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Fee | Mai 2011

Recruiting in der Feenwelt
von Susanne Ruitenberg


„Und ich sage es noch mal, ich bin dagegen!“ Die Wolkenfee stemmte die Hände in die Hüften und sah mit stechendem Blick in die Runde. Ihre Gewänder hatten die Farbe von Gewitterwolken angenommen, kurz bevor der Himmel alle Mächte der Hölle losschickt.
„Aber meine liebe Tempesta, du weißt doch selbst, wir müssen etwas tun“, flehte Hyacinthe, die Blumenfee. Warum nur war ihre Kollegin so mies gelaunt?
„Schon jetzt bleiben zu viele Wünsche unerfüllt, die Arbeit von Jahren türmt sich auf. Wir sind übermüdet und langsam geworden, die Menschen hingegen so zahlreich wie nie“, klagte die Wassernymphe.
„Es hilft alles nichts, der demos... demoskopige Wandel – es kommen einfach zu wenige Feenkinder aus dem magischen Wald und ...“ Hyacinthe hob hilflos die Hände.
„Das heißt demographischer Wandel, Hyacinthe. Du faselst, wie immer“, ereiferte sich Litera, die Buchstabenfee.
„Pah, daran sind die Menschen doch selbst Schuld“, donnerte Tempesta.
„Richtig!“ Die Waldfee trat in den Kreis ihrer Schwestern und fuchtelte aufgebracht mit einem Buchenzweig herum. „Keiner hat sie gezwungen, so viele Wälder zu roden, dass die Zaubergefilde nach und nach verschwinden. Und ihr wollt, dass wir zum Dank dafür ihre missratenen Blagen in unsere Reihen aufnehmen?“
„Sie sind nicht alle unbrauchbar“, erwiderte die Sternenfee. „Wir haben lange und sorgfältig gesucht. Die zehn Kinder, die wir für den ersten Lehrgang vorgesehen haben, sind wirklich begabt. Du wirst sehen, mit etwas Zuwendung ...“
„Ihr könnt machen, was ihr wollt, ich halte mich da heraus. Aber kommt mir nicht hinterher angeschissen, um euer Leid zu klagen, wenn es schiefgegangen ist.“ Mit diesen Worten hüllte Tempesta sich in einen Windstoß und stob von dannen.
„Ach, sie sind aber doch putzig, unsere Kleinen.“ Hyacinthe deutete auf die Kinder, die wach, aber mit starrem Blick auf zwei umgestürzten Bäumen saßen, die Hände ordentlich im Schoß gefaltet. „Und die Waldorfschule, bei der wir letztendlich fündig geworden sind, war gar allerliebst geschmückt.“
„Na, wenn du so begeistert bist, dann such dir eins aus und versuch als Erste dein Glück. Wir werden das Ganze im Nornenbrunnen verfolgen. Und uns totlachen“, feixte die Waldfee.
„Hrmph! Ich zeig’s euch.“ Hyacinthe legte sich ihre Blumenstola um die Schultern und stapfte zu den Kindern. Welches sollte sie wählen? Das kleine Mädchen mit den lustigen Zöpfen in der ersten Reihe? Oder hier, der hübsche Junge mit dem putzigen Wirbel, der seine Haare über der Stirn abstehen ließ? Oder doch lieber ...
„Wird das heute noch was?“, rief die Waldfee.
Hyacinthe zuckte zusammen und berührte dabei aus Versehen mit ihrem Feenstab ein Mädchen aus der zweiten Reihe. Es hatte feuerrote Haare und aus seinen Ohren kamen zwei Schnüre, die in einem Kästchen zusammenliefen. Das Mädchen erwachte aus seiner Starre und schrie auf.
„Du musst keine Angst haben, Kleine. Ich bin Hyacinthe, die Blumenfee. Wie heißt du?“
„Mia. Was soll das? Wo sind wir? Warum sind meine Freunde alle festgefroren? Und mein iPod ist auch aus.“
Hyacinthe erläuterte Mia das Dilemma der aussterbenden Feen.
„Und ich soll jetzt so eine werden? Cooool“, rief Mia. „Richtig mit Wünschen erfüllen und so?“
„Genau. Ich bestäube dich mit Feenstaub, dann bist du nur für die Menschen sichtbar, wenn du es willst.“ Sie ließ eine Handvoll des glitzernden Pulvers über Mia rieseln und nahm ihre Hand. „Komm mit. Für den Anfang habe ich ein kleines Dorf ausgesucht zum Üben.“

„Jetzt wird es spannend“, frohlockte die Waldfee und raste los, die anderen hinter ihr her. Um den Nornenbrunnen versammelten sie sich und beugten sich hinab. Auf der Wasseroberfläche erschienen Bilder.
„Ah, sie sind bereits da“, sagte die Sternenfee. „Seht nur, sie gehen ausgerechnet zum Bürgermeister.“
„Hyacinthe neigte schon immer zu Selbstüberschätzung und Größenwahn. Dabei ist sie dumm wie zwei Quadratmeter vertrockneter Zierrasen“, unkte Litera.
„Du bist garstig“, tadelte die Sternenfee. „Gib ihr doch wenigstens eine Chance!“

Hyacinthe und Mia betraten das Büro des Bürgermeisters. „Fridolin Fade. Hihi, so sieht er auch aus“, kicherte Mia.
„Kind, für seine schütteren Haare, die dicke Brille und die wässrigen Augen kann der gute Mann nichts. Hier, ich habe einen kleinen Feenstab für dich. Er hat noch nicht die volle Kraft. Zum Üben reicht er jedoch.“
Mia nahm den Stab entgegen. „Lustig, der glitzert ja. Und jetzt?“
„Jetzt wirst du sichtbar für ihn und stellst dich vor. Was für eine Fee möchtest du später werde? Blumen, wie ich? Sterne, Wald, Wasser? Es gibt auch noch ...“
„Hip-Hop!“, rief Mia.
„Was ist das denn?“
„Ne Musikrichtung.“
„Na, meinetwegen. Die schönen Künste brauchen auch Feen und Musen. Fang an.“
Was tat das Kind? Mia steckte die Schnüre, an deren Enden kleine runde Knöpfe befestigt waren, in die Ohren und hantierte an dem Kästchen. Dann hob sie den Feenstab, wurde sichtbar - und sprang auf den Schreibtisch! Was tat das Kind nur?
Mia vollführte zuckende Bewegungen und stampfte mit den Füßen. Dazu sang sie:
„He fader Mann, alter Mann, jo!
Ich wollte nur wissen, wie geht’s denn so?
In deinem verschlafenen Nest – hol’s die Pest.
Die Langeweile gibt wohl allen den Rest - jo!
Drum muss wieder Leben erbeben, danach sollst du streben.
Drei Wünsche kriegst du nun, frei Haus und für lau, jo!
Jetzt sag schon, was willst du, ich mache dich froh, jo!
Doch wart, eines fällt mir schon ein von allein, jo!
Willst sicher weniger hässlich du sein, so!“
Sie schwenkte den Feenstab über Fade. Augenblicklich verwandelte er sich in einen ansehnlichen jungen Mann.
„Coool!“
„Halt, was tust du da?“, schrie Hyacinthe. Sie wollte nach Mia greifen, doch die sprang dem Bürgermeister auf den Schoß.
Der legte den Kopf schräg und starrte ins Leere. „Nun, etwas Geld fürs Stadtsäckel wäre nicht schlecht, dann könnten wir die Schule und das Schwimmbad renovieren, und ...“
Mia nickte rhythmisch mit dem Kopf. „Den Pool renoviern, das finde ich cool, jo.
Doch Schule, das schlage dir schnell aus dem Kopf, jo!
Kriegst Kohle, Schotter, Moneten und Gold,
finanziert euch damit alles was ihr wollt, jo.
Doch Schule, neenee, die ist nicht schön.
Die Kinder soll‘n lieber aufn Rummelplatz geh’n.“
Mia sprang auf, schüttelte den Feenstab ein zweites Mal. Der Bürgermeister begann zu tanzen. Mia hüpfte im Kreis um ihn herum, flitzte dann aus dem Büro und die Treppe hinunter.
„Halt, so warte doch.“ Hyacinthe trippelte hinterher. Warum nur hatte sie ihre eleganten Schuhe angezogen heute Morgen?
Auf der Straße bremste Mia abrupt ab. „He, ich kenn das Nest. Meine Oma hat hier gelebt. Hach, ich habe eine Idee.“
Sie raste los. Hyacinthe schrie auf. Was tat das Kind denn jetzt wieder? Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu folgen.
In einer Seitengasse hielt Mia vor einem kleinen Haus. „Hier hat sie gewohnt. Und da nebenan die ätzende Frau Mayer-Brinkmann, die mein allerliebstes Ömchen immer belästigt hat mit ihren klugen Ratschlägen. Na warte.“
Sie hämmerte an die Tür der Nachbarin. Eine ältere Frau mit strengem Dutt öffnete. „Mia! Dich habe ich ja lange - wie siehst du denn wieder aus? Und solltest du nicht um diese Zeit in der Schule sein? Was denken sich deine Eltern dabei, dich so zu verziehen? Zu meiner Zeit gab es das nicht. Da herrschte Zucht und Ordn...“
Sie konnte nicht weitersprechen, weil Mia sie mit einem Schwenk des Feenstabs in eine hässliche Kröte verwandelte.
„He, wie cool ist das denn!“
Blitzschnell drehte sie sich um und riss Hyacinthe den großen Feenstab aus der Hand. „Nicht, dass du auf die Idee kommst, meine Verbesserungen rückgängig zu machen. So, an die Arbeit.“ Sie flitzte davon.

Am Nornenbrunnen rauften sich entsetzte Feen die Haare.
„Ja, ist sie denn übergeschnappt?“, rief die Waldfee.
Sie mussten mit ansehen, wie Mia die Schule in eine Geisterbahn verwandelte und alle Zahnarztpraxen in Nagelstudios; mehrere Freunde aufsuchte und mit Spielsachen und Geld beschenkte; einen stämmigen Jungen mit kurzen Haaren und mürrischem Gesichtsausdruck in ein Schoßhündchen mit rosa Schleife verzauberte; die Weizenfelder in Erdbeerbeete umwidmete und mehrere Erwachsene zu Kröten, Fröschen, Unken und Maulwürfen machte.
„Und was tut Hyacinthe dagegen?“, rief Litera. „Nichts, natürlich.“
Die Waldfee schnaubte. „Wie auch, das ungezogene Kind hat den Feenstab.“
Tempesta rauschte mit einem Donner herbei. „Ich habe es euch gleich gesagt. Du, Litera, bringst die Kinder zurück in ihre Schule, zack zack. Ihr anderen kommt mit. Wir suchen das Dorf auf und reparieren die Schäden.“
Doch als sie dort eintrafen, fanden sie nur noch Hyacinthe, als Blumenverkäuferin auf dem Markt. Von Mia keine Spur.
Hyacinthe strahlte. „Ist sie nicht begabt? Gut, sie war etwas übermütig, ich gebe es zu. Aber sie hat die Sache so gut gemacht, ich habe sie geweiht.“
„Du hast WAS?“, donnerte Tempesta.
„Ja, ihr meinen Umhang gegeben. Sie ist jetzt die neue Musik- und Blumenfee. Das Dorf ist ihr zu klein, hat sie gesagt, sie braucht jetzt etwas Größeres, um ihre Kunst zu vervollkommnen, hat sie gesagt.“
Tempesta raufte sich die Haare. Augenblicklich überzog sich der Himmel mit Wolken und es hub an zu regnen. „Und wo sie hinwollte, weißt du das wenigstens?“
Hyacinthe zuckte die Achseln. „Sie meinte, für den Anfang wollte sie sich auf Berlin, New York, Tokio, Paris, Prag, Mailand, Barcelona, San Francisco, Washington, Moskau, Toronto, Sydney, Johannesburg, Peking, Shanghai und Chicago beschränken. Ach, schau, da ist ja Litera mit den restlichen Kindern, und wie süß sie sich alle an den Händchen halten. Entschuldige“, sie nahm Tempesta den Feenstab ab. „Meinen hat ja das Kind.“
Und bevor eine der anderen Feen reagieren konnte, schwenkte sie den Stab, so dass alle Feenstäbe den Kindern in die Hände flogen; bestäubte sie großzügig mit Feenstaub, nahm das erste bei der Hand und rief: „Kommt alle mit, ich zeige euch was ganz Tolles. Und dann könnt ihr Mia helfen.“
Sie rauschte mit ihnen in einer glitzernden Wolke davon.

Letzte Aktualisierung: 27.05.2011 - 17.07 Uhr
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