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Fee | Mai 2011

Lili Wirbelwind
von Gisela Reuter

Wie aus dem Nichts kam sie dahergeschwebt und landete auf meinem Küchentisch.
Sie war zierlich und hatte ungefähr die Größe meines Kajalstiftes. Sie machte einen Knicks und zupfte zunächst sorgfältig ihr Kleidchen zurecht, um anschließend auf dem Henkel meiner Kaffeetasse Platz zu nehmen. Dann deutete sie mit einem winzigen Stab auf mich und ich wartete förmlich darauf, dass es „Pling“ machen und sie mich in ein Kaninchen verzaubern würde. Oder dass sie mir drei Wünsche in Aussicht stellte. Doch nichts dergleichen geschah und so verbrachte ich die folgenden Sekunden damit, herauszufinden, ob ich noch schlief oder tatsächlich am Frühstückstisch saß.
Ich hoffte inbrünstig, noch zu schlafen.

„Ich heiße Lili Wirbelwind“, begann das Wesen zu sprechen, woraufhin ich mich augenblicklich an meinem Brötchen verschluckte. Toller Traum.
Geduldig wartete Lili ab, bis ich wieder zu Atem kam und sah mich dabei erwartungsvoll an.
„Wohl noch nie eine Fee gesehen, was?“, vernahm ich ihr keckes piepsiges Stimmchen.
„Stimmt“, antwortete ich, noch immer relativ verdattert und räusperte umständlich die letzten Krümel aus dem Hals. Gerne hätte ich einen Schluck Kaffee genommen, aber ich wagte nicht, das kleine Etwas von meiner Tasse zu verscheuchen.
„Also“, hob das Wesen erneut an, „bevor wir lange drum herum reden, will ich dir mein Erscheinen erklären.“ Lili Wirbelwind rückte sich in Position und setzte einen wichtigen Gesichtsausdruck auf. „Jede Fee darf sich hin und wieder einen Menschen aussuchen, um ihn auf dessen Lebensweg zu begleiten und ihn in die richtigen Bahnen zu lenken.“
Sie machte eine kleine Pause.
Und ich kniff mir derweil in den Arm.
Lili plapperte weiter. „Ich habe mich für dich entschieden. Ich will dir helfen.“ Bei diesen Worten kräuselte sie die Stirn und klimperte erwartungsvoll mit den Augenlidern.
„Danke, das ist sehr freundlich“, hüstelte ich vorsichtig, „aber ich benötige keine Hilfe.“
„Das sagen sie alle.“ Lili neigte den Kopf und wippte lässig mit ihren Beinchen. „Aber ein bisschen Lebenshilfe hat noch niemandem geschadet.“
Aha. Na dann.
„Ok“, gab ich mich geschlagen. „Was schlägst du vor?“
Lili schien bereits einen Plan zu haben.
„Wir könnten zum Beispiel deine Handtasche aufräumen.“

Ob eine solche Aktion tatsächlich in die Abteilung Lebenshilfe gehörte, war für mein Empfinden fraglich. In der festen Annahme jedoch, mich in einer absoluten Tiefschlafphase zu befinden, ließ ich mich auf diesen Deal ein.
Unnötigen Ballast abwerfen und sich auf das Wesentliche beschränken, nannte Lili die Aufräumaktion. Immerhin hatte es den Vorteil, dass sowohl drei verloren geglaubte Lippenstifte als auch ein Handyladekabel und meine schon längere Zeit vermisste Digicam zum Vorschein kamen.
Praktisch fand ich überdies die Tatsache, dass meine Handtasche deutlich an Gewicht verlor, nachdem Lili einen Müsliriegel, ein Buch und tausend diverse unnütze Kleinteile für entsorgungswürdig hielt.

„Wenn du damit deine Aufgabe bei mir erfüllt hast, könntest du vielleicht kurz bei meiner Freundin Astrid vorbeischauen?“, fragte ich zaghaft. „Ihre Tasche hat ungefähr die dreifache Größe“.
Lili schüttelte jedoch energisch den Kopf und fuchtelte mit ihrem Zauberstäbchen vor meiner Nase herum. Irgendwie war mir, als würde sie damit glitzernde silbrige Sternchen verstreuen.
„Wir sind noch nicht fertig.“
„Ich muss aber ins Büro“, wehrte ich mich.
„Du lügst!“, wurde ich auf der Stelle von Fräulein Besserwisser zurechtgewiesen. „Heute ist Sonntag.“
„Ach ja, stimmt“, gab ich kleinlaut zu. „In Ordnung, aber höchstens noch eine Sache und dann beamst du dich bitte zu Astrid, bevor sie sich eine Schulterzerrung einfängt.“

Lili nickte. „Gut, kommen wir zu Lektion zwei: Neid und Missgunst.“
Erleichtert atmete ich auf und rief fröhlich, dass mir diese Eigenschaften fremd seien.
„Aha? Und was war neulich mit dem schwarzen Kleid?“
„Welches schwarze Kleid?“, fragte ich scheinheilig.
„Größe 38. Die Frau deines Kollegen hat es dir vor der Nase weggeschnappt, weil du es nicht geschafft hast, dich rechtzeitig hineinzuhungern.“
„Jetzt mach aber mal einen Punkt!“, rief ich empört aus, „das ist ja wohl normal, dass man da ein bisschen enttäuscht ist.“
„Normal? Bisschen enttäuscht? Nein. Das war Neid. Und zwar volle Kanone. Und dein anschließender Ausspruch Astrid gegenüber, dass du der armen Frau Tränensäcke und Hängebusen wünschst und so viele Krampfadern, dass sich die Blutegel die Zähne daran ausbeißen, rührte nicht gerade von einer dezenten Enttäuschung. Die Verwünschung dieser Dame auf eine einsame Insel in der Gesellschaft von giftigen Skorpionen und beinbehaarten Spinnen übrigens auch nicht.“

„Können wir Lektion zwei bitte überspringen?“, schlug ich kleinlaut vor.
„Wir können sie zurückstellen“, lenkte Lili großzügig ein und ich nickte.
„In Ordnung“, sprach sie weiter, „kommen wir zu Lektion drei: Wie ist es um deine Gesundheit bestellt? Treibst du regelmäßig Sport?“
Jesses.
„Nicht direkt“, antwortete ich nach einer kleinen Überlegungsphase.
„Was heißt nicht direkt?“
„Also – na ja – ich würde mal sagen – eher sporadisch.“
„Wie oft genau?“
Wie oft, wie oft. Meine Güte, sollte das ein Verhör werden? Lili klopfte bereits ungeduldig mit ihrem Feen-Stäbchen auf den Rand meiner Kaffeetasse. Dabei wusste sie doch längst, was ich wann gemacht hatte. Immerhin schien sie mich seit geraumer Zeit zu beobachten.

„Hör mal zu, du kleines Wesen. Ich bin keine Sportskanone. Und das weißt du ganz genau. Ich bin vor kurzem Fahrrad gefahren und habe mich dabei an die Grenzen des Erträglichen gestrampelt. Ach so, und dann war ich doch neulich zur Wassergymnastik. Mehr ist einfach nicht drin.“ Ich sprang auf und holte mir eine neue Kaffeetasse.
„Möchtest du auch?“, fragte ich sie, um abzulenken.
Lili schüttelte den Kopf. „Kaffee ist ungesund.“
„Unliebsame Unterhaltungen auch“, murmelte ich.

„Ich bin noch neu im Geschäft“, hörte ich Lili weiterplappern. „Du bist mein erster richtiger Fall.“
Aha. Das erklärte Vieles.
„Ok, Schätzchen“, ergriff ich das Wort, „du willst mich also offensichtlich bekehren.“
„Nein!“, rief Lili, „ich will dir helfen, ein besserer Mensch zu werden.“
„Das ist ja in etwa dasselbe.“
Lili sprang von der Kaffeetasse herunter, spazierte zwischen Brötchenkorb und Marmeladenglas auf und ab und blieb irgendwann stehen um mich stirnrunzelnd anzusehen. „Jetzt hör endlich auf, dich in den Arm zu zwicken, das macht mich nervös. Du träumst nicht. Es gibt mich wirklich!“ Sie richtete erneut ihr Zauberstäbchen auf mich, schien nachzudenken und sprach weiter: „Um noch einmal auf Neid und Missgunst zurückzukommen –“
„Vergiss es“, unterbrach ich sie, „es gibt Wichtigeres.“
„Zum Beispiel?“
„Astrids Handtasche.“

Irgendwie war sie ja niedlich. Wo mochte sie leben? Wo war sie, wenn sie nicht auf meinem Küchentisch herumwanderte? Wer mochte ihr morgens die blonden Löckchen durchkämmen? Gibt es eigentlich Feenmütter?

Lili war mittlerweile auf das Marmeladenglas geschwebt, hatte die Ärmchen verschränkt und zog eine Schnute. „Du bist gemein“, rief sie. „Du machst mir meinen ersten Auftrag kaputt.“
„Bitte was?“ rief ich entgeistert. „Ich habe dich nicht hergebeten. Wenn du wirklich jemanden bekehren willst, gibt es genug Leute, die echten Dreck am Stecken haben.“
„Zu denen darf ich erst im dritten Lehrjahr“, sagte sie. „Ich soll erstmal klein anfangen. Bei netten Menschen“, setzte sie seufzend hinzu.
Bei netten Menschen? Sie fand mich nett? Mich?
Auf wie viel Uhr hatte ich eigentlich meinen Wecker gestellt?

Ich streckte meine Hand aus.
„Komm einmal her“, sagte ich leise und Lili kam angestakst. Sie wirkte leicht zerknirscht und ihre transparenten Flügelchen bebten.
„Ich muss dir etwas sagen“, stammelte sie leise. „Ich glaube, ich habe alles verkehrt gemacht. Uns Feen kann man normalerweise nicht sehen. Wir sollen in Gedanken mit unseren Menschen reden. Wenn jemand einen Zugang zu Feen hat, spürt er es und lässt sich von ihnen auf den richtigen Weg leiten. Ok, ich hatte dich ausgesucht, weil ich dachte, dass du ein leichter Fall seist. Bist du aber nicht. Und ich habe von Anfang an alles vermasselt, weil ich aus Versehen sichtbar geworden bin. Wenn das rauskommt, kann ich einpacken.“
Ach herrje.
„Wir müssen es doch niemandem erzählen“, schlug ich vor, hob zum Schwur die Hand und strich anschließend zaghaft mit einem Finger über ihre goldenen Löckchen.
Lili hüpfte auf meine Handinnenfläche und strahlte mich an. „Dann haben wir beide also ein kleines Geheimnis!“, rief sie erleichtert, und ich nickte.
In Wahrheit hatte ich Lili doch längst ins Herz geschlossen und wünschte mir mit einem Mal, noch viele Stunden zu träumen.
Lili Wirbelwind kuschelte sich in meine Hand. Ich genoss es, die Wärme des kleinen Wesens zu spüren und fühlte mich auf wundersame Weise mit ihm verbunden. Beseelt schloss ich die Augen.

Das Geräusch der Haustüre lässt mich hochschrecken.
Mein Gatte kommt vom Joggen.
Ich schaue auf meine Hände.
Sie sind leer. Beide.
Mein Gatte betritt die Küche und starrt auf den Tisch.
„Oha, was ist denn hier passiert?“, fragt er grinsend.
Ich springe auf und starre ebenfalls.
Meine Handtasche steht da.
Und neben ihr liegt ein Berg unnützer Kleinkram.



© Gisela Reuter, 2011

Letzte Aktualisierung: 15.05.2011 - 20.08 Uhr
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