Mit einem Flügelschlag bewahrt von Glädja Skriva
Vom See Genezareth
hat er vermutlich nie gehört,
der Siebzigjährige dort an der Ampel ...
Wie geringfügig seine Chancen sind,
heil über die Kreuzung zu kommen,
mit dem Spitz an der Leine! Wunderbar,
dass er überhaupt aufgetaucht ist
aus dem Neolithikum, dass er
die Sturzgeburt überlebt hat,
damals bei Leschnitz in Chelm,
heute Lesnica, Polen, in einer Scheune,
umstellt von Heckenschützen, dann
das splitternde Eis auf dem Weiher,
mit sieben, beim Schlittschuhlauf,
später jahrelang Stempeln,
Trommelfeuer bei Kursk, Schlaganfall
auf Mallorca, und dennoch tausendmal
die tödliche Fahrbahn überquert
beim Milchholen – unwahrscheinlich,
sagen wir: zehn hoch minus neunzehn,
dass er davongekommen ist
bis auf den heutigen Tag,
stolpernd, doch trockenen Fußes
auf seiner langen, langen Wanderung
über den See Genezareth, von der er
so wenig weiß wie sein Hündchen.
(Hans Magnus Enzensberger)
Neugierde hatte ihn in die Höhle getrieben. Denn außer ihr kannte er in diesem Waldstück jeden einzelnen Stein. Jeden Baum, jedes Moos- und Wiesenstück hätte er mit seinem Namen belegen können. Die knorrige Eiche dort drüben sah aus wie die zähe Alte daheim, mit ihrem Faltenkranz um den Mund. Nach außen hin wurde sie von ihm befolgt und schien geliebt. Nach außen hin.
Er selbst kam oft hierher. Meist alleine. Seinen Fuß setzte er immer an derselben Stelle über die dicke Wurzel, die aus dem Boden ragte; sei es bei Tag oder bei einsetzender Dämmerung. Hier war alles vertraut und doch ausreichend weit weg, um die Stille atmen zu können. Das war genug. Bis heute.
Und doch: Kennen Sie solche Tage? Sie sind aufgereiht, wie die Perlen an einer Schnur: Zwei Gelbe, zwei Grüne, zwei Rote; zwei Gelbe, zwei Grüne, zwei Ro ... . Bis sie zu Ihren Knöcheln reichen, schwer wie eine Eisenkette - und Sie diese dennoch weiterfädeln: Zwei Gelbe, zwei Grüne, zwei Rote; zwe ... und Sie plötzlich die Lust überfällt, nach all den Jahren diese Kette springen zu lassen, damit die Perlen davonhüpfen, tanzen und klackern können, in alle Richtungen hin: pling, gelb, gelb, plang, rot, grün, kling, gelb!
An einem solchen Tag beschloss Eric, das erste Mal über diese Wurzel zu hüpfen und in dem Waldstück die dunkle Höhle zu erkunden. Er stellte seinen braunen Rucksack am Höhleneingang ab. Der Zutritt war sehr schmal und er versuchte, sich mit angehaltenem Atem hineinzuschlängeln. Eine plötzliche Kühle, die ihm unter das Hemd kroch, überraschte ihn. Er hatte es gewagt! Das Klopfen der Spechte, das Rauschen der Blätter und Knarren der Eiche wurde gedämpfter. Stattdessen vernahm er ein leises Rieseln und Plätschern von feinen Rinnsalen, die tropften und sickerten. Ihre Gleichmäßigkeit beruhigte ihn und er wagte einen weiteren Schritt in die Dunkelheit. Eine Dunkelheit, die für seine Augen nicht lange so dunkel blieb, da von draußen ein feiner Lichtstrahl durch den Eingang fiel. Winzige Lichtpunkte tanzten an den Höhlenwänden und sahen aus wie kleine Gnome, die ihn, mit einem Hexenbuckel und einer kantigen Nase versehen, hämisch anlachten.
Für Eric war das abenteuerlich genug. Er wollte sich bereits zum Gehen wenden, als es zu dem kam, das niemand vorhersehen konnte. Noch nicht einmal Eric, der stets auf seinen Wanderungen eine Verbandskiste sowie eine Karte in seinen braunen Rucksack packte. Dieses Waldstück war noch nie von einer Erschütterung ereilt worden. Deshalb liebte er es. Es lag so still da, so friedlich und vorhersehbar. Immer. Bis zu diesem Augenblick, da nun die Erde zu zittern und beben anfing, als wolle ein Riese prustend lachend mit ihr Ball spielen. Die Vögel flatterten erschreckt auf, Bäume stürzten um und Geröllbrocken wirbelten durch die Luft, als sei es Popcorn, das in einer Pfanne hüpfte.
Eric wurde auf den Boden geworfen. Schützend hielt er seine Arme über den Kopf und schrie mit weit geöffneten Augen, bis sie eintrat: die Stille. Die gespenstische Stille.
Vorsichtig betastete Eric sein Gesicht, seinen Bauch, seine Schultern. Seine Lippen fühlten sich feucht an. Er leckte. Frisch und kalt, nicht süßlich und klebrig schmeckte es. Kein Blut. Er hatte Glück gehabt. Glück im Unglück. Sie würden ihn finden. Jetzt nur nicht durchdrehen. Er rief laut, mit dunkler, kräftiger Stimme: „Hilfe! - Hilfe!“ Die Höhlenwände trugen ein leises Echo zurück. „Hier bin ich!“ - „Bin ich! Ich ! Ich!“, antwortete ihm seine Stimme. Und dann kam sie doch. Die Panik. Und er buddelte und buddelte die großen und kleinen Steine, die den Eingang versperrten, keuchend zur Seite. Schneller. Noch schneller. Wie ein Hamster im Laufrad. Bis das Geröll nachrutschte und alles ins Rutschen kam und er es nicht mehr aufhalten konnte.
Der Höhleneingang blieb versperrt. In der Dunkelheit suchten Erics Augen nach etwas, an dem sie sich festhalten konnten. Bis sie einen winzigen Lichtpunkt entdeckten, der sich immer noch durch den Spalt der Höhlenwand wühlte; wie ein Gruß von der Welt da draußen, geworfen durch einen winzigen Briefkastenschlitz, nur für ihn. Nein, er durfte nicht aufgeben.
Und so legte Eric mit zittriger Hand fünf kleine Steine vor sich, die er ertastet hatte. Jeder Stein ein Tag. Damit er die Struktur nicht verlor, nicht den Rhythmus. Noch fünf Steine und sie würden ihn gefunden haben. Noch fünfmal tagheller Lichtstrahl durch den Höhlenspalt, aber auch fünfmal stockdunkle Nacht. Dennoch, er würde es schaffen. Er musste nur gut für sich sorgen. Seine Ohren, seine Finger suchten nach Wasserrinnsalen in der Höhle. Seine Hände formten sich zu einer kleinen Schüssel, die er unter einen großen, feuchten Gesteinsbrocken hielt. Plopp. Plopp. Plopp. Jeden einzelnen Wassertropfen schleckte er sorgsam auf und folgte mit der Zunge dem Faltenweg in seiner Hand. Beinahe euphorisch legte er sich mit geöffnetem Mund unter das Felsenstück und ließ sich das Rinnsal hineintropfen, wie süße Milch aus einer prallen Brust.
Elfter Stein, zwölfter Stein, dreizehnter Stein ... Mit zittriger Hand legte er den sechzehnten Stein auf den Hügel, der sich inzwischen vor ihm auftürmte. Dann stakste er auf dünnen Beinen zu dem Platz der Höhle, durch dessen Spalt der winzige Lichtstrahl in das Dunkel hereinflackerte. Losgeschickt von einem wolkenlosen, blauen Himmel. Den mageren Armen, dem rasselnden Atem hätte man die Wucht nicht zugetraut, mit der Eric, einen großen Brocken in der Hand, auf diesen Spalt einhieb. Wieder und immer wieder. Nur manchmal hielt er inne, um das Losgeschlagene mit seinen Nägeln wegzukratzen und an den spitzen Steinkanten der Öffnung entlang zu scharren; bis zu seinem Nagelbett hinunter. Seine roten, blutverschmierten Finger zwängten sich durch die Ritze und spürten, statt der Kälte der Höhle, die Wärme. Die Wärme der Sonne, die das Blut an seinen Händen verkrustete und seine klammen Finger pulsieren ließ.
An diesem Tag ließ sich sogar ein Schmetterling auf einem seiner emporgereckten Finger nieder. Mit angehaltenem Atem versuchte er ihn Millimeter für Millimeter zu sich hineinzuziehen. In die Höhle. Er wollte ihn haben; diesen schönen, leichten, flatterhaften Falter, mit Flügeln, so zart und leicht wie die einer Fee; weil er die Sonne auf dem Rücken trug. Er wollte ihn haben, auch wenn dieser morgen schon bei ihm - in der Dunkelheit - sterben würde.
Der Schmetterling war längst fortgeflogen, als Eric sich mühsam zu seinem Steinkalender robbte. Er legte seinen achtzehnten Kiesel mit zittriger Hand darauf. Von dort kroch er nicht mehr wie gewohnt zu dem Platz am Höhlenspalt, den er die letzten Tage kaum verlassen hatte, sondern legte sich unter seine Trinkstelle. Den Mund, zunächst weit und gierig geöffnet, presste er nun schmallippig zusammen, um schließlich sein Gesicht zur Wand hin abzuwenden. Das Rinnsal, das ihn zuvor mit Trinken versorgt hatte, ließ er an seinem Ohr vorbeitropfen und versickern; irgendwo im Boden.
Fieberträume schüttelten Eric und er sah eine alte Hexe auf ihrem Besen über den Höhlenspalt fliegen. Er suchte nach Zaubersprüchen - abrakabraaxas-simbklomiwogel-tutrufghiklon -, damit sich die Hexe in einen feengleichen Engel verwandele, die den Höhleneingang mit ihrem Flügel öffne. Aber stattdessen kam ein Geier angeflogen, der seinen langen, faltigen Hals, wie die Alte, in den Höhlenraum steckte und bösartig nach ihm pickte ... bis es vollständig um ihn dunkel wurde.
Als sich alles verfinstert hatte, bebte die Erde erneut. Jedoch war es dieses Mal kein Knirschen und Rutschen, Knallen und Poltern von Geröllmassen, sondern eher ein Knarren und Quietschen von Steinen; wie beim Öffnen einer alten, rostigen Tür. Die Geröllbrocken, die den Höhleneingang zugemauert hielten, bewegten sich langsam zur Seite. Licht fiel ein und der kleine Schmetterling näherte sich erneut. Mit bebenden Flügeln ließ er sich vorsichtig auf Erics Schulter nieder. „Eric“, sprach es sanft zu ihm, „Eric, du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin es, deine gute Fee, die auf dich aufpasst; die immer auf dich aufgepasst hat. Auch in der dunklen Höhle. Erinnerst du dich? Ich war dein frisches Wasser, der kleine Lichtstrahl.“ Die Flügel flatterten. Dann öffneten sie sich, zur Sonne hin, und ihre Farben schimmerten, glänzender als die der Glasperlenkette je gewesen waren. Dieses Mal bunt hingetupft: Matte und Helle, Zarte und Dunkle, Glänzende und Satte, die sich zu einem wunderschönen Bild zusammenfanden. Filigran und leicht legten sie sich zart, wie eine Daunenfeder, auf Erics Wunden.
Bis ein neuer Erdstoß kam - und sie in tausend Stücke riss.