Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
Vor dem Gate hat sich eine Schlange gebildet. Es ist die letzte nach der Kofferaufgabe und dem Körpercheck. Die Menschen schauen gelangweilt und schicksalsergeben. Ein kleiner Junge rennt auf und ab. Aus seinem Mund ertönen Motorengeräusche. Ab und zu lässt er sich zu Boden fallen, schliddert den blankpolierten Boden entlang. Sein Vater steht hinter mir, telefoniert mit dem Handy, ordert einen Mietwagen.
„Lass das Julian!“, sagt er halbherzig, doch sein Sohn überhört die Anweisung. Das imaginäre Auto nimmt eher an Tempo und Lautstärke zu.
Ich schaue mir das Spektakel belustigt an. Da fällt mein Blick auf Julians Arm. Er ist schneeweiß und ganz offensichtlich frisch gegipst.
„Was hast du denn gemacht?“, will ich wissen.
Julian schaut mich misstrauisch an, aber dann zeigt er mir doch stolz seinen Arm wie eine Trophäe.
„Bin hingefallen.“
„Und wie ist das passiert?“
„Beim Skateboardfahren.“
Sofort startet er erneut eine Runde, um mir den Unfall zu demonstrieren.
„Julian, lass das!“ ertönt etwas lauter die Stimme hinter mir.
„Hattest du denn schöne Ferien?“, versuche ich ihn in ruhigere Bahnen zu lenken.
Jetzt telefoniert sein Vater vermutlich mit einer Freundin, denn seine Stimme klingt einschmeichelnd sanft.
„Geht so“, sagt Julian mit einem Seitenblick auf ihn.
„Du hattest keine Kinder zum Spielen“, helfe ich ihm auf die Sprünge.
„Die sprechen hier so komisch.“
„Französisch. Hast du nicht ein paar Worte gelernt?“
Er schüttelt den Kopf über meine absurde Frage.
„Und du? Hattest du schöne Ferien?“, fragt er mich zu meiner Überraschung.
„ Ja, ich denke schon. Ich bin gewandert.“
„Wandern ist doof.“
Ich fürchte, dass sein Interesse erlischt, und er sich erneut halsbrecherisch auf den Boden werfen könnte.
„ Nein, Wandern ist abenteuerlich. Ich habe sogar eine Fee getroffen.“
„Du lügst.“
„Nein, wenn ich es dir doch sage.“
Sein spöttischer Blick wandelt sich in Neugier.
„Dann erzähl!“, fordert er mich auf.
Erwartungsvoll schauen mich seine Kinderaugen an. Sein Vater hat aufgehört, zu telefonieren. Ich schlucke.
„ Feen sind sehr schwer zu finden. Am liebsten halten sie sich in der Nähe des Wassers auf.
So bin ich am Ufer des Flusses Sorgue entlanggewandert bis zur Quelle. Dort hat einmal vor vielen tausend Jahren ein Bauer gelebt, dessen Felder keine Frucht mehr brachten, weil alles vertrocknet war. Unglücklich streifte er durch den Wald und fragte sich, wie er seine Frau und seine Kinder ernähren sollte. Da erschien plötzlich eine Fee vor ihm. Er klagte ihr sein Leid. „Kannst du mir nicht helfen?“, bat er sie. Sie gab ihm einen Smaragd. „Was soll ich mit dem kaltem Stein? Er kann meine Familie nicht sattmachen“, murrte er, anstatt sich zu bedanken. Die Fee verschwand. Traurig ging der Mann nach Hause. Doch welche Überraschung! Plötzlich verwandelte sich der Stein in eine sprudelnde Quelle von smaragdgrüner Farbe. So konnte er seine Felder bestellen und seine Kinder mussten nicht verhungern.“
„Und wo hast du deine Fee getroffen?“, hakt er unbeeindruckt von meiner Erzählung nach.
„Im Wald. Nachts. Feen sind sehr scheu. Die kann man tagsüber nicht sehen.“
„Cool. Du bist nachts gewandert!“
„ Das ist gar nicht so einfach, wie du denkst. In der Dunkelheit kann man die Wege nicht mehr erkennen, und beinahe wäre ich über einen dicken Ast gestolpert. Dann hätte ich jetzt auch so einen Gipsarm wie du.“
„Hast du aber nicht“, stellt er nüchtern fest.
„Nein, denn plötzlich spürte ich eine Hand und ein Paar Augen schauten mich freundlich an. Erst dachte ich natürlich, es ist eine andere verrückte Wanderin, die sich nachts herumtreibt, aber dann habe ich gesehen, dass es eine Fee ist.“
„Wie sah sie aus?“
„ Ihr Gesicht leuchtete hell wie der Mond. Sie hatte lange wallende Haare und trug ein türkisfarbenes Kleid. Sie ging barfuss. Die Steinchen am Weg schienen ihr nichts auszumachen. Sie schwebte beinahe über dem Boden.“
„Eine Untote.“
„Eine was?“
„Du hast eine Untote getroffen.“
„Nein, es war eine Fee. Sie hat es mir doch gesagt.“
„Und die drei Wünsche? Eine Fee erfüllt immer drei Wünsche.“
„Was würdest du dir denn wünschen?“, frage ich zurück.
„ Keine Schule. Dass mein Freund Max mitkommt, wenn wir wieder verreisen, und...dass wir jeden Tag nach McDonalds gehen und Skateboard zusammen fahren und...“
„Na, das waren aber schon mehr als drei Wünsche.“
Ich spüre, wie mich jemand unsanft in den Rücken stößt.
„Sie können Ihre Märchenstunde jetzt beenden. Es geht weiter,“ höre ich eine Stimme hinter mir.
„...und dass die Mama wiederkommt,“ flüstert er mir noch zu, bevor er die Hand seines Vaters ergreift.
Die Stewardess lächelt mich an, während sie meine Bordkarte kontrolliert. Die einstige Menschenschlange hat sich aufgelöst und sucht nun nach den Nummern ihrer Plätze. Ich finde meinen Sitz direkt neben der Fensterluke und sehe zu, wie sich Häuser, Straßen, Autos und Bäume ins Unendliche verkleinern. Was bleibt, ist das Graublau des Himmels und die starre Bewegung. Wir scheinen festgeklebt zwischen Himmel und Erde. Es gelingt mir nicht, mich auf mein Buch zu konzentrieren. Meine Gedanken kreisen, kehren immer wieder zu Julian zurück. Er sitzt jetzt irgendwo neben seinem Vater.
Ich seufze.
Ich habe den richtigen Zeitpunkt verpasst, meine Chance vertan, ihn anzusprechen.
Was wäre passiert, wenn ich wirklich aus der Schlange der Wartenden herausgetreten und auf Julian zugegangen wäre?
Letzte Aktualisierung: 11.05.2011 - 07.08 Uhr Dieser Text enthält 5527 Zeichen.