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Fee | Mai 2011
Rettet die Baumschafe!
von Jule Anders

Moritz hat zu viele Kekse gegessen. Sonst wĂŒrde er sich nicht plötzlich die Ohren zuhalten und seine Augen schließen. Die Musik ballert, die Strobo-Blitze lassen die Leute um uns herum fĂŒr Augenblicke sichtbar werden und wieder verschwinden, ich spĂŒre den Bass in meiner Brust. Wir sind bei einem Live-Auftritt eines unbekannten DJs und Moritz und ich stehen hier, weil wir jeden Freitag ins „mono“ gehen.

Ich nehme ihm die rechte Hand von seinem Ohr. „Alles klar?!“, schreie ich und halte danach mein Ohr an seinen Mund, damit ich die Antwort hören kann.

„Hmh, isÂŽ grad extrem laut hier, findste nicht? Und das Licht ist seeehr unruhig, da wird mir `nen bisschen ĂŒbel von“, antwortet er langsam. „Weißt du, worauf ich jetzt echt Bock hĂ€tte? Auf Schokokekse! Am Besten welche mit Schoko UND Rosinen, kennste die?“

„Moritz, Kekse hattest du fĂŒr heute genug, aber da war definitiv zu wenig Schokolade und zu viel Hasch drin! Du und die Kekse – das hat noch nie geklappt! Ich hab gesagt, du sollst den Scheiß lassen.“

„Hmh, hast ja Recht. Aber ich wĂŒrdÂŽ mich jetzt trotzdem gerne irgendwo hinsetzen, wo’s ein bisschen gemĂŒtlicher ist ...“

Ich sehe in Moritz‘ rote Augen und schaue auf die Uhr. Es ist halb zwei. In vierzig Minuten hĂ€lt der Nachtbus gegenĂŒber vom „mono“. „Ok, lass uns ins Foyer gehen, da setzen wir uns hin, bis der nĂ€chste Bus kommt“, schreie ich ihm zu.

Moritz trottet neben mir her, schaut dabei mehr nach oben als nach vorne, und sieht an der Decke mit den grauen StahltrÀgern offenbar etwas höchst Faszinierendes, das ich nicht sehe.

Im Eingangsbereich stehen neben der Garderobe schwarze Kunstledersessel, die um kleine Tische gruppiert sind. Wir setzen uns und Moritz fĂ€ngt an, einen kleinen Umtopf, in dem eine kĂŒnstliche Blume steckt, intensiv zu betrachten. Ich frage mich, warum der Besitzer fĂŒr Blumen im Foyer Geld ausgibt und beschließe, uns ein Wasser von der Bar zu holen. Ich sage Moritz, dass ich gleich wieder da bin und er dort sitzen bleiben soll. Er nickt, ohne seinen Blick vom Blumentopf zu lösen.

Als ich wiederkomme, hĂ€lt mein Keksfreund den Topf in beiden HĂ€nden auf Brusthöhe und starrt noch immer auf die rote PlastikblĂŒte.

„Hier, dein Wasser.“ Ich halte ihm das Glas hin, er blickt hoch und schaut mich mit erstauntem Gesichtsausdruck an. FĂŒr einen Moment sagt er nichts. Dann blickt Moritz erneut auf die BlĂŒte, nickt langsam und stellt den Topf vorsichtig auf den Tisch zurĂŒck. „Du glaubst nicht, wen ich grad kennengelernt habe“, sagt er mit weitaufgerissenen Augen, als er mir endlich das Wasser abnimmt. Er deutet mit dem Finger auf die BlĂŒte: „Los, guckÂŽ mal darauf, aber erschreck‘ sie nicht.“

Erschreck‘ sie nicht? Das mĂŒssen mehr Kekse gewesen sein, als ich befĂŒrchtet hatte. Ich schaue auf die BlĂŒte und sehe – nichts. Ich schaue genauer hin und sehe – nichts.

„Wahnsinn“, sage ich so euphorisch wie ich ‚Kloreiniger‘ sagen wĂŒrde.

„Ich wusste, dass du sie sehen kannst. Sie hat gesagt, das geht nichÂŽ und ich wĂ€r der einzige, der sie sehen kann. Aber ich hab sofort gewusst, DU KANNST DAS AUCH!“ Moritz blickt mich freudestrahlend an und ich beginne, mir langsam Sorgen zu machen.

„Trink mal dein Wasser“, sage ich möglichst ruhig. Aber Moritz scheint mich gar nicht zu hören. Moritz freut sich.

„Du glaubst nicht, was mir die kleine Fee grad erzĂ€hlt hat.“

Aha. Eine Fee. Es hÀtte schlimmer kommen können.

„Also, eigentlich lebt sie gar nicht in unserer Welt, sondern im Feental. Wir Menschen haben keinen Zutritt zu ihrer Welt, die Feen aber schon zu unserer.“

„Und warum ist die Fee in unsere Welt gekommen?“, frage ich und nippe an meinem Wasser.

„Wegen der KaltwĂŒrmer.“

„Ach so. Trink jetzt dein Wasser!“

„Pass auf, das ist `ne irre Geschichte: In ihrer Welt gibt`s total viele Wesen, die wir nicht kennen. Und in so einem bestimmten Tal leben Baumschafe. Die musst du dir wie unsere Schafe vorstellen, nur dass sie eben FlĂŒgel haben, die in verschiedensten Farben schillern und auf BĂ€umen leben ...“

Moritz liegt jetzt mehr im Sessel, als dass er sitzt und redet entspannt in einem Tonfall, der keinen Zweifel daran lÀsst, dass er glaubt, was er erzÀhlt.

„ 
 das isÂŽ mehr oder weniger zum Selbstschutz, weil unten lauern die KaltwĂŒrmer. Die ernĂ€hren sich von Baumschafen. Wenn also ein Baumschaf im Schlaf vom Ast fĂ€llt, zum Beispiel, weil es sehr alt oder krank ist 
“ – Moritz schneidet sich mit der Hand die Kehle durch. „Die KaltwĂŒrmer machen es kalt, indem sie ihm innerhalb von Sekunden die komplette KörperwĂ€rme entziehen. Naja, fressen und gefressen werden, das isÂŽ in der Feenwelt nicht anders als hier. Das Problem ist nur: Das Gleichgewicht isÂŽ aus den Fugen geraten.“

„Und das verlorengegangene Gleichgewicht sucht sie ausgerechnet in unserer Welt? Sorry, aber deine kleine Fee scheint nicht die Hellste zu sein.“

„Quatsch, lass mich doch mal zu Ende erzĂ€hlen! Also, die Baumschafe sind extrem wichtig fĂŒr das Feental, die sind Rettungshubschrauber und Notarzt in einem. Baumschafe sind krĂ€ftig und können fliegen, das heißt, die können andere Wesen retten, wenn die verletzt oder in Not sind. Ihr Speichel hat heilende KrĂ€fte, damit können sie Wunden versorgen 
“

Die Vorstellung, dass mir jemand mit seiner Zunge ĂŒber meine Wunde leckt, löst bei mir das BedĂŒrfnis aus, mich heftig zu schĂŒtteln, aber Moritz redet fröhlich weiter.

„ 
 jetzt gibt’s aber in der Feenwelt – wie anscheinend ĂŒberall – gute und böse MĂ€chte. Die böse Königin Fira hat sich vor kurzem was echt Mieses einfallen lassen: Sie hat die Baumschafe mit einem Fluch belegt, der sie reihenweise von den Ästen fallen lĂ€sst. So, und – tadamm! – jetzt kommt die kleine Fee ins Spiel: Die Seherin der guten Königin Amilia hat nĂ€mlich in ihrer Zauberkugel das Rezept fĂŒr das Gegenmittel gesehen: Man braucht eine Mixtur aus einem Tropfen Menschenblut, zwei Tropfen Schafsblut und etwas Harz von einem Taschentuchbaum 
“

„ 
 von einem Taschentuchbaum?“

„ 
 ja, du kennst ja wohl TaschentuchbĂ€ume! Bei uns im Botanischen Garten steht so einer. Aber jetzt kommt‘s: Das Ganze muss von einem erwachsenen Menschen zusammengemischt werden und das isÂŽ die wirkliche Herausforderung! Denn kaum ein Erwachsener hat die FĂ€higkeit, eine Fee zu sehen.“ Moritz gĂ€hnt ausgiebig, wĂ€hrend er die letzten Worte sagt.

„ Aha. Und wieso kannst ausgerechnet du sie sehen?“, frage ich und ertappe mich dabei, dass sich die Fee, die Baumschafe und die KaltwĂŒrmer in meinem Kopf zu real existierenden Lebewesen zusammensetzen.

Moritz blickt mich mit stolzem Blick an. „Nur Menschen, die sich `nen StĂŒck kindliche Seele bewahrt haben, besitzen die Gabe, Feen zu erkennen, hat mir unsere kleine Freundin eben gesagt.“

Jetzt ist die Fee schon unsere Freundin. „Was genau soll ich mir denn unter einer ‚kindlichen Seele‘ vorstellen? Dass ich mehr Kekse esse, als mir gut tut?
Und woher wusste die Fee, dass gerade du sie sehen kannst und sie in einem Blumentopf im „mono“ landen muss, damit du sie findest?“, frage ich eine Spur genervt.

„Wieso bist du denn plötzlich so aggro? Frag sie doch selbst, sie wirdÂŽs dir bestimmt erklĂ€ren.“ Moritz schaut mich aus seinen roten Augen verstĂ€ndnislos an und ich schĂ€me mich fast fĂŒr meine rationalen Fragen. „DafĂŒr bleibt leider keine Zeit, denn wir mĂŒssen jetzt unseren Bus kriegen.“

„Ok. Du oder ich?“

„Was, du oder ich?“

„Wer schmuggelt den Blumentopf raus? Die kleine Fee isÂŽ schĂŒchtern und ziemlich Ă€ngstlich, weißt du? Hier isses laut, es sind viele Menschen unterwegs und die verschiedenen GerĂŒche bringen sie total durcheinander. Sie hat mir gesagt, in der BlĂŒte wĂŒrdÂŽ sie sich sicher fĂŒhlen und 
“

„Jahaaa, ist schon gut, Moritz, ich hab’s kapiert.“ Ich öffne die breite Seitentasche an meiner Hose und stecke den Blumentopf hinein. Die Beule an meinem Oberschenkel sieht aus, als ob ich ein Glas hinausschmuggeln will. „Geh an meiner linken Seite, damit den TĂŒrstehern nichts auffĂ€llt“, bitte ich Moritz.

Wir schaffen es zu dritt – (zu dritt?) – in den Nachtbus, der nur 200 Meter entfernt von unserer WG hĂ€lt. Als wir in unsere Wohnung kommen, befiehlt Moritz mir, den Topf „gaaaanz vorsichtig“ aus meiner Tasche zu holen und auf seinen Schreibtisch zu stellen. Er knipst die Lampe an, schiebt den Blumentopf unter den Lichtkegel und beugt seinen Kopf langsam ĂŒber die BlĂŒte. Sein suchender Blick fixiert schließlich einen bestimmten Punkt und er lĂ€chelt.

Dann blickt er zu mir hoch. „Sie schlĂ€ft. Wir mĂŒssen leise sein. Sie hat mir eben im „mono“ gesagt, dass sie uns morgen in Ruhe erklĂ€rt, wie wir am Besten vorgehen und dass sie uns echt dankbar ist, dass wir ihr helfen. Sie isÂŽ selbst mal von einem Baumschaf gerettet worden, als sie sich einen FlĂŒgel gebrochen hat, deshalb will sie denen unbedingt helfen. Findste nicht auch, dass sie echt 
 magisch aussieht?“ Moritz schaut mich erwartungsvoll an.

Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Ich will ihm seine Fee nicht ausreden, denn er sieht gerade sehr glĂŒcklich aus. Nach einer Nacht Schlaf werden ohnehin alle Baumschafe, KaltwĂŒrmer und Feen verschwunden sein. Also sage ich: „Ich hol‘ mir noch ein Bier, willst du auch eins?“

„Hmh“, antwortet Moritz und schließt die Augen. Also kein Bier fĂŒr ihn. In der KĂŒche riecht es verrĂ€terisch nach PlĂ€tzchen und die SpĂŒle ist voll mit Backutensilien, die auf den Abwasch warten. Als ich zurĂŒck in Moritz‘ Zimmer komme, schlummert er friedlich mit seinem Kopf auf dem Schreibtisch neben dem Blumentopf.

Ich rĂŒttele an seiner Schulter und sage ihm, dass er ins Bett gehen soll. Schlaftrunken rafft er sich auf, zieht seine Turnschuhe aus und legt sich in voller Montur aufs Bett. Ich ziehe die Decke unter ihm weg, lege sie ĂŒber ihn, hole mir mein Bier vom Schreibtisch und knipse das Licht aus.

*******


„Chris!“

„Chris!!“

„CHRIIIIISSS!!!“

What the f***! Wie spÀt ist es? Der Wecker sagt: 8:02 Uhr. Es ist Samstag. Ich könnte ausschlafen. Es gibt nichts, absolut nichts, was es rechtfertigen könnte, dass Moritz an einem Samstagmorgen um 8:02 Uhr und 53 Sekunden so herumschreit!

Halt.

Es sei denn 


© Jule Anders. thx neelzz0r.

Letzte Aktualisierung: 15.05.2011 - 19.55 Uhr
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