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Fee | Mai 2011

Die Zweifee
von Karl-Otto Kaminski

Das fröhlich feuchte Klassentreffen endete weit nach Mitternacht. Laut rief ein Bett nach mir. Natürlich hätte ich für den Weg zum Hotel die gut beleuchteten Straßen benutzen können. Aber das dauerte mir zu lange. Ich kannte die Stadt aus meiner Schulzeit noch recht gut. Also beschloss ich, die zeitsparende Abkürzung durch den Stadtpark zu nehmen.
Ich bog ab auf den Kiesweg, der in eleganten Bögen durch dichte Baumgruppen, malerisches Buschwerk, vorbei an einem romantischen Teich und sanft geböschten Rasenflächen führt. Dieser Anblick bietet sich dem Spaziergänger natürlich nur tagsüber. Jetzt aber war leider nachtsüber. Kein Mond leuchtete mir heim, und das dürftige Licht der Sterne reichte nicht aus, um den Weg zu erhellen. Schon nach etwa fünfzig Metern wusste ich, dass ich eine Fehlentscheidung getroffen hatte.
Wenn ich etwas getrunken habe, sagt meine Frau, bin ich gelegentlich etwas stur. Vielleicht ist da ja was dran. Jedenfalls war ich in dieser Nacht nicht bereit, die Abkürzung wieder zu verlassen und den längeren Umweg durch die halbe Innenstadt in Kauf zu nehmen. Also tappte ich beharrlich weiter durch die Finsternis. Kies knirschte unter meinen Sohlen.
Solange der knirscht, sagte ich mir, befindest du dich auf einem geebneten Weg. Und so schwer kann es ja wohl nicht sein, auch im Dunklen die Richtung beizubehalten.
Mein Hirn versuchte, die durch leichten Schwindel verursachte Unsicherheit beim Gehen mit hilfreichen Nervenimpulsen zu korrigieren. Meine Beine wussten nicht immer gleich, was sie mit den hektischen Befehlen anfangen sollten. Das heißt, ich stolperte gelegentlich.
Nach dem sonnigen Tag war es jetzt recht kühl geworden. Glühwürmchen geisterten durch die Schwärze. Zwei Käuzchen tauschten Meldungen aus, vermutlich das Vorkommen saftiger Mäuse betreffend. Das klang zwar etwas gruselig, interessierte mich aber nicht weiter.
Zwei Schritte später hörte das Knirschen unter meinen Füßen plötzlich auf. Etwas griff nach meinem Kopf. Ich erschrak und fasste instinktiv nach oben. Doch da war nur das untere belaubte Ende eines Astes, das mir meine wenigen Haare durcheinander brachte.
Also, dachte ich, bist du vom Weg abgekommen. Kein Kies unten, dafür Äste oben. Vorsichtig tat ich ein paar Schritte rückwärts. Richtig! Da war wieder das beruhigende Geräusch der befestigten Promenade.
Irgendwo, links von mir, knisterte es verdächtig im Gebüsch. Meine Vernunft beruhigte die aufgeschreckten Nerven: Kein Räuber oder Wegelagerer wird jetzt hier in taufeuchten Büschen auf mich warten. Und wilde Tiere gibt’s in dieser Stadt nicht.
Als mich von rechts ein Frosch ansprach, ahnte ich, dass ich mich in der Nähe des großen Teiches befand. Ich verstand seinen Dialekt nicht, und verzichtete auf eine Unterhaltung. Außerdem war ich rechtschaffen müde.
Immer wieder kam ich vom Weg ab. Sobald das beruhigende Knirschen der Steinchen unter meinen Sohlen aufhörte, musste ich meine Richtung korrigieren. Zwei Schritte nach rechts – leider nichts. Drei Schritte nach links – Aha! Der Fußweg.
Schon wieder blieb das Kiesgeräusch aus. Ich bemerkte es leider zu spät. Da schlug etwas Hartes heftig unter mein linkes Knie. Ich schrie auf und rieb mir die schmerzende Stelle. Dabei berührte meine Hand etwas Hölzernes. Eine Bohle? Ein Brett? Eine Bank! Wie schön!
Ermattet und noch einmal das angestoßene Schienbein reibend tastete ich mich vorwärts und ließ mich auf die feuchten Planken fallen. Hoffentlich sind die nicht frisch gestrichen, dachte ich. Aber ich musste einfach ein wenig ausruhen. Feuchte Kühle schlich sich in meine Hosen. Das versuchte ich zu ignorieren, atmete tief durch.
Gerade als ich wieder aufstehen wollte, um meinen Heimweg zu vollenden, landete sie im Gras vor mir. Ich schätzte sie auf gut sechzig Zentimeter. Womit ich die Höhe meine. Die Spannweite ihrer Flügel maß sicher das Doppelte. Sie war recht hübsch, kam einfach aus dem Dunkel angeflogen und brachte ein seltsames Licht mit sich, das sie wie eine zweite Haut umgab und sogar einiges von ihrer Umgebung beleuchtete.
„Wer bist denn du?“, fragte ich das übergroße Glühwürmchen verdutzt.
„Sie sollten mich höflicherweise siezen“, gab das Wesen zurück, während es sorgfältig seine durchscheinenden Flügel zusammenfaltete. „Schließlich bin ich mindestens zehnmal so alt wie Sie. Und ich bin eine Zweifee.“
„Das sagt mir nichts“, sagte ich. „Sie sehen übrigens viel jünger aus. Muss ich Sie kennen?“
„Vielleicht nicht mich“, antwortete die Erscheinung ein wenig geschmeichelt, „aber Feen sind Ihnen schon bekannt, oder?“
„An Feen, Elfen und solchen Geisterkram glaube ich nicht“, kommentierte ich mein Kopfschütteln, das sie womöglich im Dunkel nicht gesehen hatte. Sie stemmte ihre kleinen Ärmchen in die Seiten, raschelte empört mit den Flügeln und machte ein richtig böses Gesicht.
„Da bin ich ja tatsächlich an den Richtigen geraten“, stieß sie wütend hervor. „Ich bin nämlich eine Fee, die Zweiflern an der Existenz von Geisterwesen ihren Zweifel austreiben soll, eine Zweifelaustreiberfee, oder kurz: Zweifee.“
Ich lächelte höhnisch, obwohl das bei der Finsternis sicher nicht richtig rüber kam.
„Quatsch!“, murmelte ich und begann mühsam zu überlegen, wie das Phantom wohl zustande gekommen sein konnte.
„Das ist typisch“, bemerkte die Zweifee spitz. „Alles, was der Mensch nicht kennt, das gibt es für ihn nicht. Das hält er einfach für Quatsch. Aber ich will Ihnen beweisen, dass es uns so genannte Fabelwesen wirklich gibt.“
„Tun Sie, was Sie nicht lassen können“, brummte ich unzufrieden. Ich war hundemüde. Mir war gar nicht nach längerer Konversation zumute.
„Nun, dass ich eine Fee bin und jetzt leibhaftig vor Ihnen stehe, werden Sie ja wohl nicht leugnen wollen, oder?“, fragte sie gereizt.
„Feen gibt’s doch nur im Märchen“, antwortete ich. „Ist doch Kinderkram.“
Der Blick, den mir die Zweifee darauf zuwarf, kribbelte unangenehm auf meiner Haut. Doch sie sagte nichts zu meiner Frechheit, schnippte nur einmal mit den Fingerchen. Es raschelte im Gras hinter ihr. Ins Licht, das sie nun verstärkt um sich verbreitete, marschierten sieben zipfelmützige Winzlinge, etwa halb so groß wie die Zweifee. Sie ließen mich grinsen.
„Das sind ja Gartenzwerge“, sagte ich abfällig. Die Kerlchen sahen tatsächlich so aus.
„An die glaube ich. Habe selbst ein paar davon im Garten.“ Auf ein verärgertes Schnipsen hin verschwanden die niedlichen Gesellen wie sie gekommen waren.
Noch einmal klickten die zarten Finger. Nun sprang eine hässliche Karikatur in den Sichtkreis. Sie war etwa so groß wie die Zweifee, hatte einen hageren Körper, kaum Beine, einen übergroßen Kopf und Arme, die über den Boden schleiften. Das Gesicht sah aus, als hätte Dr. Frankenstein es gerade erst zusammen geflickt. Mich schauderte bei dem Anblick.
„Na? Haben Sie auch Gnome im Garten?“, wurde ich gefragt.
„Nein“, antwortete ich. „So etwas Hässliches würde auch nicht zwischen meine Blumen passen.“
Der Gnom wollte sofort mit einer wütenden Gebärde auf mich los, aber ein erneutes Fingerschnipsen ließ ihn im Dunklen verschwinden. Dafür erschreckte mich jetzt der Anblick einer übermannsgroßen Zottelgestalt, die sich drohend näherte. Blutunterlaufene Augen starrten stechend aus einem unordentlichen Fell. Ein höhnisch grinsendes Maul fletschte lange gelbe Zähne. Ich rückte fluchtbereit ein Stückchen zur Seite auf der Bank.
„Das ist ein Troll“, erklärte die Zweifee. „Nur einer von vielen. Schauen Sie sich ihn gut an, und vermeiden Sie es nach Möglichkeit, einem seiner Art zu begegnen, wenn nicht gerade eine Elfe in der Nähe ist, um Ihnen zu helfen.“
Ich war heilfroh, als ihr Fingerschnipsen den unheimlichen Gesellen in die Nacht zurück schickte und hoffte, dass sie es damit bewenden lassen möge.
„So was gibt’s aber doch alles nicht wirklich“, murmelte ich aufatmend und löste meine Arme, die ich ängstlich vor der Brust verkrampft hatte.
„Also hat das immer noch nicht gereicht, um Sie zu überzeugen“, stellte die Zweifee ärgerlich fest. „Dann muss ich wohl noch eine meiner entfernteren Verwandten bemühen. Beschweren Sie sich nicht. Sie haben es ja nicht anders gewollt.“
Wieder durchschnitt das Fingergeräusch die nächtliche Stille. Es rauschte bedrohlich über mir, und auf dem Rasen landete ein furchterregendes Wesen. Es war das hässliche Gegenteil der zarten Feengestalt, grobschlächtig und mehr als doppelt so groß. Der geflügelte nackte Frauenkörper hatte Füße wie die eines Geiers, trug einen Vogelkopf mit gelbflammenden Augen und einem gefährlich spitzen, vorne gekrümmten Schnabel, von dem rote Tropfen rannen, als käme das Wesen gerade von einer blutigen Mahlzeit. Ich schrak zusammen. Eine Harpyie!
Langsam näherte sie sich mir. Ich fing an vor Furcht zu zittern. Wie gern wäre ich jetzt geflohen, aber meine Beine waren wie gelähmt. Noch bevor ich die Zweifee bitten konnte, das garstige Vogelweib wegzuschnipsen, war das Biest schon ganz nah und stieß mit seinem gierigen, blutigen Schnabel nach mir. Ich schrie in Todesangst laut auf.
Es wurde schlagartig hell. Die Nachtgeister waren verschwunden. Vor mir stand im frühesten Morgenlicht eine kleine weißhaarige Frau, die mir gerade die Spitze ihres zusammengerollten Regenschirms in den Bauch piekte. Völlig verwirrt und immer noch zitternd sprang ich auf.
„Tut mir leid, wenn ich sie erschreckt haben sollte“, stotterte ich. „Muss wohl einen Moment eingeschlafen sein.“
„Na, wenigstens leben Sie noch.“ Die zynische Stimme der Alten klang nach mindestens vierzig Gauloises täglich. Sie deutete auf die Parkbank und empfahl: „Aber das sollten Sie nicht zur Gewohnheit werden lassen.“
Ich spürte ihr ironisches Lächeln in meinem Rücken, während ich ziemlich verstört durch den taukühlen Morgen meinem warmen Hotel zueilte.

Letzte Aktualisierung: 25.05.2011 - 19.52 Uhr
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