„Mein Mädchen, wenn ich nur wüsste, wie ich dir helfen kann! Ich bin ja selbst so unglücklich.“ Omi Ruth saß auf Lenas Bettkante und wischte ihr zärtlich die Tränen von den Wangen. „Durch die Wand habe ich dich die ganze Nacht über weinen gehört. Ich meine, du hast schon drei Tage nicht mehr richtig geschlafen. Und auch nichts Gescheites gegessen. Das ist gar nicht gut, davon kann was in deinem Kopf kaputt gehen. Wir sollten gemeinsam versuchen, nicht mehr an das Unabänderliche zu denken! Ich weiß, wie schwer das ist. Aber das Leben muss doch weitergehen.“
Lena hatte so wunderschöne Sommerferien in einem Urlaubscamp auf dem Darß erlebt, ausgelassen mit Gleichaltrigen in den Dünen und Ostsee-Wellen getobt. Überschäumend von fröhlichen Eindrücken, zählte sie ungeduldig die Stunden, da sie ihren Eltern alles erzählen könnte. Doch der Moment kam nicht. Würde nie mehr kommen.
Wegen der hervorragenden Jahresbilanz hatte Vaters Firma die Angestellten und ihre Ehepartner mit einer Busreise durch Spanien belohnt. Auf der Rückfahrt verlor der Fahrer die Kontrolle, und der Bus, in dem Lenas Eltern saßen, überschlug sich und stürzte eine steile Böschung hinab. Überlebende gab es keine.
Statt eines Wiedersehens daheim eine Trauerfeier, an dem der halbe Ort teilnahm. Keine der wohlmeinenden Reden erreichte Lenas Ohr. Wie im Trance glitt sie durch die nachfolgenden Tage und Nächte. Anfangs konnte sie nicht einmal weinen. Ihre Welt war zusammengebrochen, sie selbst war erstarrt.
Die Großeltern väterlicherseits, die um ihren Sohn trauerten, meinten am Tag der Beisetzung, Ruth möge doch die Enkeltochter zu sich nehmen. Sie selbst seien zu sehr ausgelastet. Zumal Ruth als Kind ihre Mutter bei dem Bombenangriff auf Dresden verloren habe, wisse sie ja, wie Lena sich jetzt fühle. So die fragwürdige Begründung der anderen Oma. Lena, wenn sie denn gefragt worden wäre, hätte das auch für die bessere Lösung gehalten. Omi Ruth war ja so viel knuddeliger als die andere.
Gemeinsam packten sie Lenas Sachen, Bücher und Poster zusammen. Tiefbetrübt fuhren sie zu Omi Ruths Häuschen.
Früher war Lena oft in den Ferien mit ihrer Mami hier gewesen, mal mit, mal ohne Papi. Aber jetzt plötzlich so ganz allein, mit Sack und Pack für immer? Ohne Mami? Ohne Hoffnung, dass es je wieder anders würde? Der Gedanke ließ immer wieder die Augen überfließen.
„Ja, lass alles raus!“, meinte Omi in den ersten Tagen und drückte Lena an ihren gemütlichen Busen. Sie glaubte tatsächlich, von dem gingen heilende Kräfte aus. Doch nun fand Ruth, die Trauer ginge über Lenas Kräfte. Sie erzählte von einem Vogel, der nach jedem Tode aus seiner eigenen Asche wieder auferstehen würde. Strahlender und tatkräftiger als er zuvor war. Sie schilderte die schillernden Farben seines königlichen Gefieders.
Doch alles schwebte ohne Nachhall an Lena vorbei.
Energisch stand Ruth von der Bettkante auf. „Jetzt öffne ich erst mal die Fenster ganz weit, damit die grauen Gedanken hinausfliegen und Platz machen für heitere. Du wirst sehen, da kannst du auch wieder fest schlafen. Für Mittag bereite ich uns Pflaumenklöße. Mit brauner Butter und Zucker und Zimt. Hmmm! Da wirst du nicht widerstehen können.“
Lena blinzelte kurz zum Fenster. Ein Ast des Ahorns hatte sanft an die Scheibe geklopft. Kauerte da auf einem Zweig nicht ein zartes buntes Wesen? Der Umhang in den Farben des Phönix, golden und weinrot. Darunter ein blass-türkises Gewand. Ach, wahrscheinlich Sonnenstrahlen, die mit den Spinnweben und den sich langsam verfärbenden Blättern spielten. Lenas Augenlider glitten sachte herab, die unteren Wimpern zu treffen.
Das luftige Wesen flatterte auf Lenas Kopfkissen, umgaukelt von einer zarten Melodie. Im Halbschlaf versuchte Lena noch, die Instrumente zu erkennen. Eine Pikkoloflöte, Harfenklänge und … .
„Dies wird deine Melodie werden“, hörte Lena noch im Hinübergleiten in die Welt der Träume. „Bewahre sie gut. Mit der Zeit wird sie reicher und voller werden. Freilich nur, wenn du dazu beiträgst. Du bist für sie verantwortlich, liebe Lena. Solltest du sie jedoch vernachlässigen, werden ihre Töne schrill, disharmonisch oder gehen ganz verloren. Je mehr du gibst, desto stärker bekommst du zurück. Wenn du die Weise pflegst, dann behütet sie dich auch. Dann bin auch ich in deiner Nähe und stehe dir bei, soweit ich das kann. Ich bin eine Sana-Fee, eine die heilen hilft. Besonders bei seelischen Wunden.“
Ein verschmitztes Lächeln wie ein lang ersehnter Sonnenaufgang huschte über ihr feines Gesicht, als sie hauchte: „Wunder kann ich allerdings keine vollbringen, auch wenn ihr Menschen uns diese Fähigkeit zuschreibt. Nur bei dem, was du selbst möchtest, kann ich behilflich sein. In der nächsten Zeit schwebe ich in deiner Nähe. Wenn du später wieder freudig ins Leben schaust, dann muss auch ich weiter.“
Auf Lenas verlangende Bitte, ob sie denn nicht ganz bei ihr bleiben könne, bekam sie zur Antwort: „ Hach, wir Feen sind ja so wenige, und ihr Menschen werdet immer mehr und mehr! Früher kamen wir mindestens zu dritt. Heute ist es einzeln kaum zu schaffen, allen Bekümmerten beizustehen. Aber wann immer du unsere Erkennungsmelodie summst, dann komme ich ganz gewiss. “
Erfrischt wie schon lange nicht mehr, streckte Lena nach wenigen Stunden Schlaf die Glieder. Da war sie wieder, die Melodie. Ja Pikkolo, Harfe – und zart setzte eine Violine ein. Ebenso zaghaft klappte ein kleines Lächeln seinen Fächer über Lenas Antlitz auf. Vorsichtig öffnete sie ein Auge und sah, ja ganz bestimmt, einen anmutigen Hauch, schillernd in Gold, Weinrot, Lila und Lindgrün aus dem Fenster huschen.
„Meine Sana-Fee!“, flüsterte Lena ergriffen.
Da nahm sie auch schon den Duft von Vanille und Zimt wahr, der von der Küche die Stiegen heraufwallte. Und einen Mordshunger. Als sie aus dem Bett springen wollte, versagten ihr die Beine. „Omi! Omi! Hilf mir! Ich kann nicht mehr gehen!“
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, sprang Ruth hinauf zu den Schlafräumen, zu ihrer in Panik verzweifelten Enkeltochter und nahm sie in die Arme. „Das wird rasch wieder, mein Schatz. Muskelschwäche, die kommt, wenn man mehrere Tage im Bett gelegen hat. Wir werden nach dem Essen eine kleine Runde spazieren. Dann jeden Tag ein bisschen mehr, und weiter mit den Rädern. Bis die Schule anfängt, bist du wieder fit wie ein Turnschuh.“
„Schule? Ich soll in eine fremde Schule gehen, wo ich keinen Menschen kenne?“ Schon wieder wollte Lena verzweifeln, als die Melodie in ihrem Kopf gebieterisch zu brummen und zu quietschen begann. Und schwamm da auf der braunen Butter um den Pflaumenkloß nicht ihre Sana-Fee?
„Du, Omi, gibt es eigentlich Feen?“
Ruth schaute verwundert von ihrem Teller auf. „Naja, falls es sie früher gegeben hat, weshalb dann heutzutage nicht. Warum fragst du?“
„Ach nur so. Vermehren sich Feen denn nicht auch so wie die Menschen?“
Ruth war ja glücklich, dass Lena plötzlich nicht mehr nur die Traurigkeit der letzten Zeit im Kopf hatte. Aber das war eine Frage! „Vermutlich findest du nicht einmal bei Wikipedia eine Antwort! Ich habe auch noch nie etwas von männlichen Feenerichen gehört. Und die würden ja wohl zur Fortpflanzung benötigt. Was meinst du?“
„Dann stimmt das also.“
„Was stimmt?“
„Dass die wenigen Feen überfordert sind, weil die Bevölkerung auf der Erde so wild wächst. Wir müssen selber auf uns aufpassen.“
Ruth streichelte ihrer einsichtigen Enkeltochter über den Kopf und war sehr froh, sie bei sich zu haben. Ein tröstender Ersatz für die gerade verlorene Tochter.
„Und was spricht unsere Eigenverantwortung jetzt zu uns?“
„Schuhe an und raus an die frische Luft! Aber ich bin noch schwach. Du hältst mich doch?“
„Immer! Solange, bis ich selbst mal den Tatterich kriege!“
*****
Der gefürchtete erste Schultag in der fremden zehnten Klasse! Der Stundenplan war weniger ein Problem. Ja, in Naturwissenschaften schien Lena sogar einen Vorsprung vor ihrer neuen Klasse zu haben. Aber kein bekanntes Gesicht! Alle waren sehr zurückhaltend. Lena hatte ja auch keinen Überschwang erwartet. Vermutlich hatte der Klassenlehrer den Schülern und Schülerinnen bereits erzählt, weshalb die neue Mitschülerin in diesen Ort gezogen war.
Während der großen Pause schlenderte sie allein über den Schulhof. Wie anders war es daheim gewesen, wo alle sie kannten, mit ihr schwatzten und tollten. Aber nein, sie wollte hier nicht heulen! Tapfer schluckte sie und versuchte, mit etwas Mühe ihre Melodie zu finden und leise zu summen. Ihr Blick verfing sich in der Krone einer der vielen Linden, die den Innenhof schmückten. Kam da nicht von einem der oberen Äste ganz deutlich Antwort auf ihre Singweise? Und reicher – mit Cello und Klarinette jetzt. Schwebte da nicht Sana-Fee? Ach nein, was da schwebte, war ein Blatt, das sich gelöst hatte. Lena verfolgte den federleichten Flug und beobachtete, wie es tänzelnd landete. Genau auf dem Kopf eines Jungen, der am Stamm der Linde lehnte und mit geschlossenen Augen verträumt einer Musik aus dem iPod lauschte.
Lena konnte sich ein glucksendes Lachen nicht verkneifen, so provozierend leuchtete das gelbe Lindenherz in den dunklen Locken des Burschen. Ãœberrascht schaute er sie an.
„Du musst die Neue aus der Parallelklasse sein! Hi, ich bin Marko.“ Er streckte ihr erst die Hand, dann einen seiner Ohrenstöpsel vom Kopfhörer hin.
Lena hieb es fast von den Füßen. Die Musik, die sie da zu hören bekam, war zwar keineswegs ‚ihre‘ Melodie, sie war voller und rhythmischer. Aber sie harmonierte mit den Klängen, die seit Tagen in ihrem Kopf schwirrten.
Vorsichtig zupfte sie das welke Lindenblatt aus Markos Locken, schickte einen freudigen Blick hinauf ins Geäst und flüsterte: „Danke dir!“ Nun würde sie wohl jeden Tag mit Freuden in die Schule gehen.
„Oh, bitte. Gern geschehen!“ Sie musste ja wohl ihn gemeint haben. Es war ja kein Anderer in der Nähe.
Letzte Aktualisierung: 22.05.2011 - 20.40 Uhr Dieser Text enthält 10043 Zeichen.