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Fee | Mai 2011

Ozeana
von Regina Lange

George saß in seinem Kajak und ließ es im leichten Wellengang im Ozean treiben. Seit Stunden erfreute er sich an seiner Leidenschaft, dem Angeln. Das Glück war ihm hold, denn er hatte ein paar Speisefische gefangen. Er befestigte einen Köderfisch an dem Haken und warf die Angel aus. Mit einem »Platsch« tauchte der Angelhaken mitsamt dem Köder ab. George legte den Bügel um und drehte mehrere Male an der Kurbel. Dann wartete er geduldig auf seinen »großen Fang«. Er träumte davon, einen Kingfish oder einen Tarpon zu fangen, auch wenn sie anschließend sowieso wieder freigelassen würden. Er öffnete eine Dose Bier und prostete den Petrijüngern im Eimer zu: «Petri Heil.«
»Petri Dank!« Urplötzlich ertönte eine piepsige Stimme.
George prustete etwas Gerstensaft ins Boot. »Was zum Henker war das?«, fragte er sich. Er schaute auf die Büchse und warf sie achtlos über Bord.
»Vielleicht sollte ich das Trinken während der Mittagssonne sein lassen«, murmelte er.
Einen Moment später sprudelte es im Meer. Der Behälter schwebte in Begleitung einer Wasserfontäne in Richtung Kajak zurück, flog knapp an seinem Kopf vorbei und plumpste in den Kahn.
Mit offenem Mund starrte er auf die Bierdose. »Das gibt es doch nicht! Was ist ...«
Ein kleines Geschöpf, nicht größer als eine Libelle, schwirrte vor seinem Gesicht umher und setzte sich schließlich auf den Rand des Eimers.
»Das ist Umweltverschmutzung!«
Sein Blick wanderte abwechselnd von der Dose zur Pütz. George näherte sich dem Eimer und traute seinen Augen nicht. Da saß etwas Klitzekleines und sah fast wie ein Mensch aus. Das Wesen kam einem Engel nach, mit lockigem Haar. Auf dem Rücken vibrierten durchsichtige Flügel, die das Sonnenlicht durchscheinen ließen. Es trug ein grünes Kleidchen, das einem Baumblatt ähnelte.
Der Winzling erblickte die Fische und schüttelte sein kleines Haupt.
»Die kannst du gar nicht alle essen! Außerdem ist es nicht erlaubt, so viele zu fangen! «
George schnappte nach Luft.
»Hat es dir die Sprache verschlagen?«
Die Flügel setzten sich in Bewegung. Das klitzekleine Wesen flatterte wie ein Kolibri vor Georges Nase herum und stupste mit einem winzigen Stab das Riechorgan an. Funken sprühten aus der Spitze des Zauberstabes hervor. George erwachte aus seiner Lethargie.
»Wer bist du?«, fragte er.
»Ist es nicht offensichtlich?«
»Du siehst aus wie eine ...«
»... Fee?«
»Ja, aber ...«
Die Fee flog an seinem Antlitz vorbei und setzte sich auf die Angelrute. Die kleinen Beine baumelten in der Luft. Sie schwang ihren magischen Stab und in derselben Sekunde spulte sich die Angelschnur auf. Im letzten Augenblick löste sich der Köderfisch vom Haken und tauchte mit einem verschmitzten Lächeln in die Fluten des Ozeans. George sah dem Fisch verdattert hinterher. Hatte der sich über ihn lustig gemacht?
»Hast du meinen Köderfisch befreit?«
Die Fee strich sich mit ihren winzigen Händen durchs lockige Haar:«Das war eine Kleinigkeit für mich!«
»Wie machst du das? Es gibt keine Feen!«
»Oh, doch», sagte die kleine Fee. »Ich bin der lebendige Beweis.«
Sie erhob sich schwebend von der Angelrute und löste sich überraschend im Nichts auf. George war froh. Die Fee blieb verschwunden.
»Das war nur eine Fata Morgana. Zum Glück. Das habe ich mir alles nur eingebildet. Kein Bier mehr!« George nickte zufrieden. Im selben Moment bemerkte er, wie sich etwas auf sein Knie setzte.
»Du bist wahrhaftig real?«
»Natürlich. Ich kann mich unsichtbar machen. Das ist für einige Unternehmungen sehr nützlich«, kicherte sie.
»Hast du auch einen Namen?«
»Ich bin Ozeana, eine Wasserfee. Ich vertrete die Interessengemeinschaft der Meeresbewohner!«
»Die was ...?«
»Ich beschütze die Lebewesen vor der Habgier der Menschen!«
»Du meinst, du behütest alle Tiere, die sich in diesem Ozean aufhalten? Das kannst du doch gar nicht alleine schaffen!«
»Oh, das ist wirklich ein vielseitiges und umfangreiches Aufgabengebiet, aber ich habe große Unterstützung. Sieh, mal, wenn sämtliche Erdbewohner so viele Fische wie du angeln würden, dann gäbe es bald keine mehr. Das versuche ich, zu verhindern!«
»Große Unterstützung durch wen?«
»Haie und Rochen sind die ständigen Begleiter, für den Fall, dass ein Fischfang zum Scheitern gebracht werden soll.«
Georges blickte zu seinem Fuß. Vor ein paar Tagen wurde er von einem Rochen gestochen, als er im Wasser stand und angelte. Diese schmerzliche Begegnung hatte er verdrängt.
Ozeana flog zum Boden des Kajaks, um die Wunde in Augenschein zu nehmen. »Schmerzt es noch? Es ging halt nicht anders. Ein Kingfish war in der Nähe. Da musste ich doch was tun!«
»Ein Kingfish? Du meinst, ich hätte fast einen an der Angel gehabt, bevor mich dieses Vieh verletzt hat?« George war wütend. Er wartete schon seit Tagen darauf, einen großen Fisch an Land zu bringen.
Ozeana erhob sich mit schnellen Flügelschlägen und landete auf den Bug. Sie wich geschickt einer Welle aus, die ins Boot schwappte.
»Uns vom Feenrat ist es ohnehin lange ein Dorn im Auge, dass die Menschen die Meerestiere zum Spaß fangen.«
»Aber die Fische werden doch wieder freigelassen!«, wandte George ein.
»Das ist es ja. Tierquälerei nur zum sportlichen Ehrgeiz. Bedenke mal den Stress, den die Tiere durchmachen, von den Schmerzen ganz zu schweigen! Wie würdest du es finden, wenn du im Restaurant in ein Steak beißt und sich plötzlich ein Widerhaken in deine Wange bohrt?« George kratzte sich grübelnd am Hinterkopf.
Ozeana begutachtete mit ernster Miene den Fang im Eimer und fuhr aufgebracht fort:. »Wir versuchen diesen »Specimen Huntern« das Handwerk zu legen.«
Irgendwie konnte George das alles nicht so recht glauben. Unterdessen schwang die Fee den Zauberstab. Der Kübel erhob sich und segelte, wie von Geisterhand geführt, in der Luft auf den Rand des Kajaks zu.
»Was hast du vor?«, schrie er.
»Der Feenrat hat mich beauftragt, die Tiere freizulassen.« Ozeana grinste.
»Nein!»
Er schoss von seinem Sitz hoch und das Boot wackelte bedenklich. Der Eimer schwebte bereits überhalb des Meeres. George stolperte, während er versuchte, die Pütz zu greifen. In diesem Augenblick erhob sich eine gewaltige Welle, die ihn mit voller Wucht über Bord schleuderte. Er tauchte gleichzeitig mit dem Eimer in die See ein und musste mit ansehen, wie die Petrijünger davonschwammen ...

»George, hilf mir!« Seine Frau Pat stand im Wasser und hielt keuchend eine Angel in der Hand. »Das muss ein Großer sein!«
Benommen sprang George vom Liegestuhl auf.
Was für ein schlimmer Albtraum, dachte er. George rannte auf Pat zu, wollte ihr behilflich sein, die ihm jedoch zurief:«Er ist weg. Die Angelschnur ist durchgebissen ...«

Enttäuscht drehte er an der Kurbel, um die Schnur einzuholen, als überraschend eine winzige Gestalt vor seinem Gesicht herumflatterte und ihm zuzwinkerte ...

© Regina Lange
2011

Letzte Aktualisierung: 27.05.2011 - 20.11 Uhr
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