
Die kleine Fee meldete sich wieder zaghaft zu Wort. “Das letzte Mal, als wir Calista um ihren Zauber baten, hat sie Hagel, Donner und dichte Nebel über unser Reich gebracht.”
“Wohl wahr!”
“Die Ernte wurde dadurch noch mühseliger.”
Floriel tippte sich an ihre goldfarbenen Fühler. “Wir legen unser Tagwerk nieder!”
“Was sollen wir tun?”
“Nichts!” Floriel reckte ihren schlanken Hals in die Höhe und warf ihr langes blondes Haar in den Nacken. “Wir werden so lange nichts tun, bis Calista bewiesen hat, dass sie eine Zauberin ist!”
“Aber wenn wir unsere Arbeit ruhen lassen, können wir dem Frühling nicht rechtzeitig seine Leuchtkraft geben!”, gab die kleine Fee zu bedenken. “Ohne farbenfrohe Blüten werden die Bienen keinen Nektar sammeln!”
“Ohne Nektar keinen Honig!”
“Pah!” Floriel verschränkte ihre Arme. “Hat eine einen besseren Vorschlag?”
Plötzlich fegte eine heftige Windböe durch das Unterholz.
Die Feen klammerten sich ängstlich an die Halme.
Die Farne taten sich auf und mit einem ohrenbetäubenden Rauschen landete Calista auf dem Versammlungsplatz.
“Hier also vergeudet ihr wertvolle Zeit, anstatt emsig eure Pflichten zu erfüllen, wie es unsere Tradition ist!”
Sie schlug mehrmals wild mit ihren Flügeln auf und ab. “Weil die Lagerhöhle nicht bewacht worden ist, hat man dort Unwesen getrieben! Über die Hälfte der Farbpigmente sind verstreut worden!”
Die Feen schrieen entsetzt auf.
Calista drehte sich einige Male um ihre eigene Achse und stäubte schwarzen Feenstaub über die Arbeiterinnen.
“Wie armselig ihr ausseht ohne eure pastellenen Gewänder! Und nun heran an die Arbeit, bevor ich zur Strafe Blitze und Hagel herniederschicke!”
“Aber was ist, wenn die Farben nicht ausreichen?”, fragte Floriel und flatterte auf und ab.
Die kleinste der Feen pustete sich den schwarzen Staub vom Gewand. “Dann wird Calista zaubern!” Ihre Wangen waren rot angelaufen, weil sie sich selbst noch nie so laut reden gehört hatte.
Die Zauberfee riss ihre Augen auf, blitzschnell zischten zwei gallegrĂĽne Pfeile ĂĽber das Erdreich und hinterlieĂźen zwei tiefe Schneisen.
Die Feen wichen zurĂĽck.
“Ich werde nicht zaubern”, schimpfte Calista. “Wer Honig haben will, muss arbeiten! So will es unsere Tradition. Seid sparsam mit dem farbenen Puder!”
Wieder drehte sie sich blitzschnell wie ein Blatt im Wind um ihre eigene Achse und flog davon.
. . .
“Ich bin ein Troll, ich bin gar toll!”
Elon kratzte sich an seiner Warze, die auf seiner roten Nasenspitze prangte und mit grauen Haaren verziert war.
Der Gnom hüpfte um Calista herum. “Wenn du mich zum Manne machst, gebe ich dir Zauberkraft!”
“Welch Tor er doch ist.” Sie flog kurz auf, landete wieder auf der Anhöhe und ließ sich anmutig auf dem Moos nieder. Ihr Tüllkleidchen glänzte in der Sonne tiefblau und das pechfarbene Haar war streng zu einem Knoten im Nacken geflochten.
Von hier oben konnte sie sehr gut die Arbeit ihrer Feen überwachen. Emsig brachten sie schönste Farben in die Natur, damit es so nach und nach Frühling wurde. Ein jeder Grashalm wurde grün und unzählige Blüten erstrahlten.
“Ich schenke dir meinen Zauber, du schwarzes Gift, wenn du mein Weibe bist.”
Elon legte seine verkrüppelten Hände auf seine linke Brustseite. “Mein Herz schlägt für die Schönste im Feenland!”
Die Zauberfee schüttelte sich. “Brrrr. So verschone er mich mit seinem Werben.”
“Weil ich krumm bin? Weil ich dumm bin?”
Er hĂĽpfte von einem Beinchen auf das andere und kicherte.
Floriel landete keuchend vor den FĂĽĂźen Calistas.
“Wir haben keine Pigmente mehr!”, sagte sie atemlos. “Schande soll über den kommen, der uns in diese Situation gebracht hat!”
Sie kniete sich vor Calista nieder. “Bitte. Vergiss die Tradition. Du musst zaubern. Es handelt sich um einen Notfall.”
“Zaubern soll sie. Zaubern soll sie”, krächzte Elon und zeigte auf Calista.
Diese zog ihre Augenbrauen hoch. “Ohne Arbeit keinen Honig! Ich hatte zur Sparsamkeit gemahnt!”
“Aber wenn die Blütenfarben zu dünn aufgetragen sind, entfalten sie nicht ihre volle Leuchtkraft! Blässe bietet keinen Anreiz für die Bienen!”, gab Floriel zu bedenken.
“Oh! Es droht eine Hungersnot im Feenland.” Elon zwinkerte Calista zu und flüsterte ihr ins Ohr. “Wenn du mich zum Manne auserkoren hast, verleihe ich dir Zauberkraft.”
Er hielt ihr seine zum Kuss gespitzten Lippen entgegen.
Calista erhob sich, plusterte ihren Tüll auf und entfaltete ihre schwarzen Flügel. “Tut, was ich befohlen habe! Sparsamer mit dem kostbaren Gut, sonst schicke ich Regen. Dann war alle Arbeit vergebens!” Sie blickte hinauf ins Firmament und wieder schossen zwei giftgrüne Pfeile aus ihren Augen empor.
Sofort zogen sich über ihnen dunkle Wolken zusammen und ein lautes Donnern ließ Blätter und Halme erzittern.
“Schnell!”, rief Floriel den Feen zu und flog zu ihnen hinunter ins Tal”, wir müssen hurtig unseren Feenstaub über die Farben legen, damit der Regen sie nicht abwaschen kann! Rettet, was zu retten ist.”
Elon hopste wieder von einem Bein auf das andere. “Schönste der Feen! Wollt Ihr eine Hungersnot riskieren? Oder gar selbst elendig krepieren? Einen Kuss erbitte ich. Ihr werdet es nicht bereuen.”
Calista kniff die Augen zusammen. Auf ihrer Stirn bildeten sich kleine SchweiĂźperlen, die in der Sonne glitzerten.
Abermals hielt Elon ihr seinen Kussmund entgegen. “Der Schönsten schenke ich meinen Zauber.” Er benetzte seine Lippen und schmatzte.
Sie hatte keine andere Wahl.
Calista atmete tief ein und spitzte ihre roten vollen Lippen. So hielt sie ihren Mund dem Gnom entgegen.
“Ah!” Elon rieb sich die Hände. “Ihr wollt mich küssen.”
Die Zauberfee lieĂź ihre Augen geschlossen und nickte mehrmals.
So drĂĽckte der Troll Elon Calista seine bitteren Lippen auf ihren sĂĽĂźen Mund.
Sie hatte ihren Atem angehalten und fĂĽrchtete, auf der Stelle tot umzufallen.
. . .
“Oh!” Floriel riss ihre Augen auf. “Es ist ein Wunder geschehen! Nur einen Augenaufschlag lang und der Frühling ist in den schönsten Farben erstrahlt!”
“Ich habe es längst gewusst, dass Calista zaubern kann”, lachte die kleinste der Feen.
“Wie kannst du Kenntnis davon gehabt haben?”, fragte Floriel und kratzte sich an ihrer Stirn.
“Nun schau doch!” Die Kleine zeigte ins Tal. “Alle waren zugegen, als unsere Zauberfee mit den scharfen Blitzen aus ihren Augen diese zwei Furchen ins Erdreich getrieben hat! Außerdem kann sie auch Blitz, Donner und Regen herbeizaubern!”
“Ein Hoch auf unsere Zauberfee Calista!”, frohlockte das Feenvolk.
Ein großer Schwarm Bienen zog aus und bevölkerte die unzähligen leuchtenden Blüten.
Floriel zog ihre Stirn kraus. “Doch zu gerne hätte ich gewusst, wer der Unhold in der Höhle war, um ihn einer gerechten Strafe zuzuführen.”
. . .
Elon saĂź hoch im Wipfel einer Eiche und kratzte sich an seiner behaarten Warze.
Heraus rieselten Farbpigmente in allen Schattierungen.
“Gar herrlich ist ein dummes Weib, was denkt, dass es nicht zaubern kann. Und deshalb mich zum Manne nahm.”
Elon bemerkte, wie es in seinem Magen grummelte.
“Frau!”, rief er krächzend, “geschwind! Reiche mir den Napf mit Honig! Ein leerer Bauch verzaubert nicht gern!”
Letzte Aktualisierung: 22.05.2011 - 09.51 Uhr Dieser Text enthält 10009 Zeichen.