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Fee | Mai 2011

Wo Tag und Nacht einander begegnen
von Sylvia Seelert

Leanda stand am Ende der Abendröte und fürchtete sich. Der Grenzturm Tavaros erhob sich vor ihren Füßen in den Himmel. Seine Spitze verschwand unter einer grauen Wolkendecke, die schwermütig auf die Landschaft herabblickte. Selbst die Luft war von einer Schwere durchzogen, die jeden Atemzug zum Stocken brachte.
Wieder klang die Warnung des Königs in ihren Ohren: „Dieser Weg ist auch für die Unsterblichen vom Tod begleitet. Niemand vom kleinen Volk ist ihn gegangen. Hüte dich, Tochter. Und traue niemanden. Nicht einmal den Steinen unter deinen Füßen.“
Leanda zog den Umhang enger um sich. Der Tod, sie hatte ihn schon berührt. Noch immer wohnte seine Kälte in ihrem Herzen. Yvain war vor drei Monden gegangen. Für immer. Sie wollte es nicht glauben. Der Schmerz wich nicht aus ihrem Körper und so hatte sie sich entschieden, das Morgental zu verlassen und jene Grenze aufzusuchen, wo Tag und Nacht einander begegnen. Dort wollte sie die schwarze Fee um Yvain bitten.
Der König, ihr Vater, verstand den tiefen Schmerz von Leanda nicht. Ihr aller Leben sei nur ein Zwischenhalt im Wandel allen Seins. Jede Fee gehe daher mit großer Neugierde in das Land jenseits der Abendröte. War die Zeit gekommen, so erschien die Mondgöttin im Traum und zeigte den Auserwählten die Brücken der Verheißung. Sie zu überschreiten, bedeutete ein anders Leben anzunehmen.
Leanda fühlte nur Schwärze in sich, die mit jedem Tag wuchs und ihr Herz zu Eis gefrieren ließ. Die Liebe ihres Lebens war fort. Und sie wollte bei ihm sein. So sehr Leanda es sich auch wünschte: Die Mondgöttin war nicht zur ihr gekommen. Keine Brücke, die sie zu Yvain führte. Bis der Rabe in der alten Weide ihr von einem anderen Pfad erzählte. Einer, den die Feen nie laut aussprachen, nur im Verborgenen darüber flüsterten und sich dabei schreckhaft umschauten. Fürchteten sie, mit ihren Worten die schwarze Fee zu wecken und in ihr Tal zu locken.
Leanda war gegangen, der Furcht trotzend, die sie nun im Angesicht des dunklen Turms zu überrollen drohte. Die Wände des Turms strahlten eine Kälte aus, die ihre Zähne klappern ließen. Je näher sie kam, desto mehr gefror ihr Atem zu weißen Wolken. Der Boden vibrierte unter ihren Füßen, zornig, als ob jeder ihrer Schritte ihn wütend machte. Der Widerstand der Luft wuchs, je näher sie der Pforte kam, die ganz aus Eisen bestand und mit teuflischen Fratzen übersät war. Jene schrien und fauchten sie an, rollten mit den Augen und spien Dampf aus ihren Nüstern.
Dieser Turm wollte nicht betreten werden.
Ihre Hand krampfte sich um den Lichtstein, der ein wenig Wärme spendete. Ein Abschiedsgeschenk ihres Vaters. Leanda kämpfte sich verbissen Schritt um Schritt vorwärts, bis sie vor den geifernden Fratzen stand. Als sie nach dem Türklopfer griff, schnappten die Schreckgestalten nach ihren Fingern, zerrten mit spitzen Zähnen an ihrer Haut. Eisig und schwer lag der Griff in ihrer Hand. Sie hob ihn hoch und ließ ihn gegen die Tür fallen.
Kein Ton erklang, nur tiefe Stille umklammerte Leanda. Die Fratzen öffneten ihre Mäuler, doch kein Wort drang zu ihr. Der Wind huschte durch das fahle Gras. Doch Leanda hörte kein Säuseln, nichts, was auf ein Geräusch hinwies. Sie schrie, fasste sich an ihre Ohren. Selbst ihre eigene Stimme vernahm sie nicht mehr.
Die Pforte öffnete sich und die Fratzen ruhten im Eisen, als wären sie nie lebendig gewesen. Dahinter lag Dunkelheit, die dicht wie ein Vorhang im Eingang hing.
Leanda hob den Lichtstein hoch und betrat unter dessen Schein den Turm. Die Tür fiel hinter ihr zu. Allmählich wich die Taubheit aus ihren Ohren und sie hörte ein leises Klagen in der Ferne. Es roch nach Zerfall, faulig und muffig wie in einem Totenmoor. Nur drei Schritte weit konnte sie sehen und so tastete sie sich behutsam vorwärts, bis sie auf die Stufen einer Wendeltreppe stieß. Mit jedem Schritt nach oben steigerte sich das Klagen, wurde wilder und zerrte an Leandas Nerven.
Ihr Mut sank, jemals die Turmspitze zu erreichen. Schließlich fiel sie kraftlos auf den kalten Stein und weinte. Dieser Weg war zu schwer. Sie wollte Licht sehen, den Geruch von Morgentau in ihrem Tal riechen und das Lachen der anderen Feen hören. Wie hatte sie nur dem Raben glauben können. Sie drehte sich um, bereit zurückzukehren. Doch die Stufen hinter ihr waren fort.
„Yvaaaaain“, schrie sie in ihrer Verzweiflung.
Das Klagen verstummte. Nur der Wind pfiff durch die Steinritzen.
„Komm zu mir, Leanda!“
Eine silberhelle Stimme rief nach ihr.
Leanda blickte hoch. Ein grauer Schimmer schlich sich in die Finsternis. Zurück konnte sie nicht mehr. Also stand sie auf und ging in Richtung der Dämmerung weiter. Die Stufen wurden höher und beschwerlicher, je weiter sie kam. Gleichzeitig nahm die Helligkeit zu. Der letzte Absatz türmte sich hoch vor ihr auf und so zog sie sich Stück um Stück empor, bis sie schnaufend auf kühlem Marmor lag.
Durch neun Rundbogenfenster fiel Licht in die Turmkammer. Neun Kolkraben saßen in den Fenstern und starrten sie mit ihren dunkelbraunen Augen an. Die Schnäbel zerhackten die Luft, als ob sie Beute schlagen wollten. Mit lautem „Kraaaa“ flogen sie auf, trafen in der Mitte des Raumes aufeinander. Ihr Flügelschlag verschmolz zu einer Schattenwolke, aus der sich nach und nach eine Gestalt formte: Eine Fee mit langen Haaren, die wie schwarzer Opal glänzten. Ihr Gesicht war so edel wie eine Lilie. Das Gewand, mit Rabenfedern umsäumt, schimmerte wie der Nachthimmel und umfloss ihre schlanke Gestalt. In der rechten Hand hielt sie eine Fackel und in der anderen eine Trommel.
„Morrigan“, flüsterte Leanda ehrfurchtsvoll, „die Neungestaltige.“
Die dunkle Fee lächelte, doch lag darin nicht Freundlichkeit, sondern war von abschätzender Art.
„Ich kenne die Sehnsucht, die dich zu mir führte“, sprach Morrigan mit melodischer Stimme. „Die Brücken sind für die Lebenden versperrt.“
„Doch für die Toten nicht“, erwiderte Leanda. „Ich bitte dich, bring mir meinen geliebten Yvain zurück.“
Das Lächeln von Morrigan wurde tiefer und kälter.
„Du musst ihn selbst holen!“
„Und wie?“, fragte Leanda.
„Ich kann dich zur Insel der Wandlung führen. Dort enden die Brücken.“
„Dann zeige mir den Weg“, forderte Leanda.
„Doch wisse, findest du vor dem Ende der Dämmerung nicht zurück, bist du für immer dort verloren. Nimm Fackel und Trommel, sie werden dir Hinweis sein.“
Morrigan drückte beide Gegenstände in Leandas Hände. Dann sang und tanzte sie. Die Luft knisterte, wurde dichter. Schwarze Federn wirbelten auf und bildeten ein Tor.
„Nun geh. Geh zu deinem Yvain!“
Leanda sprang durch das Tor und fand sich bald darauf an einem Strand wieder. Die Insel lag eingebettet in grauem Zwielicht. Ein Boot dümpelte auf dem ruhigen Wasser. Leises Lachen wehte zu ihr herüber. Es schien aus der Hütte unter den Palmen zu kommen. Und es klang wie Yvains Stimme. Sie eilte dorthin, stürmte in die Hütte und fand nur Leere vor. Das Lachen, nun kam es von draußen. Wieder jagte Leanda hinterher und fand ihn nicht.
„Yvain, Geliebter“, rief sie.
Es kam keine Antwort. Das Lachen entfernte sich stattdessen von ihr. Sie verfolgte es in den Wald hinein, hastete über wurzelbewachsene Wege und dichte Sträucher. Das Lachen ließ sich nicht fangen. Wütend schlug sie mit der Fackel nach den Zweigen, die gegen ihr Gesicht peitschten. Schon bald brannte der Wald lichterloh und sie floh zum Strand zurück. Weit schleuderte sie die Fackel in das Meer, wo sie verlosch.
Das Feuer fraß sich in Windeseile durch das Gehölz und hinterließ ein geschwärztes Skelett. Aus dem rauchenden Gerippe schälte sich nach und nach eine Gestalt hervor. Die Silhouette, sie war ihr so vertraut.
„Yvain“, schrie sie und rannte auf den Geliebten zu. Sie umschloss ihn mit ihren Armen. Seine Haut war kalt wie Eis und sie wich zurück. Die leichte und fröhliche Art einer Fee war nicht mehr in ihm. Seine Augen blickten starr und trüb durch sie hindurch.
„Leanda“, flüsterte er, „hilf mir!“
Er hob seine Hände flehend in ihre Richtung, doch scheute er sich, Leanda zu berühren.
„Was soll ich tun?“
„Trag mich zum Boot. Immer sehe ich dein Spiegelbild im Wasser und kann es nicht zertreten“, antwortete er.
„Kehr zur Brücke zurück“, beschwor sie ihn. „Ich brauche dich auf der anderen Seite!“
Yvain lächelte traurig.
„Die Toten kehren nicht zurück.“
Er blickte über das Wasser.
„Dort im Westen will ich mit der Sonne versinken. Ich werde schlafen und in einem neuen Traum erwachen. Die Mondgöttin versprach es mir. Und du, Geliebte, wirst mir eines Tages folgen.“
Leben war in sein starres Gesicht gekommen und er blickte sie hoffnungsvoll an.
„Die Mondgöttin zeigte mir einen Teil des neuen Traums. Leanda, es war unbeschreiblich. Schöner, als unser Morgental, tiefer als die Liebe zwischen uns.“
Er hob seine Hand und strich sanft über ihr Haar.
„Trag mich zum Boot, ich bitte dich!“
Als Leanda eine Sehnsucht in seinen Augen glimmen sah, die nicht mehr ihr galt, nickte sie schließlich. Sie hob ihn auf ihre Schultern und durchpflügte mühelos das Wasser bis zum Boot. Als sie zögerte, ihn über die Bordwand zu heben, drückte er ihre Hand.
„Lass mich los!“
Sie dachte an die unzähligen Tage, die sie miteinander gesungen und getanzt hatten und wie glücklich sie in seiner Nähe war.
„Bitte“, flehte Yvain.
Am Horizont flammte ein erster Sonnenstrahl auf und malte Streifen von Orange in den Himmel. Seufzend ließ sie ihn los und er glitt in das Schiff. Ein letztes Mal küssten sie sich. Kaum wich sie vom Boot zurück, da trieb dieses von alleine auf die offene See zu.
Eilig watete sie zum Ufer zurück und griff zu der Trommel, die sie dort zurückgelassen hatte. Langsam schlug sie einen Takt, der ruhig und gleichmäßig wie ein Pulsschlag war. Leanda sang das Lied der Morgenröte und dachte an ihr Tal. Wie lieblich war der Duft der aufgehenden Knospen beim ersten Licht. Die Blütenkelche erhoben ihre Köpfe und begrüßten den neuen Tag. Leanda lächelte, als ein Sonnenstrahl sie traf und Morrigan enttäuscht in der Ferne aufschrie.

Letzte Aktualisierung: 02.05.2011 - 21.56 Uhr
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