Tönjes konnte sein Glück kaum fassen. Vor ihm lag ein unbegrüntes Steinfeld. Und es war unbewohnt. Er schnallte sich den Rucksack ab, zog Hacke, Harke und Spaten unter dem Gürtel hervor, kreuzte die Beine und ließ sich zu Boden plumpsen. Tönjes war gerade volljährig geworden und zu Hause ausgezogen. Er war müde nach der langen Wanderung und erleichtert, dass er nun einen Platz gefunden hatte, an dem er bleiben konnte.
Allzu lange ausruhen konnte er nicht, denn noch bevor der Morgen graute, brauchte er eine Unterkunft. Steinkobolde vertrugen die Sonne nur schlecht. Tönjes schaute sich um und beschloss, seine Höhle unter dem Rhododendronbusch zu graben. Der bot Schutz und die herunterfallenden Blätter eigneten sich hervorragend zur Möbelherstellung. Er rappelte sich auf und ging ans Werk. Gerade noch rechtzeitig schaffte er es. Um seine Unterkunft vor fremden Blicken zu schützen, zog er ein Blatt vor den Eingang und kroch durch den kurzen Gang in eine behagliche Wohnkammer. Zum Essen war Tönjes zu müde und so trank er nur noch ein Schlückchen kühlen Taus, bevor er sich in seinem Rhododendronblattbett zusammenrollte und einschlief.
Am nächsten Abend erwachte der kleine Mann frisch und hungrig. Schnell wusch er sich das Gesicht, gürtete sein Werkzeug und kroch aus der Höhle.
Er fing ein paar unvorsichtige Insekten, verspeiste sie genüsslich und lief voller Tatendrang zu seiner neuen Wirkstätte.
Die Ritzen zwischen den ordentlich gereihten Quadern des Steinfelds waren sorgfältig mit Sand gefüllt. Kein Fitzelchen Grün lugte hervor. Er zupfte zwei Grashalme aus der angrenzenden Wiese und knotete sie an den Stiel eines Rhododendronblattes. Emsig begann er die Fugen zu harken. Immer wenn sich ein genügend großes Häufchen Sand aufgetürmt hatte, schaufelte Tönjes ihn in das Blatt. Er zog seine Fracht an den Rand des Feldes und kippte sie dort aus. So ging es die ganze Nacht und als der Morgen kam, fiel er erschöpft aber zufrieden ins Bett. Nach ein paar Nächten war das Steinfeld sandfrei. Tönjes öffnete sein Aussteuersäckchen, entnahm ihm einige Löwenzahn- und Nesselsamen und begann mit der Saat. In jede Ritze ein Korn. Angießen brauchte er sie nicht. Das erledigten der Morgentau und der Regen, der zuweilen fiel. Dann wartete er.
Tagsüber, wenn er schlief, strahlte die Maisonne mit ihrer treibenden Kraft und es dauerte nicht lange, bis die ersten zarten Stengel zwischen den Steinen hervorlugten.
Tönjes war begeistert. Nacht für Nacht saß er am Rande des Steinfeldes und beobachtete, wie seine Zöglinge wuchsen. Er sprang zwischen ihnen herum, sprach mit ihnen, streichelte ihre Blätter und freute sich seines Lebens. Als die ersten Goldköpfchen des Löwenzahns aufgingen, feierte er mit sich selbst ein kleines Fest. Mehr aber noch als die Löwenzähne hatte es ihm die kleine, wehrhafte Nessel angetan. Er hatte sie an den Rand des Steinfeldes gesetzt und saß oft in ihrer Nähe. Alles war in bester Ordnung.
Am Tag der Sommersonnenwende schlief Tönjes schlecht. Das war nicht ungewöhnlich, da der Höchststand der Sonne auf der Nordhalbkugel sich häufig traumbildend auf Steinkobolde auswirkte. Er träumte, er sei von feuerspeienden Drachen gefangen, die ihm fauchend ihren heißen Atem entgegenbliesen. Ihre langen Krallen kratzten über die schwarz versengten Felsenwände der Höhle. Das Geräusch fuhr Tönjes durch Mark und Bein. Schweißgebadet und mit klopfendem Herzen erwachte er, wusch sich mit einem Tropfen Tau den Nachhall des Albs aus dem Gesicht und kroch hinaus in die kühle Nachtluft.
Er spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Beunruhigt rannte er los und blieb abrupt am Rande des Steinfeldes stehen. Es war kahl. Entsetzt blickte er über die ausgekratzten, wieder mit Sand gefüllten Ritzen. Von den Löwenzähnen und der Nessel fehlte jede Spur. Tönjes blickte sich um. Ganz hinten, an der alten Gartenmauer, sah er etwas golden schimmern. Wieder rannte er los und erreichte atemlos einen modrigen Komposthaufen. Ächzend erklomm er die Spitze. Da lagen sie, seine kleinen Freunde. Halb verkohlt aus dem Erdreich gerissen. Tönjes fiel auf die Knie. Vorsichtig berührte er das schlaffe Köpfchen eines Löwenzahns und zog die leblose, kleine Nessel auf seinen Schoß. Er wiegte sie zärtlich und dicke, salzige Tränen liefen seine Wangen hinunter.
Es war schon fast Morgen, als der Strom endlich versiegte. Vereinzelte Schluchzer erschütterten ihn und die kleine Nessel, während er darüber nachdachte, was er nun tun sollte. Wohin sollte er gehen? Hierbleiben kam nicht in Frage. In der Nähe von Nesselmördern wollte er nicht sein.
Ein Lufthauch ließ ihn aufblicken. Vor ihm stand das schönste Wesen, das Tönjes je gesehen hatte. Seine stämmigen, kurzen Beine steckten in Stiefeln aus Flachs.
Das aus Heu geflochtene Kleid reichte von den Schultern bis hinab zu den Stiefelschäften und sein goldgelbes Haar stand struppig in alle Richtungen ab.
In der Hand hielt es ein Gebinde aus Disteln.
„Ich bin Löwina, die Unkrautfee.“
Tönjes schaute.
Sie beugte sich zu ihm herab und strich zart über die kleine Nessel, die immer noch in seinem Schoß lag.
„Armes Ding“.
„Machst du sie wieder lebendig?“
„Nein“.
„Meine Eltern haben immer gesagt: Wenn man einer Fee begegnet, erfüllt sie einem jeden Wunsch.“
„Sind sie denn schon mal einer Fee begegnet?“
„Nein. Aber mein Vater hat sich oft eine herbeigewünscht.“
„Wir kommen nicht, wenn man uns ruft.“
„Aha“. Tönjes nickte gedankenschwer.
„Dieses Steinfeld gehört einer Frau, die kein Unkraut mag. Aber ich kenne einen Ort, der dir gefallen könnte. Möchtest du mich dorthin begleiten?“
Tönjes nickte erneut, erhob sich etwas schwerfällig und blickte ein letztes Mal hinab zu den kleinen Unkrautleichen.
Löwina schwenkte ihr Distelgebinde. Silbriger Feenstaub stieg daraus empor, verdichtete sich und schoss davon.
Wenig später hörte Tönjes lautes Krächzen und ein schwarzer Schatten fiel über ihn und die Unkrautfee.
Eine riesige Krähe landete unweit von ihnen im Gras.
Löwina nahm Tönjes in die Arme und sprang behände auf die Schultern des Vogels. Sie flogen durch die Dämmerung und Tönjes kniff vorsichtshalber die Augen zu. Steinkobolde waren nicht gerade zum Fliegen geboren. Es kam ihm so vor, als sei eine kleine Ewigkeit vergangen, bis sie endlich landeten. Doch ein Blick zum Himmel zeigte, dass es nur ein kurzer Flug gewesen war.
Löwina sprang mit Tönjes zu Boden und setzte ihn ab.
Vorsichtig, mit zittrigen Beinen, machte er ein paar Schritte und duckte sich, als die Krähe ihre Flügel schwang und im Morgengrauen verschwand.
„Hier könnte dein neues Zuhause sein, wenn du magst“, sagte Löwina und zeichnete mit ihrem Distelgebinde einen Halbkreis in die Luft. Tönjes schaute sich um. Er war in einem großen Garten. Überall wucherte und rankte es. Ein Steinfeld gab es auch. In seinen Ritzen wuchsen prächtige Löwenzähne und an seinen Rändern streckten große und kleine Nesseln ihre Blätter trutzig in die Höhe. Hier und dort hörte er es rascheln und als er genauer hinsah, entdeckte er mehrere Steinkobolde, die eifrig ihre Beete bestellten. Löwina zeigte auf ein kleines Schild, das an dem verwitterten Gartenzaun hing. „Freiheit für Unkraut“ stand darauf.
Tönjes lief aufgeregt zwischen den Löwenzähnen und den Nesseln umher. „Hier bleib ich! Ja! Hier bleib ich!“, rief er. Löwina lächelte.
„Na dann, alles Gute!“ sagte sie, tippte sich mit dem Distelgebinde auf den Kopf und verschwand.
„Danke!“, rief Tönjes ihr hinterher.
Ein roter Schimmer am Himmel kündigte das baldige Aufgehen der Sonne an. Tönjes entdeckte einen wild wuchernden Rhododendron in der Nähe und beeilte sich, eine kleine Höhle unter dessen Wurzeln zu graben. Flugs war das Erdloch ausgehoben und er kroch hinein.
Morgen Nacht würde er seine neuen Nachbarn kennenlernen.
Er würde seine neuen Zöglinge hegen und pflegen und noch bevor der Sommer vorbei war, würde er Löwenzahn- und Nesselsamen für das nächste Jahr sammeln. Und Disteln würde er pflanzen.
Zufrieden rollte Tönjes sich in seinem neuen Rhododendronblattbett zusammen und schlief ein.
Letzte Aktualisierung: 27.05.2011 - 22.37 Uhr Dieser Text enthält 8199 Zeichen.