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Fee | Mai 2011

Kimberlyzed!
von Jochen Ruscheweyh

Vielleicht verknallte ich mich gerade deshalb in sie, weil die verdammten Midges sie nur umkreisten, jedoch nicht wagten zuzustechen. Ganz anders als bei mir, der ich bereits mit roten Pusteln übersät war, als wir fast 1200 km von meiner Heimatstadt entfernt ins Gespräch kamen. Neben ihren Sommersprossen gefiel mir die Tatsache, dass sie die obligatorischen Rheinarmee-Verwandten in den Napier-Barracks in Dortmund hatte – sie sprach es Doartmünd aus –, wir uns also wahrscheinlich wiedersehen würden. Vielleicht beeindruckte mich aber auch ihre kecke Art, aus einer Felsspalte im Galloway Forest Park hervorzutreten – sie habe dort etwas gesucht – und sich, obwohl wir uns zu diesem Zeitpunkt noch nie begegnet waren, neben mich auf die Bank zu setzen, mir Heft und Stift aus der Hand zu nehmen und nach einem prüfenden Blick auf die Seiten, die hauptsächlich aus Durchstreichungen bestanden, „Good stuff!“ zu formulieren. Trotzdem legte sie mir ans Herz, über Girls zu schreiben. Konkreter: über sie.
Ich war hin und weg.

Besagte kecke Kimberly Adams war nicht gerade die Art Erscheinung, die man als elfenartig bezeichnen konnte. Ihre Oberschenkel und Arme hätten genauso gut aus dem Rumpf eines Aberdeener Werftarbeiters wachsen können. Aber sie passten zu ihr. Und deswegen gefielen sie mir auf Anhieb genauso gut wie die restliche Kimberly.

Ihre kraftvollen Pedaltritte brachten sie - und mich auf ihrem Gepäckträger - auf rhododendrongesäumten Single-Track-Roads von Dumfries über Sterling gen Dufftown. Eine Aktion, die der Schotte gemeinhin als „quite a hilly ride“ bezeichnet, um zum Ausdruck zu bringen, dass Radfahren in den bergigen Teilen Schottlands, im besonderen in den Highlands, eh schon immer obsolete, also veraltet und überflüssig war.
Cattle Grids auf diesen Ein-Fahrzeug-breiten Straßen sorgen dafür, dass Highland-Rinder von bestimmten Stellen abgehalten werden.
Bei mir bewirkten sie das Gegenteil: Immer wenn wir über eines fuhren, wanderten meine Hände anstatt Halt zu suchen weiter in Richtung ihrer Brüste.

Irgendwann schöpfte ich Wasser aus dem River Spey und trank aus meinen wie zum Gebet gefalteten Händen. Es schmeckte furchtbar.
„Versuch´s once again hier!“, rief Kimberly und fuhr etwas weiter quellaufwärts, wo sich der Fluß in einem Delta teilte und in sanften Wellen krümmte, mit ihrer Hand durch die glitzernde Feuchtigkeit. Sie duftete nach Honig.

Ich befand mich gerade in einer Phase meines Lebens, in der ich mehr Spaß am Schreiben hatte als einer geregelten Arbeit nachzugehen. Und irgendwie sah ich in dieser Kunst, die sich für mich in einem alternativen Reiseführer für Schottland manifestieren sollte und der eigentliche Grund für meine Reise auf die Insel gewesen war, auch so etwas wie meinen persönlichen Streif am Horizont.
Kimberly fand Schreiben delightful, marvellous und magnificent. Ausdrucksstarke Formulierungen, die ich ihr gerne entgegengestöhnt hätte, als sie vor einem billigen Bed and Breakfast vom Rad ab- und in einer kleinen Kammer im zweiten Stock auf mich aufstieg; allein fehlte mir die Inspiration, und ich quälte mich durch Plattheiten wie „Wer bist du?“ und „Ich kann nicht glauben, dass das gerade passiert!“.

Irgendwann in der Nacht wachte ich auf, tastete nach dem Licht, berührte stattdessen die Zimmerwand, die mit einem feuchten moosartigen Teppich bewachsen schien, schleppte mich ins Bad und erbrach klare Flüssigkeit, die mit demselben grünen Schling-Tang durchzogen war wie der Fluss, von dem ich gekostet hatte.

Ich sah sie auf der Fensterbank sitzen, als ich aus dem Bad trat. Seltsam fühlte ich mich. Schwindelig, benommen; und ein bitterer Geschmack erfüllte meinen Mund.
Ihre kleine Harfe klemmte unter ihrem üppigen Oberarm. Mit einer beinahe perlenden Leichtigkeit entlockte Kimberly dem Instrument Töne, die eine Süße wie ein Stück Cadbury-Schokolade transportierten, während sie die wundervollste Version des Lord of the Galashields sang, die ich jemals gehört hatte. Ich trat neben sie und streichelte ihren Kopf, der mir auf einmal viel größer als zuvor schien.
„Du wolltest mir eine Story schreiben, you remember?“
„Kimberly, ich weiß nicht, was mit mir los ist, ich fühle mich irgendwie nicht gut.“
„Well, du hast es versprochen!“
„Ich weiß und ich werde mein Versprechen auch einlösen, gib´ mir noch etwas Zeit. Morgen oder übermorgen ...“
Sie legte ihre Harfe beiseite.
„Tomorrow could be too late.“
„Ach komm, Kim, ich hab´ noch nie ein Versprechen gebrochen. Ich schreib´ dir deine Geschichte. Aber nicht heute Nacht. Lass uns wieder ins Bett gehen und noch etwas schlafen.“
„Du solltest mich nicht machen wütend.“
„Herrgottnochmal, können wir das nicht morgen ...?“
„No!“
Wenn mir früher bei Aufsätzen kein Gedankenblitz kommen wollte, nahm ich zwei Glasmurmeln von meinem Schreibtisch und rieb sie aneinander. Meist fiel mir auch dann nichts ein, aber ich hatte zumindest das Gefühl, aktiv an meinem Schicksal mitgearbeitet zu haben. Psychologie.
Kimberlys Augen wirkten jetzt beinahe wie diese beiden Glasmurmeln: glänzend, aber kalt.
Ich jagte mich durch meine rechte Gehirnhälfte, suchte nach einem Ideenbringer, irgendetwas, das ich aneinanderreiben konnte, um meine - wie mein früherer Deutschlehrer zu fremdworten pflegte – fehlende Ingeniosität zu schärfen.
Sie hob kurz die Arme wie zu einem Flügelschlag. Der Druck trug mich aus dem geöffneten Fenster.

Kimberly sprach abwechselnd Lallans Scots und Gaelic mit den Krankenwagenfahrern. Aus irgendeinem Grund protestierte ich nicht, sondern bestätigte mit ein paar Nickern ihre Version, nach der ich zuviel getrunken hatte, Luft schnappen wollte, das Gleichgewicht verloren hätte und aus dem Fenster gestürzt wäre.
Der vermutlich Ältere der beiden Fahrer, ein Sean-Connery-Verschnitt mit schadhaftem Frontbiss, schüttelte den Kopf: „These stupid Germans! They can neither win a world war nor drink alcohol reasonably!“

Auf dem Weg ins Hospital kümmerte sich Kimberly mit einer Hingabe um mich, wie es noch nie ein Mensch zuvor getan hatte, tupfte mir die von den Schmerzmitteln geschwitzte Stirn trocken, hielt meine Hand und flüsterte mir ins Ohr, was sie mit mir anstellen wolle, wenn mein Bein wieder zusammengeheilt wäre; wie, wo und wie lange wir es treiben würden.
Mittlerweile war ich mir nicht mehr sicher, was überhaupt passiert war. Höchstwahrscheinlich hatte ich nach mehreren Jahren Ruhe wieder zu schlafwandeln begonnen und die Harfe spielende Kimberly am Fenster war nur ein Trugbild meines träumenden Unterbewusstseins gewesen. Ja, so musste es gewesen sein.
Sie legte ihre Hand auf meine Brust. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchströmte mich, als ich sie ansah. Kimberly liebte mich!

Am nächsten Nachmittag gab es Tee, Shortbread, gebutterten Toast und Orangenmarmelade. Ich machte es mir so gut es mit meinem geschienten Bein ging im Krankenhausbett bequem, während Kimberly mich fütterte.
Wir unterhielten uns gerade über Hochlandmoore und Torffeuer, als sie völlig aus dem Zusammenhang gerissen sagte: „Alle haben written me eine Geschichte, Walter Scott, Robert Burns, Louis Stevenson ...“
„Ach ja, deine Geschichte, sobald ich hier raus bin, fange ich an. Ich glaube, ich habe auch schon eine gute Idee.“
Kim blickte mich an. Etwas veränderte sich. Sie wirkte plötzlich so alt.
„Als Junge habe ich ein Paar Murmeln auf meinem Schreibtisch gehabt“, sagte ich, einem plötzlichen Impuls nachgebend. „Manchmal erinnern mich ...“
„Du gibst dir not enough Mühe“, unterbrach sie mich. „Nobody hat sich so long bitten lassen wie du“, gab sie zurück und warf mir mein leeres Heft entgegen.
„Kimberly, ich verspreche dir ...“
Eine Idee, wenigstens eine einzige. Ich griff nach einer Illustrierten. Nur textlose Bilder. Dann nach dem Herald und der Sunday Post auf meinem Nachttisch, aus denen sinnlose Wortketten herausfielen und auf dem gekachelten Hospitalboden zerbrachen.
Kimberly richtete sich auf. „I don´t think, das reicht mir.“
Fasziniert wie schockiert beobachtete ich, wie ihr Zeigefinger auf die doppelte Länge anwuchs. Dann tippte sie mit ihrer Fingerspitze gegen die Infusionsflasche, die bisher leidenschaftslos in Kochsalz gelöste Sedier-Präparate in mich hineintröpfeln lassen hatte.
Unter Kimberlys Berührung veränderte sich die Flasche zu einem 550ml Gebinde von Mac Sheppards Home Ammoniak. Ein leichtes Kribbeln ging voraus, ehe mich der Schmerz in die Matratze drückte.



Wir sitzen auf der Veranda. Die Kasernen der Rheinarmee sind hübschen kleinen Häuschen gewichen, von denen eines Kimberly und mir gehört. Nur ab und zu unterbricht eine Passagiermaschine im Landeanflug auf den Dortmunder Flughafen die Idylle.
Kimberly ist zum zweiten Mal so schrecklich schwanger, dass ihr Bauch aussieht, als stünde er kurz vor der Explosion. Manchmal weiß ich nicht, ob ich wirklich soviel Glück verdient habe.
Jetzt im Frühling, wo die Abende wärmer geworden sind, lege ich öfter ein Stück peat auf die Glut im Feuerkorb, wenn die Sonne hinter dem Fernsehturm untergeht. Kimberly gefällt es, wenn der herbe Duft des komprimierten Hochland-Torfs den Garten erfüllt.
Meine braungelockte Tochter Lizzy zupft an meinem Ärmel.
„Mir ist langweilig, Daddy!“
Ich lege mein Manuskript für meinen neuen Tourenführer Island zur Seite.
„Möchtest du etwas mit mir spielen, Schatz?“
Sie schüttelt den Kopf und zieht einen Flunsch.
„Nein, ich will, dass du mir eine Geschichte schreibst. Eine Geschichte über kleine Mädchen. Eine über mich.“
Mir fällt auf, dass mein Lachen anders klingt als sonst. Eine Spur ... verunsichert?
„Lizzy, Schatz, ich bin kein Kinderbuchautor, ich schreibe Reiseberichte.“
Lizzy stemmt die Hände in die Seiten, dann sieht sie zu ihrer Mutter hinüber, die gerade in einen Apfel beißt.
Kimberly zuckt mit den Schultern. „Well, Lizzy Darling, show Daddy, was ich dich beigebracht habe.“
Lizzy drehte sich zu mir herum und hebt ihre Arme wie zu einem Flügelschlag.

Letzte Aktualisierung: 26.05.2011 - 08.59 Uhr
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